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hochparterre 10|2007
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 10|2007
zur Zeitschrift: hochparterre

Genf erwacht

Von der Deutschschweiz kaum beachtet, entsteht in Genf ein neues Stück Stadt, grösser als Zürich West. Genf hat zwei Ziele: seine Stellung als die internationale Stadt der Schweiz ausbauen und sein Wohnungsdefizit mildern. Der Masterplan ‹Praille-Acacias-Vernet› ist in Kraft.

2. Oktober 2007 - Benedikt Loderer
Bis vor Kurzem war Genf blockiert. Der strenge Mieterschutz machte die Investoren kopfscheu, gebaut wurde wenig. Genauer, der Wohnungsbau fand vor allem jenseits der Grenze, in Frankreich, statt. Mit den entsprechenden Verlusten an Steuerkraft und den dazugehörenden Pendlerströmen, die überwiegend mit dem Auto bewältigt werden. Die Genfer Kantonsregierung hat diesem Zustand abgeschworen. Sie gelobte sie im Serment de St- Pierre: «Man muss jene, die durch ihre Arbeit oder ihre Investitionen unseren Reichtum schaffen, für Genf erhalten. Im Wohnungsbau will die Regierung jene Projekte fördern, die rasch realisierbar sind.» Im Vordergrund steht das riesige Gebiet ‹Praille-Acacias-Vernet›.

Den Anstoss gab der BSA

Im Südwesten der Stadt liegt dieses Industrie- und Gewerbeareal, 230 Hektaren gross, was rund 2,15 Millionen Quadratmeter Bruttogeschossfläche zulässt. Über die Fondation pour les Terrains Industriels de Genève (FTI) und aus direktem Eigentum verfügt der Kanton über rund 85 Prozent der Arealfläche. Das städtebauliche Muster ist von der Eisenbahn geprägt, die mit einem grossen Bogen die Lagerhäuser bedient. Die drei Gemeinden Carouge, Lancy und Genf teilen sich das Gebiet. Das Gelände ist im Umbruch. In jüngster Zeit sind im Süden das neue Stadion ‹La Praille› und ein Einkaufszentrum entstanden, im Zent-rum ist die Überbauung ‹Sovalp› im Entstehen und die Bank Pictet hat hier ihren neuen Verwaltungsbau errichtet (HP 9/07). Die Kaserne von Les Vernets sucht eine neue Nutzung, die neue Bahnlinie Cornavain, Eaux-Vives-Anne-masse (Ceva) wird mit zwei Stationen das Gebiet zusätzlich erschliessen. Ihre Finanzierung aus dem Agglomerationsfonds des Bundes ist schon zugesichert.

Die Ortsgruppe Genf des BSA war zuerst. Sie organisierte 2005 einen Wettbewerb, der die richtigen Fragen stellte. Es war ein Geschenk an die Stadt Genf. Der Kantonsregierung gingen die Augen auf. Sie reagierte mit einer Diagnose. Zusammen mit den Vertretern der Landeigentümer und der Wirtschaft, unterstützt von Experten, entstand eine Strategie zur Umnutzung des Areals. Im Juli 2006 startete eine Parallelprojektierung mit acht Planerteams. Gefordert waren: Verdichtung, Identitätsbil-dung, Grünräume, kurz, Städtebau durch Umnutzung. Ernst Niklaus Fausch aus Zürich schwangen obenaus.

Der nächste Schritt war ein Masterplan. Die Zürcher Planer zeigten ihren Genfer Kollegen Neu-Oerlikon und Zürich West, Planungen, die die Kollegen aus der Romandie beeindruckten. Diese wunderten sich über die intensive Zusammenarbeit der Verkehrsleute, Stadtplaner, Naturschützer, Politiker, Grundeigentümer und Wirtschaftsvertreter. In Genf entstanden in Anlehnung an die Zürcher Konsenspla-nung drei Workshops mit bis zu 50 Teilnehmern. Die Anliegen der drei Gemeinden waren klar: mehr Wohnungen. Schon im Mai 2007 wurde der Masterplan vom Regierungsrat genehmigt. Man spürt, der Kantonsregierung ist es ernst, es pressiert. Der Druck kommt von aussen, in Genf herrscht Büro- und Wohnungsnot. Die Investoren stehen Schlange, Goldgräberstimmung ist ausgebrochen.

Neun Hochhäuser

Auf dem Gelände befinden sich heute bereits rund 20 000 Arbeitsplätze und 3000 Wohnungen. Ernst Niklaus Fausch gehen vom Bestand aus, mit deutschschweizer Pragmatismus bauen sie weiter, nicht Visionen, wie sie ihre Kollegen aus der Romandie vorschlugen. Das Siedlungsmuster ergänzen sie, sie pflügen nichts um. Der Masterplan ist in vier Abschnitte unterteilt: ‹Acacias / Vernets› im Norden, ‹Carouge› in der Mitte und ‹Praille› im Süden. Bei der S-Bahn--station Lancy Pont Rouge entsteht der ‹Pôle économique d’exellence›, das Geschäftszentrum, genannt Place de l’Etoile, mit neun Hochhäusern, von denen das höchste 175 Meter werden soll. Dieser Höhenrekord ist das Ein-zige, was bisher in der Deutschschweiz zur Kenntnis genommen wurde. Aber hier entsteht mehr: das Zentrum eines neuen Stadtteils. Hier will das internationale Genf wachsen und sich darstellen. Der bereits vorhandene hohe Anteil an Gewerbenutzungen hingegen ist regional ausge-richtet. Die Wohnungen, die vor allem an den Rändern liegen und sich mit den bestehenden Quartieren verzahnen, sollen den lokalen Wohnungsmarkt entlasten. Die Ausnützungsziffer übers Ganze ist hoch: 2,5. Darum sind in den Hochhäusern auch Wohnungen vorgesehen.

Der Masterplan muss flexibel sein. Die Nutzungsfestlegung ist recht vage umschrieben: ‹Activités› für Gewerbe, ‹Equipement public› für Sport- und Schulbauten, ‹Mixte (dominante logement)›, wo man Wohnungen bauen will, und ‹Mixte (dominante activités)›, wo Büros entstehen sollen. Die Erdgeschosse gehören den öffentlichen Nutzungen und dem Gewerbe. 40 000 Arbeitsplätze und 9000 Wohnun-gen sollen hier entstehen. Besondere Sorgfalt schenkten die Planer den öffentlichen Räumen, ob grün oder städtisch. Den Gleisen entlang ist ein Grüngürtel geplant, im Innern des Geländes verschiedene ‹Pocket Parks› und ein grünes Band, das dem Rückgrat der Gleise folgt, die schritt-weise verschwinden werden.

Wie funktioniert die Qualitätskontrolle?

Der Masterplan ist in Kraft, die Ziele sind festgelegt. Eine durch-mischte, lebendige Stadt soll es werden, selbstverständlich mit hoher architektonischer Qualität und vor-bildlichem Städtebau. Doch wer sorgt bei der Umsetzung fürs Einhalten der Versprechen? Geplant ist ein Lenkungsgremium, das speziell für dieses Areal zuständig ist und für Qualität sorgen soll, aber auch auf die sich verändernden Anforderungen mit abwägender Vernunft reagieren kann. Dabei kommt den zehn Schlüsselprojekten eine entscheidende Bedeutung zu. Die Planer haben für jedes ein Ziel gesetzt und Empfehlungen abgegeben, wie es zu erreichen ist. Vier davon zeigen, was gemeint ist.

Genf erwacht. Mit dem Masterplan ‹Praille Acacias Vernets› steht der Stadtumbau erst am Anfang. Es ist eine Entwicklung, die Hochparterre noch weiter verfolgen wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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