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TEC21 2007|33-34
Letzigrund
TEC21 2007|33-34
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Viel Transparenz

20. August 2007 - Benjamin Muschg
Noch ist im neuen Letzigrund kein Weltrekord und kein Tor gefallen, aber die Meinungen sind längst gemacht. Zwischen Anerkennung und Begeisterung liegt etwa das Spektrum der Reaktionen von Architektinnen und Ingenieuren auf das elegante, subtil in die Umgebung eingepasste Zürcher Stadion, das schon vor der Fertigstellung mit dem Stahlbaupreis Prix Acier ausgezeichnet wurde.
In der Bevölkerung der angrenzenden Quartiere Altstetten, Sihlfeld und Hard herrscht überwiegend Vorfreude auf einen neuen öffentlichen Treffpunkt. Und die Leichtathletinnen und Leichtathleten, die den Letzigrund mit dem Meeting «Weltklasse Zürich» am
7. September einweihen, geraten im Angesicht der neuen Sportanlage ins Schwärmen. «Das Stadion ist schlicht ein Hammer», fand etwa der deutsche Stabhochspringer Tim
Lobinger kürzlich bei einem Rundgang auf der Baustelle.
Weniger euphorisch wird die Architektur der Arbeitsgemeinschaft der Zürcher Architekturbüros Bétrix & Consolascio und Frei & Ehrensperger dagegen in Fussballerkreisen beurteilt. Für den FCZ und die Grasshoppers ist der neue Letzigrund kein Grund, nicht weiterhin auf einen baldigen Umzug in ein neues Fussballstadion auf dem Hardturmareal zu hoffen. Mit ihren zehn VIP-Logen verdienen die beiden Klubs je rund 1 Million Franken jährlich – im geplanten Fussballstadion hätten sie dreimal so viele Logen. Die Fussballfans ereifern sich in den Internetforen seit Monaten über das «Anti-Fussballstadion». Die wichtigsten Kritikpunkte: Die Entfernung zum Spielfeld sei zu gross, wegen der offenen Architektur könne keine Stimmung aufkommen, dafür seien die Zuschauer Wind und Wetter ausgesetzt, ausserdem hätten die roten Klappsitze die falsche Farbe (Baslerrot statt Zürcherblau).

Ohne Mantelnutzung
Wäre der neue Letzigrund nämlich noch nicht bezugsbereit, dann würden im Sommer 2008 in Zürich keine Partien der UEFA-Europameisterschaft stattfinden, deren Gastgeberin die Schweiz gemeinsam mit Österreich sein wird. Wenn diese Fussballspiele nicht in Zürich ausgetragen würden, so behaupteten wenigstens Stimmen der Zürcher Politik und Medien in den letzten Jahren, dann würde die Stadt einen gravierenden Imageverlust ­erleiden. Im schwierigen Planungsprozess mit zeitweise unklarem Ausgang wurde beispielsweise erst nach zwei mehrstufigen Planungsverfahren deutlich, dass die Vision eines «Superstadions» für Fussball und Leichtathletik mit Mantelnutzungen auf dem Hardturm städtebaulich und wirtschaftlich nicht zu realisieren ist. Schliesslich war der Entscheid des Stadtrats im Herbst 2004, das bereits vorliegende Siegerprojekt des Wettbewerbs für ein neues Leichathletikstadion auf dem Letzigrund ein Jahr schneller als ­geplant und Fussball-EM-tauglich zu realisieren, ein Befreiungsschlag, der zu einem ­positiven Ende führte.

Für die Öffentlichkeit
Weil die Stadt bei der Ausschreibung des Wettbewerbs für den Letzigrund davon ausging, dass das Hardturmstadion zuerst realisiert werde, mussten die Teilnehmer eine Infrastruktur entwerfen, die mit dem internationalen Leichtathletikmeeting und einer Handvoll anderer grösserer Events pro Jahr stark unternutzt wäre. Folgerichtig ist das Projekt ­«Corculum impressum» (eingegrabene Muschel) der Architektengemeinschaft Bétrix & Consolascio und Frei & Ehrensperger auch ein Stadion, das nicht in erster Linie für Spitzensportler, sondern vor allem für die Quartierbewohner nutzbar ist. Der Kontrast des neuen Letzigrunds zum Projekt für das Fussballstadion von Meili, Peter Architekten könnte kaum grösser sein: Während die Fussballarena dereinst als kolossale Skulptur auf einem viergeschossigen Sockel mit Mantelnutzungen thronen soll, fliesst die Stadt förmlich durch den neuen Letzigrund hindurch.
Das Stadion öffnet sich ganz seiner Umgebung. Im Osten kann es von der Herdernstrasse aus ebenerdig vollständig eingesehen und betreten werden. Die Tribüne führt dort vom Strassenniveau aus 8 m in den abgesenkten Innenraum hinunter. An den Querseiten steigt sie sanft an, bis hinauf zur 10 m höheren Westtribüne. Erschlossen wird der Publikumsraum über eine auf Stützen liegende, umlaufende Rampe, die gleichzeitig die darunter liegende Pausenzone überdacht. Über dem Stadion schwebt der Dachring, der für seine imposante Grösse hauchdünn wirkt. Dazwischen fällt der Blick auf den bewaldeten Üetliberg, die Backsteinfassaden des Schlachthofs und die braunroten Betonplatten an den Hardau-Hochhäusern. Auch im Innenraum dominieren erdige Töne; die Robinienholzlatten an der Dachunterseite, der angerostete Stahl der «tanzenden» Stützen, die in drei leicht unterschiedlichen Rottönen flimmernden Klappsitze, die Tartanbahn, die Rasenfläche. Die farblichen Übergänge sind fliessend.
Der Letzigrund ist im Wesentlichen eine Grube im Erdreich mit überdachten Wällen für die Zuschauer. Als Gebäude erscheint nur die Westtribüne, in der sämtliche sekundären Nutzungen des Stadionbetriebs untergebracht sind. Zürichs neue Sportstätte ist wie das Urstadion im antiken Olympia mehr Landschaftsgestaltung als Architektur und steht damit auch in der modernen Tradition der Olympiastadien von Berlin und München – oder Eduardo Souto de Mouras Stadion in Braga, das auf einer Schmalseite in den Fels gebaut ist und sich auf der anderen zur Landschaft öffnet.

Stadionpark statt Hexenkessel
Offen soll der Letzigrund nicht nur für das Auge sein. Das Konzept der Architekten sieht vor, dass das ganze Stadion einschliesslich der Tribünen frei zugänglich sein soll, wenn keine Veranstaltungen stattfinden. Die Erschliessungsrampe wird dann zur Flaniermeile, die Stadiongastronomie am höchsten Punkt der Westtribüne zum Aussichtsrestaurant, die Fankurve zur Schmuseecke – das ganze Stadion zum Freizeitpark. Die Architektur des Letzigrunds ist auf einen solchen Alltagsbetrieb ausgelegt. Ohne zusätzliches Personal und finanziellen Mehraufwand wird sich die schöne Vision vom Stadion als Quartiertreff aber nicht umsetzen lassen. Wenn die Idee des Stadionparks aber an diesen Kosten scheitert, ist auch der Letzigrund wie so viele Sportanlagen zwischen Abpfiff und Anpfiff nur eine grosse Brache.
Die grosse Chance des neuen Letzigrunds liegt neben seinen ästhetischen Qualitäten darin, dass er ein Gegenmodell zum Typ des hermetisch abgeschlossenen «Hexenkessels» ist und sich damit von den ikonenhaften Fussballtempeln, wie sie etwa Herzog & de Meuron in Basel und München gebaut haben, nicht nur durch seine Leichtathletikbahn unterscheidet. Er steht im Gegensatz zu den meisten jüngeren Stadionneubauten eben nicht auf der sprichwörtlichen grünen Wiese, sondern mitten in einem Wohnquartier – und damit quer zum Trend. Aus Investorensicht muss ein Stadion heute vor allem über einen Autobahnanschluss und ausreichend Parkplätze verfügen, umso besser, wenn es auch noch ein ansprechendes Äusseres hat. Wenn es aber ein städtisches Stadion gibt, das heute noch funktionieren kann, dann müsste es der neue Letzigrund sein.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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