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TEC21 2007|45
Alpenwandel
TEC21 2007|45
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Wer will welche Landschaft?

Die Landschaft ist eine der wichtigsten Ressourcen alpiner Regionen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurden Alpenbewohner, Touristen, Städter und Experten zu ihren Erwartungen und Ansprüchen an künftige Landschaftsveränderungen befragt. Die teilweise gegensätzlichen Bedürfnisse offenbaren erhebliches Konfliktpotenzial.

Die alpinen Landschaften dienen der lokalen Bevölkerung seit je als wichtige Ressource, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihr Erscheinungsbild war deshalb früher in erster Linie von der jeweiligen landwirtschaftlichen Nutzungsform geprägt. Die tief greifenden sozioökonomischen Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert haben die alpine Landschaft jedoch grundlegend verändert. Dabei wurden insbesondere drei neue landschaftsprägende Kräfte ausschlaggebend: Tourismus, Industrie und Transit.[1]
Heute ist die Alpenlandschaft längst nicht mehr nur für die ansässige Bevölkerung von Bedeutung. Sie muss diverse, sich oft widersprechende Bedürfnisse verschiedenster Inte­ressengruppen befriedigen. Eine Planung der alpinen Landschaftsentwicklung, die den Bedürfnissen und Zielvorstellungen breiter Bevölkerungskreise entspricht, ist deshalb eine komplexe Aufgabe.

Doch welches sind diese Bedürfnisse und Zielvorstellungen? Dieser Frage widmete sich das Forschungsprojekt «Zielvorstellungen und Konflikte hinsichtlich alpiner Landschaftsentwicklung», ein Projekt des Nationalen Forschungsprogramms «Landschaften und Lebensräume der Alpen» (NFP 48).[2] Es versuchte, die Beurteilung von (künftigen) Landschaftsveränderungen im Alpenraum zu erfassen und ihre Hintergründe aus soziokultureller und umweltpsychologischer Perspektive zu erklären. Unter anderem wurden folgende Forschungsfragen behandelt:
– Welche Präferenzen hat die Bevölkerung gegenüber alpiner Landschaftsentwicklung, und wie lassen sie sich erklären?
– Unterscheiden sich die Haltungen verschiedener Bevölkerungsgruppen in Bezug auf Landschaftsveränderungen?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden zwei Teilprojekte mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt. Im ersten Teilprojekt wurden Bewohner und Touristen von Mittelbünden interviewt. Im Zentrum des Interesses standen die Bedeutungen, die beide Gruppen mit Landschaftsattributen verbinden, aber auch die Wünsche und Befürchtungen der lokalen Bevölkerung hinsichtlich der Landschaftsentwicklung. Diese Fokussierung erlaubte die Untersuchung der Hintergründe von Urteilen über Landschaftsveränderungen.
Im zweiten Teilprojekt wurden repräsentative Erhebungen mit standardisiertem Fragebogen durchgeführt, welche mit statistischen Verfahren ausgewertet wurden. Wichtiger Bestandteil des Fragebogens waren visualisierte Entwicklungsszenarien von Landschaftsausschnitten aus der Region Mittelbünden. Erhoben wurden die Einstellungen der Schweizer Bevölkerung (inkl. Bewohner Mittelbündens), der Touristen Mittelbündens sowie von regionalen und überregionalen Experten und Entscheidungsträgern bezüglich Landschaftsentwicklung. Dieses Teilprojekt ermöglichte es, die Einstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu vergleichen.

Kulturlandschaft oder «Wildnis»?

Vielerorts im Alpenraum ist heute die Erhaltung der (traditionellen) Kulturlandschaft aufgrund des Rückzugs der Landwirtschaft in Frage gestellt. Verbuschung und Wiederbewaldung («sekundäre Wildnis») sind mögliche Folgen. Was sagt die breite Schweizer Bevölkerung dazu? Welche Präferenzen haben die Einheimischen bzw. die Touristen?
Die breite Bevölkerung, die zu 70% im (peri)urbanen Raum ausserhalb der Alpen wohnt, und die Touristen unterscheiden kaum zwischen den verschiedenen Landschaftsszenarien und beurteilen sie alle positiv (Bilder 2, 4 bis 7, 8 bis 13). Alpine Landschaft gefällt grundsätzlich, ein Befund, der besonders die Touristiker beruhigen sollte: Solange die Alpenlandschaft noch weitgehend naturnah, «grün», ist, spielen kleine Unterschiede in der Intensität der Bewirtschaftung keine so grosse Rolle, wie oft befürchtet wird. Die Wiederbewaldung wird zumindest nicht negativer beurteilt als die Erhaltung der Kulturlandschaft. Das heisst nun, dass aus der Sicht der Steuerzahler und Touristen im Hinblick auf das Landschaftserlebnis nicht jeder Quadratmeter Kulturlandschaft erhalten werden muss. Dabei ist jedoch zu beachten, dass dieses Urteil aus einer Situation heraus gefällt wurde, in welcher Kulturlandschaft auch im Alpenraum noch reichlich vorhanden ist. Wird diese knapper, dürfte ihre Wertschätzung wieder steigen.

Wahrnehmung der Landschaft als Existenzgrundlage

Die Unterschiede zwischen den drei Gruppen «breite Schweizer Bevölkerung», «Einwohner Mittelbündens» und «Touristen Mittelbündens» sind hinsichtlich der grossräumigen Landschaftsentwicklung (Bilder 2, 4 bis 7) in den meisten Fällen eher gering. Dieses Ergebnis ist für Politik und Planung erfreulich: Man kann weitgehend davon ausgehen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ähnliche Präferenzen haben. Eine Ausnahme bildet das Szenario «Verbrachung und Wiederbewaldung» (Bild 7): Dieses beurteilen die Mittelbündner signifikant negativer als die Touristen oder die Gesamtschweizer Bevölkerung. Wiederbewaldung ist für Personen aus der Region mehr als für Aussenstehende mit dem befürchteten Verschwinden der noch immer als ökonomische Existenzgrundlage wahrgenommenen Landwirtschaft verbunden. Für Personen von aussen hingegen scheint das Wilde und Ursprüngliche reizvoll zu sein – eine Landschaft, die sie an ihrem Wohnort nur selten erleben können. Ähnliches zeigt sich auch bei der Beurteilung anderer Entwicklungsszenarien durch die verschiedenen Interessengruppen, insbesondere, wenn sie aus der Nähe betrachtet werden (Bilder 8 bis 13), weil dann die mit der Landschaft verbundenen Bedeutungen konkreter erlebt werden. So beurteilen die Einheimischen intensive landwirtschaftliche Nutzung (Bilder 8, 10), die «innovative» Nutzungsform «Golfplatz» (Bilder 8, 13) sowie die tourismusbedingte Siedlungsentwicklung (Bild 1) positiver als die Auswärtigen.

Was ist authentisch?

Es geht also nicht nur um existenzielle Aspekte bei der Beurteilung der Entwicklungen. Aus den Ergebnissen der Interviews ging hervor, dass auch unterschiedliche Vorstellungen von authentischer Alpenlandschaft eine Rolle spielen[3]: Einig ist man sich darin, dass historische Landschaftselemente das kulturelle Erbe ausdrücken und damit zur Authentizität beitragen. Entsprechend werden traditionelle Nutzungsformen und Siedlungsteile positiv beurteilt, obschon diese Elemente u. U. ihre Funktion inzwischen eingebüsst haben. Für die Einheimischen ist aber auch die Entwicklung der Landschaft entsprechend ihren ak-tuellen (existenziellen) Bedürfnissen ein Ausdruck von Authentizität, auch wenn die reine «Erscheinungsform» der neuen Landschaftselemente nicht dem gängigen Bild der traditionellen Alpenlandschaft entspricht, das für die Schweizer Bevölkerung als nostalgisches Idealbild hohe Bedeutung hat. Diese «funktionale Authentizität» wird von den Auswärtigen zumeist nicht gewürdigt: Sie beurteilen primär funktionale Landschaft­sentwicklungen (intensive Landnutzung, Golfplatz, moderne Siedlungsentwicklung) negativer als die Einheimischen. Für die Planung und die Politik, welche die Landschaftsentwicklung lenkt, ist dies eine Herausforderung: Es gilt, eine Entwicklung zu realisieren, die einerseits den Wunsch der lokalen Bevölkerung nach kultureller Identifikation und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten erfüllt, die aber auch den ebenfalls berechtigten Ansprüchen der Gesamtbevölkerung entspricht.

Experten urteilen anders als die Bevölkerung

Grosse Beachtung ist dem Umstand zu schenken, dass es zumeist nicht die breite Bevölkerung ist, welche die Landschaftsentwicklung lenkt. Dies übernehmen meist Experten mit ihren Gutachten und Ratschlägen sowie die Entscheidungsträger in Politik und Planung. Auch diese Personen sind Individuen mit spezifischen Präferenzen bzgl. Landschaftsentwicklung. Decken sich diese Präferenzen mit jenen der breiten Bevölkerung, den sogenannten Laien? Unsere Untersuchungen ergaben ein deutliches Resultat: Experten und Entscheidungsträger urteilen anders als die breite Bevölkerung (Bild 3). So bewerten die Experten die traditionelle Kulturlandschaft deutlich positiver, die Wiederbewaldung deutlich negativer als die breite Bevölkerung. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Experten und Entscheidungsträger stärker von Erkenntnissen früherer Untersuchungen – z. B. dem Unesco- und Nationalfonds-Forschungsprogramm «Man and Bio­sphere»[4], das die Erhaltung der traditionellen Kulturlandschaft vertrat – geprägt sind als die breite Bevölkerung, die stärker aufgrund der eigenen Interessen und Erlebensweisen urteilt. Will sich Politik und Planung jedoch in ihrem Handeln nicht von den Präferenzen der Bevölkerung abkoppeln und damit Akzeptanzschwierigkeiten riskieren, tut sie gut daran, die Einstellungen der «Laien» in ihre Entscheidungen aktiv einzubeziehen, beispielsweise mittels partizipativer Verfahren.

[ Marcel Hunziker, Dr. sc. nat., Geograf/Sozialwissenschafter, Katrin Gehring, Dr. phil., Psychologin, Susanne Kianicka, Dr. sc. nat., Ethnologin, Matthias Buchecker, Dr. phil. nat., Geograf / Sozialwissenschafter.
Alle AutorInnen waren Mitglieder des Projektteams und sind (z.T. ehemalige) Mitarbeitende der Gruppe Sozialwissenschaftliche Landschaftsforschung, Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, Birmensdorf ]
Literatur
[1] Bätzing, W.: Die Alpen. Entstehung und Gefährdung einer europäischen Kulturlandschaft. C.H. Beck, München, 1931.
[2] Lehmann, B., Steiger, U. und Weber, M.: Landschaften und Lebensräume der Alpen – Zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung. Reflexionen zum Abschluss des Nationalen Forschungsprogramms 48. vdf, Zürich, 2007.
[3] Kianicka, S., Gehring, K., Buchecker, M. & Hunziker, M.: Wie authentisch ist die Schweizer Alpenlandschaft für uns? Ein Schwerpunkt des NFP-48-Projekts «Zielvorstellungen und Konflikte hinsichtlich alpiner Landschaftsentwicklung». Bündner Monatsblatt 2/2004, S. 196–210.
[4] Messerli, P.: Mensch und Natur im alpinen Lebensraum. Risiken, Chancen, Perspektiven. Haupt, Stuttgart, 1989.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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