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TEC21 2007|14
Implantate
TEC21 2007|14
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Urbanes Implantat

In der Agglomeration des Zürcher Glattals entsteht ein Stück Innenstadt. Dieses Implantat ist das Projekt «IntegraSquare» von agps.architecture am Bahnhof Wallisellen. Im Gegensatz zu den grossflächig monofunktionalen Gebieten der Umgebung vereint es verschiedenste Zeitschichten, Nutzungen und Bautypologien auf einer Parzelle. Das Vorgehen zeigt eine neue und viel versprechende Strategie im Umgang mit der «Zwischenstadt».

2. April 2007 - Hansjörg Gadient
Die zwei wichtigsten Bedingungen für die Entstehung von Urbanität sind eine hohe bauliche Dichte und eine stark gemischte Nutzungsstruktur. Idealerweise kommen eine städtische Verfeinerung oder die Eleganz der Bauten dazu; das suggeriert unter anderem die Herkunft des Wortes.
Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde «urban» im deutschen Sprachraum ausschliesslich in der Bedeutung von «gebildet, weltgewandt oder elegant» benutzt. Erst dann kam – vermutlich unter dem Einfluss von engl. «urban» und franz. «urbain» – die Bedeutung von «städtisch» dazu. Von grosser Bedeutung für unser Empfinden einer Situation als «urban» ist zudem die Qualität ihrer Aussenräume. Aber erst, wenn ein Stadtteil auch ein gewisses Alter und entsprechende Patina angesetzt hat, gestehen wir ihm nicht nur «Urbanität» zu, sondern schätzen ihn als Aufenthaltsort.
Das Glattal, die zwischen den Städten Zürich und Winterthur und dem Flughafen Kloten gelegene Agglomeration, ist zum grössten Teil im letzten Jahrhundert, mehrheitlich nach 1950, bebaut worden. Entsprechend beispielhaft folgt die Baustruktur den Maximen einer modernistischen Stadtplanung und der sturen Monofunktonalität der Zonenordnung. Entstanden ist ein Teppich von unvermittelt aneinander grenzenden grossflächigen Geländen unterschiedlicher, aber in sich homogener Nutzungen. Dass diese grossen monofunktionalen Areale keinen städtischen Reiz haben, hat das Gebiet des Glattals nicht zu Unrecht zum Inbegriff der pejorativ aufgefassten «Agglo» gemacht.

Glattalstadt

Das Glattal ist das verkehrstechnisch am besten erschlossene Gebiet der Schweiz, in dem die Nähe zu Zürich und dem Flughafen, grosse verfügbare Bauflächen und ideale Verkehrsanbindungen zu einem unvergleichlichen Bauboom geführt haben. Es wurde gebaut, was gerade gebraucht wurde: Industrieanlagen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, Autobahnen und Gewerbegebiete in den 1970er-Jahren und hochwertige Bürobauten in den 1990ern. Identität stiftend wirkten dabei bis heute die historischen Ortskerne und die Namen der ehemaligen Dörfer – und nicht die für das Gebiet geschaffenen Kunstnamen wie etwa «Glattalstadt». Was sich aber zu ändern beginnt, ist die Auffassung des Gebietes als Stadt. Die Gemeinden des Glattals haben gemerkt, dass sie gut daran tun, endlich eine höhere Qualität der städtebaulichen Entwicklung anzustreben.

IntegraSquare

Ein gutes Beispiel für diese erfreuliche Entwicklung ist das rund 4 ha grosse Gelände der «In­tegra» auf der Südseite des kleinen Bahnhofs von Wallisellen. Hier wirbt das Investorenplakat ganz schlicht: «IntegraSquare, Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Ausgehen». Das erstaunt, weil das Gelände zwar unmittelbar an den Geleisen, aber auf der «falschen» Seite des Bahnhofs liegt. Wohnen, Einkaufen und Ausgehen konzentrierten sich bisher auf dessen Nordseite; die Südseite war gewerblichen Nutzungen vorbehalten.
Schon im 19. Jahrhundert diente der Standort der Produktion von Eisenbahnzubehör. Die ältesten erhaltenen Bauten stammen aus der Zeit zwischen 1890 und 1920. Später kamen mit den Um- und Neubauten immer neue Schichten dazu.
«In diese Tradition stellt sich das Projekt von agps.architecture und führt sie weiter», so Manuel Scholl von agps.architecture. Die grosse Fertigungshalle – ein Raumtypus, der heute nicht mehr gebaut wird – im Zentrum des Areals wird als Zeitzeuge erhalten und mittelfristig weiterhin mit einer nicht störenden industriellen Nutzung belegt. Später soll der Flachbau mit seinem tradi­tionellen Sheddach zum Beispiel als Markthalle dienen. Auch die alte Schmiede wird erhalten und von Mitgliedern der Zürcher Zunft zur Schmiden hobbymässig weiter genutzt. Für einen kurzfristig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Investor wären diese Bauten hinderliche sentimentale Relikte. Die in Privatbesitz befindliche Integra dagegen hat sie als Besonderheit des Ortes und damit als Identität stiftende Elemente für das Ensemble erkannt. Langfristig werden sie mit ihrer historischen Patina massgeblich zum städtischen Charakter des kleinen Quartiers beitragen (Bild 2).
Das Gleiche gilt auch für den alten Baumbestand, der durch die Planung geschont wird. Die ur­alten Linden und Buchen mit ihrem Unterholz aus alten Buchsbäumen werden in das landschaftsarchitektonische Projekt von Daniel Ganz eingebunden und mit neuen Bäumen und einzelnen Pflanzflächen ergänzt. So entsteht mitten im ehemaligen Industriegelände ein Kern von historischen Bauten, parkartigem altem Baumbestand und Relikten aus der industriellen Geschichte des Ortes. Kein Neubauprojekt könnte eine ähnlich reizvolle Atmosphäre schaffen.

Masterplan

Noch vor wenigen Jahren waren für das gleiche Gebiet Konzepte erarbeitet worden, die auf einen totalen Abriss und Neubau zielten. Eines davon wollte zum Beispiel drei Hochhaustürme als Zeichen des Aufbruchs errichten. Man erkannte glücklicherweise, dass solche Ansätze obsolet sind und sich aus spektakulären baulichen Zeichen noch keine städtischen Qualitäten ergeben. Die Strategie von agps.architecture ist unspektakulär. Es ist nicht die Neuerfindung der Stadt, sondern das unaufgeregte Weiterbauen, Umformen und Entwickeln ihres Körpers.
In den teilweise erhaltenen Baubestand wird eine hoch verdichtete Mischung von Arbeiten, Wohnen, Einkaufen und Freizeitaktivitäten integriert. Dabei wird jeder ältere Bau auf seine Nützlichkeit und Attraktivität hin betrachtet und entsprechend behandelt. Das Vorgehen ist zwar aufwändig, aber lohnend – Plentern (s. Kasten S. 22) statt Kahlschlag.
Die Basis für den ersten Neubau und die ersten im kommenden Jahr fertig werdenden Wohnungen ist der Masterplan, den agps.architecture aufgrund einer Studie aus dem Jahr 2003 erstellt haben. Daraus entstand der Gestaltungsplan, der die erforderliche Rechtsgrundlage für die erwünschte Nutzungsmischung lieferte. Zwei hohe Zeilen entlang der Geleise und der gegenüber liegenden Industriestrasse rahmen das Areal und schirmen sein Inneres ab. Hier prägen zwei unterschiedlich geformte Aussenräume den Charakter. Zum einen ist dies die in Ost-West-Richtung verlaufende Achse von Hammerweg, Gasse und Platz, zum anderen der parkartige Aussenraum mit seinem alten Baumbestand. Zwischen diesen Aussenräumen liegen zwei neue Wohnbauten, die den Innenbereich nach Westen hin abschliessen und zusammen mit dem Neubau am Hammerweg einen städtischen Strassenraum bilden. Richtung Osten liegen die alte Markthalle und die alte Schmitte (Bild 1). Den Abschluss auf der Ostseite soll nach Aufgeben der industriellen Nutzung ein Platz bilden, der von einem Hochhaus dominiert wird.

Der erste Büro- und Gewerbebau

Der Neubau ist ein Anbau. Wie eine Illustration des Grundgedankens «Weiterbauen» führt er die Reihe älterer Bauten entlang der Geleise fort. Er schliesst sie als markanter zeitgemässer Baukörper ab, dessen Zeichenhaftigkeit auf der dem Dorfkern zugewandten Seite den Aufbruch signalisiert. Südlich bildet der Neubau eine klare Begrenzung des Strassenraumes für die künftige Hauptachse des Stadtteils (Bilder 3–5).
Wie kann so ein Büro- und Gewerbeneubau die künftige Urbanität des Ortes beeinflussen? Er muss günstige Mieten bieten, ein nutzungsneutrales Raumangebot und in einer städtisch eleganten Hülle verpackt sein, um eine breite Mischung potenzieller Mieter anzuziehen.
Die günstigen Mieten wurden durch tiefe Baukosten, einfache Technik und an vielen Stellen roh belassene Materialien erreicht. Das Raumangebot ist vielfältig und nutzungsneutral. Im Erdgeschoss liegen über fünf Meter hohe Räume, die sich unterschiedlich aufteilen und falls erforderlich auch zweigeschossig nutzen lassen. Vom eleganten Restaurant bis zur Lastwagengarage ist vieles möglich. Natürlich würde das Restaurant mehr zur Belebung des Quartiers beitragen. Deshalb ist auch die Fassade mit den quer gestellten Lamellen zum Aussenraum hin offen gestaltet. In Längsrichtung schliessen sich die Lamellen zur massiven Wand, die den Glaskörper mit seinem Sonnenschutzkleid trägt. Hinter diesen Glasfassaden liegen neutrale Geschosse mit einer lichten Höhe von 3.2 m, die sich in verschieden grosse Abschnitte teilen lassen. An den Stellen, wo Bauteile erkerartig aus der Fassade ragen und raumhohe Verglasungen für eine Unterbrechung des Fassadenrhythmus sorgen, sind auch Räume mit höheren Repräsentationsansprüchen möglich. Im Inneren ist der Baukörper mittels dreier Höfe gegliedert, um die kleinere Räume angeordnet sind. Insgesamt entsteht eine breite Palette unterschiedlicher Raumangebote für verschiedenste Nutzungen.

Die ersten Wohnungsbauten

Erst die Durchmischung mit Wohnungen kann ein Quartier wirklich beleben. Der Entscheid, im Gestaltungsplan auch Wohnungen vorzusehen, war daher für die künftigen städtischen Qualitäten entscheidend. Die Wohnungen, die Ende nächsten Jahres fertig gestellt sein sollen, entsprechen diesem Profil (Bilder 8–11). Sie werden günstig sein. Eine 4.5-Zi-Wohnung wird unter 2000 Franken kosten. Das liegt für Wallisellen zwar über dem durchschnittlichen Preis, aber für Zürich unter dem Mittel. Die besonderen Reize werden durch überhohe und zum Teil zweigeschossige Wohnräume, grosse Nasszellen und attraktive Aussenräume geboten.
Was sicher auch sehr zum städtischen Charakter beitragen wird, ist die Mischung mit Läden und Dienstleistungsräumen im selben Haus. Sie entspricht eigentlich der hoch geschätzten Mischung in innerstädtischen Bereichen des Historismus, wo im Erdgeschoss die Läden, darüber ein Geschoss Büros und die Wohnungen liegen.
Die Stadt der Moderne hat – mindestens formal – spätestens seit den ausgehenden 1960er-Jahren mit dem Untergang des CIAM und dem Erscheinen der Postmoderne ausgedient. Was aber die unstädtische Entmischung der Nutzungen angeht, ist die 1933 geschriebene Charte d’Athène in ihren Auswirkungen noch immer gegenwärtig, denn auf ihr basiert die Systematik der schweizerischen Bau- und Zonenordnungen, die nach wie vor zwischen Arbeiten und
Wohnen trennen.
Die Zeit für neue Zonen ist längst gekommen, denn die Agglomerationen verwandeln sich zusehends von Abstellflächen für Gewerbe und Industrie zu Lebensräumen. Nutzungsmischung und Verdichtung sowie die Schaffung von lebenswerten Freiräumen müssen dieser Tendenz Rechnung tragen. Das Beispiel in Wallisellen zeigt, wie dies geschehen kann.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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