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tec21 2006|6
Stadtreparatur
tec21 2006|6, Foto: Christian Schwager
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Die Stadt weiterbauen – ein Vergleich

Bauen im Bestand ist die Aufgabe der Gegenwart. Doch was ist nachhaltiger: Ersetzen oder Weiterbauen? Die in diesem Heft vorgestellten Projekte versuchten aus dem Bestand heraus neue Werte zu schaffen. Halten sie, was man sich anfangs von ihnen versprach?

2. Februar 2006 - Martin Albers, Res Keller
Die Erneuerungsprojekte in Genf, Oberes Murifeld in Bern und Dreieck in Zürich gingen alle von Zweifeln an der gängigen Ersatzbaupraxis aus. Entstehen Qualität und kultureller Reichtum der Stadtgestalt nicht wesentlich durch die Kontinuität von Alt und Neu, also durch Weiterbau? Vergeben wir nicht für die Stabilität des Quartiers wichtiges soziales Kapital, wenn wir mit der Bausubstanz auch die Bevölkerung austauschen? Wäre es nicht ökologisch sinnvoller, den Bestand nachhaltig zu optimieren, statt das gesamte Material auszutauschen? Führt es letztlich nicht zu wirtschaftlich günstigeren Lösungen, wenn der Bestand verbessert und erweitert statt neu gebaut wird?

Die Revitalisierungen sollten zusammen mit der Bevölkerung und im architektonischen Dialog mit der vorhandenen Struktur den Bestand ökologisch aufbessern und so günstigen Wohnraum erhalten. Doch taten sie das in je verschiedener Gewichtung. Sie liefern dadurch vielfältige Anregungen, aber keine Rezepte, die auf andere Situationen übertragbar wären. Es zeichnet erhaltende Erneuerungen gerade aus, dass sie aus dem lokalen baulichen und sozialen Kontext einzigartige Lösungen entwickeln.

Architektur: kontinuierlich oder kontrapunktisch

Beim Bauen im Bestand besteht die Gefahr, dass «der Zufall mit leidigem Besen die Häuser zusammenkehrt»1, wenn es nicht gelingt, mit einem gestalterischen Gesamtkonzept auf den Bestand zu reagieren und aus der Polarität von Neu und Alt eine bereichernde Di-mension zu entwickeln. Die komplexeste Leistung er-bringt hier der Wettbewerbsentwurf für den Ilot13.

Sein Konzept geht raffiniert mit dem Blockrandprinzip um: Der Rand des Blocks wird betont – doch gezielt an einer sinnvollen Stelle durchbrochen. Der Rand wird hoch und hart inszeniert und die Blockeinbauten niedrig und hölzern – doch ist es gerade eine fast monumentale Reihe von Holzstützen, die den Blick aus dem Innersten des Blocks hinaus überraschend ins Grün des gegenüberliegenden Parks leitet. Gerade der scheinbar weiche Holzbau durchschiesst den steinernen Rand, sodass dieser sich aufzubäumen scheint zu einem Turm. Erst die Blocköffnung an dieser Stelle gibt der Rückversetzung der alten Postkutschenstation von der Strasse einen Sinn: Das alte Gebäude wird zum Torhaus am Blockeingang aufgewertet. Hier wird Alt und Neu nicht nur verwoben, sondern sogar eine Versöhnung geschaffen zwischen dem Blockrand und einer noch älteren Parzellierung.

Im viel kleineren Dreieck war ein Ausbrechen aus dem Hofrandkonzept nicht sinnvoll. Dafür wurde hier der Hof mit seinen Einbauten neu zu einer Raumcollage gefasst, die aus der Not der räumlichen Enge die Tugend eines dichten Raumkontinuums schafft. Mehrere kleine, durch enge Durchlässe verbundene Hofräume lösen sich wie wechselnde Bühnenbilder ab. Die Neubauten verlängern dieses Raumgefüge durch ihre Erschliessung über offene Treppen und Laubengänge bis in die Häuser hinauf. Die neuen Wohnungen sind mit grossen Fenstern auf den Hof bezogen und bieten dank unkonventionellen Grundrissen dennoch Rückzugsraum und Einsichtschutz.

Im Murifeld ging es hauptsächlich um die Erhaltung des Bestandes. Einzige städtebauliche Neuerung ist die Lückenschliessung an der Murifeldstrasse. Die aber steht geometrisch wie sozialräumlich im Brennpunkt und gibt der bis dahin geometrischen, aber ungerichteten Anlage einen deutlichen Schwerpunkt.

Einen interessanten Ansatz bietet das Murifeld mit seinem Konzept, die Häuser, die ursprünglich einander glichen wie ein Ei dem anderen, unterschiedlich zu behandeln. So entstanden verschiedene Standards und Identitäten und eine gewisse soziale Durchmischung. Hervorzuheben ist, dass diese Diversifikation nicht künstlich aufgesetzt wurde, sondern aus dem Entscheidungsprozess mit vielen Mietparteien und mehreren Architekturbüros gewissermassen von selbst entstand.

Der Einbezug des Bestands in das entwerferische Konzept gab allen drei Quartieren einen aussergewöhnlich starken Charakter. Das fördert ihre Fähigkeit, Heimat zu sein. Und ist es nicht gerade das, was Wohngebiete beliebt macht?

Bewohnerpotenzial eingebunden

Dass es in allen drei Beispielen gelungen ist, das Eigeninteresse der Bewohnenden in Engagement für ihr Quartier umzumünzen, sieht man als Besucher auf den ersten Blick. Der gemeinschaftliche Aussenraum wird intensiver benutzt als üblich. Es herrscht eine entspannte soziale Kontrolle, Fremde werden oft gegrüsst oder gar neugierig angesprochen. Die Wohngebiete locken nicht nur weitere Bewohner an, sondern strahlen auch Stabilität in ihr Umfeld aus. Zeichen dafür sind die beiden Neubauten, die im Ilot13 neu gegründete Genossenschaften auf einstigen Gewerbegrundstücken errichtet haben, oder das Haus Ankerstrasse 11, das die Genossenschaft Dreieck auf der anderen Strassenseite später noch kaufen und ins Quartierleben reintegrieren konnte.

Angetreten waren alle drei Projekte indes mit dem Ziel, die Bewohner nicht zu vertreiben. Ist das gelungen? Dazu muss man die Fluktuation am Quartierdurchschnitt messen. Da zeigt sich, dass im Dreieck die Mieterbewegungen seit Beginn des Umbaus erheblich geringer sind als in der Umgebung. Im Murifeld ist die Konstanz der Bewohnerschaft ebenfalls hoch. Schwieriger zu beurteilen ist die Situation im Ilot13, weil dort nur in einigen Häusern das Ziel verfolgt wurde, die Bewohnerschaft zu halten. Solange der Status der Hausbewohnerschaft nicht legalisiert war, herrschte in den besetzten Bauten grosse Fluktuation; diejenigen Leute aber, die an der Übernahme des Baurechtsvertrags und an der Renovation beteiligt waren, wohnen überwiegend heute noch da.

Die Integration der ausländischen Mieter war den Initianten im Dreieck ein besonderes Anliegen. Gastarbeiterfamilien sind häufig weniger an Wohnqualität inte-ressiert als daran, Geld für das Leben in der Heimat zu verdienen. Sie suchen schnell eine billigere Wohnung, wenn die Miete steigt oder gar Anteilscheine gezeichnet werden müssen. Die Genossenschaft Dreieck trug dem Rechnung, indem sie sehr kleine Kapitalanteile verlangte. Sie konnte so einen wesentlichen Teil der Ausländerinnen und Ausländer halten – und manchen im Rahmen von Selbstverwaltung, Bauhütte und Kantine sogar Arbeit geben.

Graue Energie genutzt

Neue Bauten sind besser gedämmt und effizienter geheizt als alte. Ist die Ökobilanz eines Neubaus aber in jedem Fall besser? Lohnt es sich dafür, die im Bestand eingebaute graue Energie zu vernichten, mit Hunderten Lastwagenfahrten Altmaterial weg- und neues Ma-terial heranzutransportieren? Klar ist, dass auch Altbauten ökologisch optimiert werden können. Das muss sich nicht auf Regenwasserversickerung oder bessere Dämmung beschränken, sondern kann auch High-Tech-Lösungen umfassen wie die zentrale Heizung des Dreiecks durch eine Grundwasser-Wärmepumpe. Im Gegensatz dazu wurde in einigen Wohnungen im Murifeld die Holzofenheizung beibehalten und damit gezielt ein Low-Tech-Weg beschritten, der nicht weniger effizient sein muss.

In allen drei Beispielen führte das Prinzip, nicht zu reparierende Teile möglichst auszuwechseln, ohne das übergeordnete System zu stören, zu innovativen Detaillösungen und tiefen Kosten.

Doch wirtschaftlicher als Neubau?

Dass alle drei Projekte einen wesentlichen Teil der Bewohnerschaft am Ort halten konnten, zeigt, dass die Mieten erschwinglich geblieben sind. Immerhin sind sie erheblich gestiegen – von extrem niedrig auf güns-tig. Im Murifeld stieg die Miete bei einer ohne Wertsteigerung renovierten 2-Zimmer-Wohnung von 311 auf 351 Franken. Wegen der wertsteigernden Massnahmen liegt die Durchschnittsmiete heute indes bei etwa 640 Franken. Im Dreieck haben sich die Mieten im Schnitt etwa verdoppelt; eine 4-Zimmer-Wohnung mit neuem Minibad kostet statt 800 heute 1600 Franken. Dass sanfte Erneuerung durchaus wirtschaftlich sein kann, bestätigte die Vergleichsstudie der Firma Wüest&Gabathuler zum Dreieck.

Im Dreieck und im Murifeld wurde bei der Berechnung der Mieten bzw. des Baurechtszinses der Wert des Landes mit null eingesetzt, weil der Erwerb so weit zurücklag, dass die Kosten als amortisiert gelten konnten. Die Städte Bern und Zürich verzichteten damit darauf, den Marktwert des Bodens zu realisieren. Dafür handelten sie sich den Sozialwert einer Bevölkerung ein, die sich mit ihrem Ort in der Stadt identifiziert, ihn pflegt und eigene Probleme lösen kann – ein Gewinn, der sich in sozialer Stabilität und in der Einsparung von Ausgaben für Sicherheit, soziale Unterstützung und Integration niederschlägt. In Analogie zur Klimapolitik formuliert: Projekte dieser Art internalisieren eine ganze Anzahl von externen Kosten.

Wann lohnt sich der Aufwand?

Mit dem baulichen Bestand zu arbeiten ist sinnvoll, wo er zur Identität einer Adresse beiträgt oder Qualitäten für das Alltagsleben hergibt, die nicht so einfach wieder herzustellen sind. Dabei muss es sich nicht einmal um denkmalpflegerische Besonderheiten handeln. Es genügt die vielfältige Nutzbarkeit des Wohnumfeldes, die kleinteilig gewachsene Quartiere oft aufweisen. Je mehr solche Qualitäten vorhanden sind, desto grösser ist die Chance, langfristig Attraktivität, Identifizierung, Stabilität und damit auch Marktwert zu schaffen.

Mit einer Bewohnerschaft zu arbeiten ist sinnvoll, wenn zumindest eine aktive Minderheit bereit ist, sich für ihr Quartier zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen und Entscheide zu fällen. Das lohnt sich vor allem, wenn Quartiere eine schwierige Umbruchphase vor sich haben, in der Bevölkerung und Investoren ein gemeinsames Interesse daran haben, die Qualität der Adresse zu wahren oder zu entwickeln, und wenn intakte soziale Netze vorhanden sind. Diese stellen ein Kapital dar, mit dessen Hilfe zum Tragen kommen kann, was der Stadtsoziologe Luzius Burckhardt erkannte: Beim Neubauen macht man Fehler. Beim Umbauen korrigiert man Fehler.
Anmerkung
1 J.W. Goethe: Maximen und Reflexionen, Nachlass, Über Kunst und Kunstgeschichte

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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