Veranstaltung

Toskana: Architektur der Moderne
Ausstellung
23. Juni 2003 bis 3. Oktober 2003
Ausstellungszentrum im Ringturm
Schottenring
A-1010 Wien


Veranstalter:in: Vienna Insurance Group

Die Toscanità-Fraktion

DER BAUKASTEN. Anmerkungen zur Architektur.

Diesmal: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht nach Italien. Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ zeigt, warum das ein Fehler ist.

24. September 2003 - Jan Tabor
Das neue Utopia der Sozialdemokratie heißt Toskana. Jene modernen sozialdemokratischen Politiker aus Österreich und Deutschland, die ihre Urlaubstage in der Toskana zu verbringen pflegen und dies für die zeitgemäße Form des Internationalismus halten, werden Toskana-Fraktion genannt. Hübsch.

Dort, in sanft hügeliger Landschaft und bekömmlichem Klima, sind sie Liebhaber toskanischer Küche und Kenner toskanischer Weine geworden. Da sie über diese ihre neuen Leiden- und Kennerschaften gern öffentlich plaudern, sind wir über den dortigen Lifestyle, die Toskanità, vortrefflich unterrichtet.

Über die moderne Architektur in der Toskana wissen wir fast nichts. Diejenigen Reisenden, die in Florenz mit der Eisenbahn ankommen, werden sich möglicherweise an den eleganten Bahnhof Santa Maria Novella erinnern. Das hellbraune, niedrige, mauerartig geschlossene und aerodynamisch abgerundete Gebäude schließt unmittelbar an die Altstadt an, steht gleich hinter der dunkelbraunen gotischen Apsis der Chiesa Santa Maria Novella mit dem berühmten Trinitätsfresko von Massacio. Wer mit dem Auto nach Florenz fährt, dem ist vielleicht die pittoresk geformte Chiesa dell'autostrada del sole aufgefallen. Die aus großen, grob behauenen Steinen gemauerte Kirche befindet sich bei Campi Bisenzio gleich neben der Autobahn.

Doch für Florenz und die Toskana gilt, was für Italien überhaupt gilt: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht hin. Es zahlt sich nicht aus. Aber Achtung! In der Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ im Wiener Ringturm wird man eines Besseren belehrt. In Fiesole bei Florenz befindet sich die reich dotierte Fondazione Michelucci, die an einer Dokumentation der toskanischen Architektur des 20. Jahrhunderts arbeitet. Von den 350 bisher erfassten und auf Farbfotos exzellent abgebildeten Bauwerken hat Ezio Godoli einen Teil ausgewählt, chronologisch geordnet und mit langen, aber lehrreichen Erklärungstexten zum Thema versehen.

Wenn man in einem der Texte den Begriff Gruppo Toscano erblickt, so könnte man meinen, es handle sich um eine kämpferische Untergruppe der Toskana-Fraktion. Mitnichten. Gruppo Toscano waren jene jungen Architekten, die Giovanni Michelucci 1931 um sich geschart hatte, um gemeinsam in der konservativen und selbstverliebten Toskana jene neue italienische Architektur durchzusetzen, die Rationalismo genannt wurde.

Rationalismo war eine faschistische, spezifisch italienische Abart des westeuropäischen Funktionalismus, beziehungsweise des sowjetischen Konstruktivismus - international verbreitete Richtungen, die als links galten. Daher wurden sie Internationaler Stil genannt bzw. beschimpft. Das spezifisch Italienische wurde als Italinità bezeichnet. Wiewohl konkret kaum fassbar, war es als Leitbild und Maßstab für ganz Italien gültig. Das passte der Gruppe um Michelucci nicht. Sie strebte Toskanità an.

Gruppo Toscano war ein programmatischer Name. Eine Architektur-Schule. Wie die Wagnerschule in Österreich-Ungarn. Oder die Grazer Schule in der Steiermark. Die Protagonisten der Gruppo Toscano wollten Architektur durchsetzen, die nicht nur radikal neu, sondern auch der Tradition verpflichtet war. Derartige Vorhaben, das lehrt die allgemeine Architekturgeschichte, waren zahlreich und kurzlebig, die Resultate fragwürdig.

Auch in der Toskana war das nicht anders, wie man in der Ausstellung sieht. Heutzutage nennt man es Regionalismus. Michelucci, der - falls überhaupt - kein glühender Faschist war, ging es ausschließlich um die toskanische Tradition. Er nannte sie Toskanità und meinte damit nicht nur Bau-, sondern auch Lebensformen. Toskana als Weltanschauung. Seine Toskanità war mehr als eine regionale Abart der Italianità, die vor allem ein politisches Programm darstellte. Sie war deren Gegensatz.

Unter dem Namen Gruppo Toscano gewann Michelucci zusammen mit Baroni, Berardi, Camberini, Guarnieri und Lusanna 1933 den Wettbewerb für den Bau eines neuen Hauptbahnhofs in Florenz. Der nominierte Entwurf wurde zum Anlass, den meist latent geführten Machtkampf zwischen den beiden Hauptfraktionen der italienischen faschistischen Architektur, den Modernisten und den Klassizisten, öffentlich auszutragen. Nachdem die Auseinandersetzung in eine ausweglose Pattsituation geraten war, rief man den Duce als oberste Geschmacksinstanz des faschistischen Staates zu Hilfe. Der intellektuell veranlagte Diktator entschied für die Gruppo Toscano. In einer Rekordbauzeit von nur zwei Jahren war der Bahnhof samt den ungemein komplizierten bahntechnischen Anlagen fertig gestellt.

Seine außerordentliche Bedeutung erlangte der Bau aber nicht wegen des historischen Stadtbildes und auch nicht wegen der Eitelkeiten der Avantgarde. Was für Hitler die Autobahnen und für Stalin die Schifffahrtskanäle, das waren für Mussolini die Eisenbahnen. Die schnell und pünktlich zwischen den modernen Bahnhöfen fahrenden Züge stellten das sichtbare und für die Italiener ummittelbar fassliche Sinnbild des erfolgreichen Faschismus dar. Mehr hatte er ohnehin nicht zu bieten.

Die Direttissima, die neue, direkte Verbindung zwischen Bologna und Florenz durch die neuen Tunnel des Apennins, verkürzte die Fahrtzeit von mehr als vier auf nur zwei Stunden. Sie benötigte einen entsprechenden, auf die Zukunftsbezogenheit des Faschismus hinweisenden architektonischen Ausdruck. Diese kulturpolitischen Aspekte sind längst vergessen. Heutzutage gilt der Bahnhof von Florenz als ein seltenes Beispiel für die restlos gelungene Synthese der alten und neuen Architektur. Darüber hinaus zählt er zu den bedeutendsten Bauten der Weltarchitektur im 20. Jahrhundert. Vielleicht deswegen kann man sein Foto in der Ausstellung so schwer finden.

Obwohl die Ausstellung eine Hommage an Michelucci ist. Giovanni Michelucci (1891-1990) hat lange gelebt - nur zwei Tage fehlten ihm, um am 2. Jänner 1990 seinen hundertsten Geburtstag feiern zu können - und baute bis ins hohe Alter. Die Toskana konnte auf seine einzigartige anregende Begabung nicht verzichten: Die Ponte alle Grazie (1957, mit Edoardo Detti), die Neugestaltung der Uffizien (1970, mit Carlo Scarpa und Ignazio Gardella), die Chiesa dell´autostrada del sole (1973-83) und viele andere Bauten bezeugen dies.

Dem aufmerksamen Ausstellungsbesucher fällt auf: So wie zuvor das Liberty, der italienische Jugendstil, hatte später auch der Rationalismo in der Toskana keine nennenswerten Auswirkungen gehabt. Die wahre Toskanità, auch Schule von Toskana genannt, waren Michelucci und einige seiner Schüler und Jünger, vor allem Edoardo Detti (1913-1984), Leonardo Ricci (1918-1994) und Leonardo Savioli (1917-1982). Diese Schule ist erst in den Fünfzigerjahren entstanden. Den besonders aufmerksamen Besuchern fallen die Ähnlichkeiten mit der frühen Grazer Schule und deren Vorlieben für pittoresk expressionistische Formen auf.

Also Achtung: Die Ausstellung regt nicht nur zu einer neuen Reise in die Toskana an, sondern auch zum Nachdenken über die Grazer Schule, die Architektur-Schulen insgesamt, die Regionalismen, den Internationalismus der Regionalismen, die Sozialdemokraten, die Globalisierung ...

Toskana: Architektur der Moderne: bis 3.10. im Ausstellungszentrum im Ringturm (1., Schottenring).

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