Zeitschrift

TEC21 2007|39
Bahnarchitektur
TEC21 2007|39
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Der Rochen von Lüttich

Zur neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und der deutschen Grenze gehören zahlreiche Kunstbauten und der neue TGV-Bahnhof in der belgischen Stadt Lüttich. Eine monumentale, aber filigrane Konstruktion aus Glas und Stahl von Santiago Calatrava wird ab 2008 die Gleise überspannen.

Heute nutzen täglich 35 000 Menschen die Infrastruktur des Bahnhofs Liège-Guillemins. Künftig werden 50 000 Personen erwartet. Gemäss einer Machbarkeitsstudie von 1995 genügt der bestehende Bahnhof den Anforderungen an die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht. Durch einen international ausgeschriebenen Wettbewerb suchte die Euro Liège TGV SA eine Idee für ein modernes, multifunktionales Reisezentrum als Nahtstelle zwischen Bahn und Passagier. Lange, gerade Bahnsteige, die das Einfahren der Züge in den Bahnhof und das Ein- und Aussteigen für die Passagiere erleichtern, sollten die hohen Anforderungen an die Geschwindigkeit, die Erreichbarkeit, den Passagierkomfort und die Sicherheit erfüllen. Den Wettbewerb für den Entwurf des neuen TGV-Bahnhofs in Lüttich gewann 1997 das Architektur- und Ingenieurbüro von Santiago Calatrava. In Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Greisch aus Belgien baut es gegenwärtig den neuen Bahnhof.

Fussgänger auf drei Ebenen

Aus der Stadt kommend, betreten die Reisenden einen weitläufigen Vorplatz. An dessen Ende überspannt ein riesiger Bogen die Bahnhofsfront und bildet den grosszügigen Eingangsbereich. Der Bahnhof kann von beiden Seiten betreten werden, sodass die zerschneidende Wirkung der Gleise aufgehoben wird. Auf der gesamten Breite gelangen die Reisenden ebenerdig in den Bahnhof und erblicken auf der linken Seite das Reisezentrum und die Fahrkartenschalter. Rechts hingegen bietet sich Infrastruktur zum Verweilen an: eine Bar, ein Restaurant sowie Läden und Warteräume. Auf dem Niveau über dem Reisezentrum liegen die Gleise und Bahnsteige. Von den 13 Bahnsteigen des alten Bahnhofes bleiben neun erhalten. Dazu kommen fünf neue, 8 m breite und grosszügig ausgestaltete Plattformen. Drei davon, 450 m lang, werden zukünftig eine Doppeleinheit des TGV aufnehmen können. Auf der dritten Ebene erlauben zwei Passerellen das Queren zwischen den Perrons und den ebenerdigen Austritt in das höher gelegene Quartier hinter dem Bahnhof. Alle drei Ebenen sind durch Treppen, Rolltreppen und Glasaufzüge verbunden, sodass sich die Passagiere mühelos im ganzen Bahnhof bewegen können. Das erste Gleis kann gar direkt vom Vorplatz aus erreicht werden.

Kräftefluss im Skelett

Über den Gleisen und den Bahnsteigen wölbt sich in Längsrichtung ein Dach, das den neuen Bahnhof prägt. Die monumentale, aber doch filigrane Konstruktion aus Glas und weissem Stahl überdeckt die Gleise und die gesamte neue Infrastruktur der Anlage. Sie lebt von ihrem organischen Erscheinungsbild und hat keine Fassade im klassischen Sinn. Das statische System scheint komplex, ist im Grunde aber einfach. Die insgesamt 39 Bogen aus Stahl sind im Abstand von 1.92 m parallel angeordnet. Am Rand sind sie während der Bauphase mit Verbänden gegeneinander ausgesteift. Als hohle Blechträger kons­truiert, haben die Stahlbogen über ihre Länge einen variablen Querschnitt und eine statische Höhe von bis zu 1.20 m. Mit einem Auflagerabstand von mehr als 157 m und einer Scheitelhöhe von 35 m über Terrain weist das Bauwerk eine beeindruckende Grösse auf. Dementsprechend gross sind die Lasten, die diese Tragstruktur aufnimmt und ableitet. Doch nicht die Belastung bestimmte die Dimensionierung der Tragkonstruktion, sondern die nötige Begrenzung der Verformungen, die durch die Glasverkleidung des Daches gegeben sind. Das komplexe Verhalten, vor allem infolge der Windeinwirkungen, konnte mit einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Programm analysiert werden. Die sich aus den Berechnungen ergebenden Beanspruchungen und Verformungen wurden schliesslich in Windkanalversuchen verifiziert. Die Bogenenden sind auf Stahlträgern am Rand der Passerellen gelagert. Von dort aus fliessen die Kräfte in je fünf Auflager. Diese sind als Vierfüsser und gänzlich aus Stahl konstruiert. Allseitig unverschiebbar, aber in Bogenachse gelenkig, geben die Auflager die Reaktionen in die Betonfundamente ab. Mit dieser Auflagersituation kann die Steifigkeit des Daches in Längsrichtung erreicht werden. In Querrichtung wird die Aussteifung durch die geneigten Bogen der zwei Vordächer sichergestellt. Vier Stahlbogen, die diese Seitendächer stützen, sind wiederum in einem weissen, dreibeinigen Betonsockel verankert. Beide auskragenden Seitendächer (Casquettes genannt) sind mit dem gesamten zentralen Hauptdach verbunden und lassen das Bahnhofsgebäude wie einen Rochen aussehen, der sich mit seinen zwei Flügeln (Vordächer) und fünf Schwänzen (Bahnsteige) an den Hügelhang schmiegt.

Verknüpfung mit dem Strassennetz

Das Vordach auf der Rückseite überspannt das dreistöckige Parkhaus am Fusse des Hügels von Cointe. Es wird durch eine Brücke und eine Überführung direkt an die Autobahn angeschlossen. Diese Zufahrt wird nach der Fertigstellung des Bahnhofs eröffnet. Für das Parkhaus musste der Hügel auf einer Länge von rund 200 m abgetragen werden. Dafür wurden präzise Voruntersuchungen gemacht, denn die Stabilität einiger Erdschichten in diesem Bereich ist prekär. 1950 lösten hier die Erschütterungen des Zugverkehrs einen Hangrutsch aus. Fachspezialisten aus der Geologie und der Vermessungstechnik entschieden sich, die Baugrube mit einer Pfahlwand zu sichern. Dazu wurden armierte Betonpfähle mit einem Durchmesser von 1.50 m verwendet. Jeder einzelne Pfahl wurde rückverankert. Die Anker wurden etappenweise alle 3 m gesetzt, bis die Baugrube eine Gesamttiefe von 18 m erreichte. Um den Wasserdruck hinter der Pfahlwand abzusenken, legten die Planer Pumpensümpfe im Fussbereich der Pfahlwand an. Nach dem Errichten des Parkhauses verlieren die temporären Anker ihre Funktion. Sie werden im Erdreich belassen und bauen allmählich ihre Zugkraft ab. Die neue Tragstruktur des Parkhauses übernimmt sukzessiv den anfallenden horizontalen Erd- und, nach dem Abstellen der Pumpen, auch den Wasserdruck.

Organische Struktur aus Weissem Sichtbeton

Das grosszügige Dach aus Stahl und Glas prägt den Bahnhof. Doch darüber hinaus werden im Gebäude auch 65 000 m³ armierter Beton verarbeitet. Für das Parking werden 28 000 m³ verwendet, für die zentrale Passage und Technikkorridore unter den Gleisen 17 000 m³, für die Haupthalle noch einmal 13 000 m³ und schliesslich 13 000 m³ für zwei Retentionsbecken, die das Wasser der 33 000 m² grossen Dachfläche aufnehmen. Alle massiven Bauteile, die für die Passanten sichtbar sind (etwa 23% der gesamten Betonmenge), werden aus weissem Sichtbeton erstellt. Das Planerteam stellte dafür hohe Anforderungen und verlangte strenge Qualitätskontrollen. Spezialisten bestimmten die Eigenschaften der Schalung, den Wassergehalt, die Zusätze und die Vibrationsdauer bei der Verarbeitung des Betons. Mit mehr als hundert Betonproben auf der Baustelle kontrollierten sie alle Anforderungen.
Zahlreiche Oberflächen der Betonbauteile sind gekrümmt und präsentieren sich als organische Formen. Gebogene Träger und geschwungene Stützen, die an Knochen eines Skelettes erinnern, tragen in den Innenräumen die Kräfte ab. Wenn der Reisende im Bauch des Rochen zu den Gleisen eilt oder durch die Ladenzone schlendert, wird er aber von der Struktur nicht erdrückt. Im Gegenteil, was tatsächlich schwer und statisch ist, erscheint leicht und dynamisch.

Bestehender Bahnhof

Die letzten Arbeiten am neuen Bahnhof werden voraussichtlich bis Anfang 2009 ausgeführt. Sie beinhalten die Verglasung des Daches, die gesamte Haustechnik, die Beleuchtung und die Bahninfrastruktur (Signaletik), die Ausbauarbeiten (Läden, Schalterhallen, Büros) sowie die Umgebungsgestaltung. Bis dahin darf der Zugverkehr, wie schon während der gesamten Bauzeit, nicht unterbrochen werden. Dies erforderte verschiedene Bauphasen und die Aufrechterhaltung des Betriebs des benachbarten alten Bahnhofs. Bis vor wenigen Wochen hielt der alte Bahnhof mit der Hälfte seiner früheren Kapazität den Bahnbetrieb aufrecht, nun ist er abgebrochen. An seiner Stelle wird der Rochen mit fünf Schwänzen diese Funktion übernehmen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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