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TEC21 2007|36
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TEC21 2007|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Lernen von Berlin

Das Landgericht Berlin hat in einem Aufsehen erregenden Urteil eine Klage der Architekten Meinrad von Gerkan und Jürgen Hillmer gutgeheissen. Diese hatten sich gegen die Entstellung des von ihnen entworfenen Lehrter Bahnhofs in Berlin gewehrt. Das Gericht hat mit seinem Entscheid ein starkes Zeichen für den Schutz gestalterisch wertvoller Bauwerke vor Entstellung gesetzt.

3. September 2007 - Isabelle Vogt
Die Architekten Meinhard von Gerkan sowie Jürgen Hillmer entwarfen und planten für die Deutsche Bahn AG den «Neuen Lehrter Hauptbahnhof Berlin». In umittelbarer Nähe des Berliner Regierungsviertels gelegen, entstand bis 2006 ein gigantisches Bauwerk, das zum grössten Bahnhof Europas für Fern-, Regional- und Nahverkehr werden sollte. Beim Projekt handelt es sich um einen Kreuzungsbahnhof, dessen oberirdische Gleise mit West-/Ostverlauf in 15 m Tiefe von einem achtgleisigen Nord-Süd-Trassee gekreuzt werden. ­Eingebettet sind die unterirdischen Gleise in einer 450 m langen, rund 12 m hohen Bahnhofshalle.

Aus akustischen Gründen und zur Verkleidung der Versorgungsleitungen wurde die Halle mit einer abgehängten Decke ausgestattet. Dafür hatten die Architekten eine Kreuzgewölbedecke mit Gewölbetischen bestehend aus je vier Gewölbesegeln ge­plant. Die Deutsche Bahn AG liess statt dessen ohne Wissen der Architekten Flachdecken einbauen. Dagegen reichten die Architekten Klage beim Landgericht Berlin ein. Sie verlangten, dass die Flachdecke entfernt wird. Zwar hatten die Architekten, wie bei solchen Grossprojekten verbreitet, der Bauherrin im Planervertrag u.a. das ausschliessliche, unwiderrufliche, unbeschränkte Recht eingeräumt, alle Pläne, Entwürfe ganz oder teilweise zu nutzen und ohne ihre Mitwirkung zu ändern. Sie stellten sich jedoch auf den Standpunkt, dass die ­vorliegende Änderung unzulässig sei, weil mit dem Einbau der Flachdecke das von ihnen geplante Bahnhofsgebäude entstellt worden sei; damit sei ihr Persönlichkeitsrecht als ­Urheber verletzt worden. Das Landgericht Berlin hiess im November 2006 die Klage der ­Architekten vollumfänglich gut und verpflichtete die Deutsche Bahn AG, die Flachdecke zu entfernen. Dieser Entscheid, der für die Bauherrin Kostenfolgen von über 44.5 Mio. Euro bedeutet, hat in Deutschland hohe Wellen geschlagen. Zwischenzeitlich liegt die schriftliche Begründung des Urteils vor – Grund genug, sie sich auch hierzulande genauer anzusehen.

Begründung des Urteils

Das Landgericht geht in seinem Entscheid nach genauer Analyse des Bahnhofsgebäudes und der geplanten Gewölbedecke davon aus, dass es sich dabei um individuelle schöpferische Leistungen und deshalb um urheberrechtlich geschützte Werke im Sinn des deutschen Urheberrechtsgesetzes handelt; das vorliegende Bauwerk sei ein Unikat, das bereits mit dem Anspruch in Auftrag gegeben worden sei, ein in jeder Hinsicht herausragendes, für die Hauptstadt repräsentatives Kunstwerk zu entwerfen, einem Anspruch, dem die Architekten gerecht geworden seien.

Als urheberrechtlich geschütztes Werk untersteht der Bahnhof mit seiner Gewölbedecke dem deutschen Urheberrechtsgesetzes (UrhG). In seiner Rechtsprechung geht der deutsche Bundesgerichtshof davon aus, dass ein Urheber «grundsätzlich ein Recht darauf [hat], dass das von ihm geschaffene Werk, in dem seine individuelle Schöpferkraft ihren Ausdruck gefunden hat, der Mit- und Nachwelt in seiner unveränderten individuellen Gestaltung zugänglich gemacht wird» (BGH GRUR 1999, S. 230 f). Dieser Anspruch gelte allerdings nicht absolut; nicht jede Abweichung von einem Entwurf stelle eine Verletzung des Urheberrechts dar. Der Anspruch des Architekten auf Realisierung eines Bauwerkes nach seinen Vorstellungen setzt gemäss den deutschen Richtern vielmehr zunächst voraus, dass der Bauherr, der die finanziellen Folgen eines Bauprojektes trägt, den Entwurf genehmigt hat. Dies könne ausdrücklich geschehen oder dadurch, dass er mit der Umsetzung des Projektes beginnt. Im vorliegenden Fall sah das Gericht diesen Umstand als erwiesen an; die Bauherrin hatte den Rohbau mit den entsprechenden Vorrichtungen zur Aufnahme der abgehängten Gewölbedecke errichten lassen und damit eine Entscheidung zugunsten der Gewölbedecke getroffen.

Grenzen des Änderungsrechts

Zwar hatte sich die Bauherrin vertraglich ein Änderungsrecht gesichert. Von einer Änderungsbefugnis dürfe ein Bauherr – so das Landgericht Berlin – gemäss Treu und Glauben aber nicht uneingeschränkt, sondern nur zur Wahrung eigener berechtigter Interessen Gebrauch machen. Dazu zählten das Interesse an der Einhaltung der Baukostensumme, wobei nur eine «nachhaltige Überschreitung der prognostizierten Baukosten» eine Änderung rechtfertige. Dies sei vorliegend nicht nachgewiesen. Eine Grenze finde das Änderungsrecht zudem im Verbot der Entstellung eines Werkes, einem Ausfluss des Urheberpersönlichkeitsrechtes. Eine Entstellung liege bei einem besonders schwerwiegenden Eingriff in die geistige Substanz des Bauwerkes vor, der den Gesamteindruck des Werkes verändere und damit die Reputation der Architekten als vermeintliche Schöpfer des Werkes nachhaltig beeinträchtige. Eine solche Entstellung sahen die Richter durch die Wirkung und die Grösse des Eingriffs sowie angesichts der (internationalen) Bedeutung des Baus und seines hohen gestalterischen Anspruchs als gegeben an.

Schliesslich verlangen die deutschen Richter, dass die Vorteile, die den Architekten durch die Entfernung der Flachdecke erwachsen, in einem zumutbaren Verhältnis zu den der Bauherrin erwachsenen Nachteilen stehen. Da die Entfernung der Decken als technisch machbar erklärt wurde, erachtete das Gericht dies trotz des enor­men Kostenaufwandes als zumutbar angesichts der «Bedeutung des Bahnhofs als künstlerisches Unikat und unter Berücksichtigung des Ranges, den ihm die öffentliche Wahrnehmung zubilligt».
Das Landgericht Berlin hat mit dem vorliegenden Urteil dem Urheberpersönlichkeitsrecht und dem sich daraus ergebenden Schutz gegen Entstellung eines Werkes grosses Gewicht verliehen. Und es hat nachdrücklich erklärt, dass der Persönlichkeit des Urhebers wie auch der gestalterischen Integrität von Bauwerken als Kulturgut gegenüber rein wirtschaftlichen Interessen ein hoher Wert beigemessen wird. Dieses Verdikt dürfte in Zukunft in Deutschland dazu führen, dass Architekten als Gestalter ernster genommen und dass für Änderungen an Bauwerken während und nach deren Realisierung vermehrt die Entwurfsarchitekten beigezogen werden.

Ein Vergleich mit der Schweiz

Auch in der Schweiz existiert eine gesetzliche Grundlage, auf die sich der Urheber eines Werkes berufen kann, wenn er sich gegen die Entstellung seines Werkes wehren will. In Art. 11 Abs. 2 des Schweizerischen Urheberrechtsgesetzes (URG) heisst es: «Selbst wenn eine Drittperson vertraglich oder gesetzlich befugt ist, das Werk zu ändern (...), kann sich der Urheber oder die Urheberin jeder Entstellung des Werkes widersetzen, die ihn oder sie in der Persönlichkeit verletzt.» Zu diesem Zweck kann er u.a., wie in Deutschland, die Beseitigung des bestehenden, verletzenden Eingriffs verlangen (Art. 62 Abs. 1 lit. b URG). Die Rechtsgrundlagen sind in diesem Punkt in Deutschland und der Schweiz vergleichbar. Dennoch ist ein Entscheid, wie er in Deutschland ergangen ist, derzeit in der Schweiz kaum denkbar; regelmässig werden hierzulande die wirtschaftlichen Interessen und das Selbstbestimmungsrecht der Grundeigentümer höher gewertet als das Interesse an Werkintegrität und am Schutz des Urheberpersönlichkeitsrechtes. Dies dürfte im vorliegenden Fall, da die finanziellen Folgen für die Bauherrschaft ganz beträchtlich sind, in besonderem Mass zutreffen. Damit offenbart sich auf der Grundlage einer vergleichbaren rechtlichen Grundlage eine grundsätzlich unterschiedliche Haltung gegenüber Architektur und Umweltgestaltung. Eine Haltung, die auf Schweizer Seite angesichts der Konsequenzen für den Bestand hochwertiger Architektur als Teil unseres Kulturgutes überdacht werden sollte. (Isabelle Vogt, Rechtsanwältin)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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