Bauwerk

Semperit F & E
Najjar & Najjar - Wimpassing (A) - 2001

Die dekorierte Schuppenente

Das unternehmerische Selbstbild der High-Tech-Firma „Semperit Technische Produkte“ - von Najjar & Najjar umgesetzt in eine biomorphe Baufigur. Über Möglichkeiten und Grenzen der Superzeichen-Architektur.

15. Juni 2002 - Christian Kühn
Dem amerikanischen Architekten Robert Venturi verdankt die Architekturtheorie die Unterscheidung von Gebäuden in „Enten“ und „dekorierte Schuppen“. Bei letzteren sind bauliche Struktur und inhaltliche Aussage klar voneinander getrennt: Dem Schuppen ist ein Zeichen aufgesetzt, das auf die Bestimmung des Gebäudes verweist, sei es ein Zunftzeichen, ein klassischer Giebel oder eine monumentale Leuchtwand wie in Las Vegas. „Enten“ sind dagegen Gebäude, deren Form mit der Botschaft verschmolzen ist, etwa ein Würstelstand in Form einer Wurst oder - Venturis begriffsprägendes Beispiel - ein Geschäft für Lockenten in Form einer großen Ente. Venturi ging es nicht primär um diese offensichtlichen Skurrilitäten, sondern darum, die moderne Architektur generell als eine „Enten-Architektur“ zu entlarven.

Tatsächlich war es das erklärte Ziel des Modernismus, Form und Funktion so miteinander zu verschmelzen, daß die Form als Aussage über die Funktion jedes Gebäudes gelesen werden kann. Ihre Rechtfertigung suchte diese Art von Funktionalismus nicht zuletzt in der Natur: Louis Sullivan, jener amerikanische Architekt, von dem die Formel „Form follows function“ stammt, illustrierte seine Behauptung nicht etwa an Hand von Maschinen, sondern an Hand von Naturphänomenen wie dem Aufbau eines Vogelflügels. Die Idee der organischen Einheit von Form und Funktion ist zwar grundsätzlich inspirierend, führt in der Architektur jedoch rasch zu dem Problem, daß die Funktionen von Gebäuden in der Regel unklar definiert, von widersprüchlichen Interessen verschiedener Nutzergruppen abhängig und über längere Zeiträume betrachtet so gut wie nie stabil sind. Die funktionalistische Architektur ist daher dazu verurteilt, mit beachtlichem Aufwand eine nur scheinbare Einheit von Form und Funktion aufzubauen, eine „Als-ob-“, oder, in Venturis Worten, eine „Enten-Architektur“.

Die Postmoderne, zu deren Vätern Venturi zählt, bekannte sich zum „dekorierten Schuppen“ und damit zu einer erneuerten Auffassung von Architektur als Sprache: Die „Ente“ ist - semiotisch ausgedrückt - ein „ikonisches“ Zeichen, bei dem der Signifikant (die Form) bestimmte Merkmale mit dem Signifikat (dem Inhalt) gemeinsam haben muß. Der „dekorierte Schuppen“ ist dagegen als „symbolisches“ Zeichen abhängig von erlernten Bedeutungen und damit offen für jede Art von Sprachspiel, Bedeutungsverschiebung und Subversion - ein Potential, von dem die Postmoderne so ausgiebig Gebrauch machte, daß fast zwangsläufig eine Gegenbewegung einsetzen mußte, die im begrifflichen Umfeld von Bionik, Blobs und Biomorphismus Projekte und in jüngster Zeit auch vermehrt Gebautes hervorbringt. Nach den endlosen Sprachspielen von Postmoderne und Dekonstruktion scheint der biomorphe Blob endlich wieder natürliche Sicherheit in der architektonischen Formfindung zu versprechen.

Das Forschungs- und Entwicklungsgebäude, das Karim Najjar und Rames Najjar für die Firma Semperit Technische Produkte in Wimpassing, Niederösterreich, entworfen haben, ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Trend. Semperit Technische Produkte - nicht zu verwechseln mit der inzwischen eingestellten Reifenproduktion - ist ein höchst erfolgreiches High-Tech-Unternehmen, das sich mit dem Neubau der Forschungszentrale ein neues, diesem Image entsprechendes Gesicht geben wollte.

Im Jahr 1999 wurde ein Gutachterverfahren ausgeschrieben, aus dem das Projekt von Najjar & Najjar, eine röhrenförmige glänzende Struktur, die sich diagonal an die Grundstücksgrenze vorschiebt, als Sieger hervorging. Die Hülle aus Aluminium schwingt sich in einer Wellenbewegung zu einer beinahe monumentalen, schräg über zwei Geschoße angeschnittenen Öffnung zur Bundesstraße hin auf, hinter der ein Großraumbüro mit eingezogener Galerie liegt. Auf dem oberen Niveau - also innerhalb der Aluminiumhülle - sind weitere Büros angeordnet. Im fast durchgehend verglasten Erdgeschoß liegen Laborräume. Eine großzügige zentrale Halle mit Oberlicht verbindet die
Ebenen räumlich miteinander.

Das Gebäude ist eine geglückte Umsetzung eines unternehmerischen Selbstbilds: Die Perfektion der Oberfläche suggeriert entsprechend hohe Standards der Produktion, die geschwungene Linienführung verweist auf die Kernkompetenz des Unternehmens Semperit, die Verformung von Kautschuk und Kunststoffen, die Raumschiffmetapher auf die globale wirtschaftliche Ausrichtung. Es verwundert also nicht, daß der Vorstand sich im Wettbewerb für dieses Projekt begeisterte. Daß er diese Begeisterung bis zuletzt durchgehalten und dem jungen Architektenteam genug Vertrauen auch in der Umsetzungs-phase entgegengebracht hat, ist dagegen besonders hervorzuheben.

Die Auszeichnung des Gebäudes mit dem diesjährigen „Aluminium Architektur Preis“ ist nicht zuletzt eine Anerkennung für die Konsequenz, mit der hier ein bestimmtes, im ersten Entwurf vorgestelltes Bild zur Realisierung gebracht wurde.

Bis auf den Wegfall eines Semperit-Logos, das im ersten Entwurf die große Frontöffnung wie einen Kühlergrill geteilt hätte, scheint das ausgeführte Projekt vom Entwurfsmodell kaum abzuweichen.

Daß Najjar & Najjar aber mehr wollten, als nur ein eingängiges Bild zu schaffen, zeigt ein Blick auf ihre früheren Arbeiten wie etwa die kinematische Skulptur BUG, die sie 1998 beim „steirischen herbst“ vorführten: eine beweglich gelagerte Metallrüstung mit Flügeln aus Aluminium, in deren Innerem der Umriß einer menschlichen Figur zu erkennen war.

Im gesteigerten Pathos dieser Inszenierung manifestierte sich eine Vision von Architektur als „Natur aus Stahl“, die im Semperit-Gebäude genauso angelegt ist. Aber im großen Maßstab stößt der Versuch, eine solche künstliche Natur zu schaffen, offensichtlich an seine Grenzen. Organische Einheit zwischen Form und Funktion würde ein Gebäude voraussetzen, das wirklich dynamisch ist und nicht nur so aussieht. Das Ziel der biomorphen Architektur, authentischer zu sein als der „dekorierte Schuppen“, verkehrt sich so in sein Gegenteil: Ihre Produkte werden zu aufwendigen Superzeichen, die zwar als solche höchst erfolgreich sein können, aber dabei ihre eigentliche Intention aufgeben müssen.

Blob-Architektur wird so lange Als-ob-Architektur bleiben, bis neue Materialien und Herstellungsverfahren existieren, die eine wirklich dynamische Architektur zulassen. Als Versuch in diese Richtung hat das Semperit Forschungszentrum jedenfalls Anerkennung verdient.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Semperit Technische Produkte m.b.H.

Tragwerksplanung

Fotografie