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TEC21 2007|45
Alpenwandel
TEC21 2007|45
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Klimafolgen im Hochgebirge

Der Klimawandel wird Landschaft und Lebensraum in den Hochgebirgsregionen drastisch verändern. Das Projekt GISALP entwickelte ein vierdimensionales Geoinformationssystem für das Oberengadin, mit welchem die Veränderungen dargestellt werden können.

5. November 2007 - Wilfried Haeberli, Markus Egli
Die Entwicklung von Klima, Landschaft und Lebensraum der Alpen führt immer weiter von der historisch-empirischen Wissensbasis weg.[1, 2] Die Zukunft des hochkomplexen Mensch-Umwelt-Systems abzuschätzen, wird immer schwieriger. In besonderem Masse gilt dies für das durch Schnee und Eis geprägte Hochgebirge, wo die Zeichen des beschleunigenden Klimawandels schon heute klar zu erkennen sind: Der rasante Schwund der Gletscher und die tief greifende Erwärmung des Permafrostes oberhalb der Waldgrenze[3, 4, 5] sind in der öffentlichen Wahrnehmung stark in den Vordergrund getreten.

Um Handlungsmöglichkeiten und Planungsbedürfnisse abschätzen zu können, müssen Erfahrungen aus der Vergangenheit mehr und mehr durch realistische Szenarien zukünftig möglicher Entwicklungen ergänzt, wenn nicht gar ersetzt werden. Dazu braucht es eine entsprechende Wissensbasis. Das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» durchgeführte Projekt GISALP hatte zum Ziel, ein integriertes räumlich-zeitliches («vierdimensionales») Geoinformationssystem aufzubauen, das als Instrument für Kommunikation, Analyse, partizipative Planung und Management dienen soll.[6, 7] Das entwickelte Geoinformationssystem bezieht sich auf die hochalpine Landschaft des Oberengadins, die durch steile Bergflanken und Gipfel, Schnee und Eis, Pioniervegetation sowie eine intensive Dynamik von Oberflächenprozessen charakterisiert ist. Die Untersuchung kombiniert die thematischen Schwerpunkte Geoinformatik und regionale Planung am Beispiel einer Region, deren weltberühmter Naturraum (Bild 1) die Basis für die wichtigste Einnahmequelle, den Tourismus, darstellt und die möglicherweise von drastischen Veränderungen bedroht ist.

Problemräume identifizieren

In einer für langfristige Trends angewendeten Analyse8 erscheinen die Klimaänderung – speziell der Eisschwund – und die Planungspolitik als entscheidende Treiber im Hochgebirgsteil des gesamten Mensch/Umwelt-Systems[7]: Sie beeinflussen die Landschafts­attraktivität, die Nutzungskonflikte, die Wahrnehmung der Region und die Zufriedenheit der Bevölkerung. Das GIS-basierte Geoinformationssystem GISALP6 konzentriert sich dementsprechend auf die Erfassung von Schlüsselvariablen der klimagesteuerten Landschaft­sevolution im Hochgebirge: Gletscher, Permafrost, Pioniervegetation und Bodencharakteristik, wo die stärksten mittel- bis langfristigen Veränderungen auftreten.[10, 11, 12] Die vorhandenen Daten werden mit räumlichen Modellen und Klimaszenarien so verknüpft, dass für spezifische Objekte räumliche Verbreitungsmuster (z. B. Permafrost, Bodentypen), spezifische Prozesse (z.B. Murgänge, Eisstürze), integrative Aspekte (z. B. Disposition zu Naturgefahren, Landschaftsattraktivität) und entsprechende Veränderungs- und Problemräume berechnet werden können. Erste Modellierungen zukünftiger Entwicklungen basieren auf einem (wohl eher optimistischen) Klimaszenario mit einem Anstieg der mittleren Lufttemperatur für das Jahr 2050 von + 1.6°C und für das Jahr 2100 von +3°C bei gleichbleibendem Niederschlag.

Schneller Rückgang bei Gletschern und Permafrost

In Szenarien zukünftig erhöhter Temperatur sind Veränderungen im Zusammenhang mit Gletschern und Permafrost in den höchsten Bergregionen schon mit dem verwendeten, optimistischen Klimaszenario wie erwartet dramatisch (Bild 3). Eine weitgehende Entgletscherung auch der Berninagruppe ist noch im Laufe des jetzigen Jahrhunderts wahrscheinlich. Die Änderungen im Permafrost, der als Untergrundphänomen der direkten Beobachtung entzogen ist, dürften nicht minder drastisch sein und vor allem grosse Tiefenbereiche (> 100 Meter) umfassen. Im Gegensatz zum schnellen Gletscherschwund sind der Anstieg der Waldgrenze und die Verwaldung subalpiner Weiden langsame Prozesse. Selbst nach einem Jahrhundert werden Bäume in neu eisfrei gewordenen Gletschervorfeldern nur eine untergeordnete Rolle spielen (Bild 5). Subalpine Weiden werden auch bei Nutzungsaufgabe nur unmerklich verwalden. In den Gletschervorfeldern werden nach dem Gletscherrückzug mit der Zeit neue, jedoch geringmächtige Böden entstehen. Die generellen Bodeneigenschaften in den restlichen Gebieten werden sich im betrachteten Zeithorizont von max. 100 bis 150 Jahren nur wenig verändern.

Seen und Schuttfluren statt Eisflächen

Mit diesen klimaabhängigen Veränderungen eng verknüpft werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Landschaftsattraktivität (Bild 2) und die Naturgefahrenpotenziale wesentlich verändern. Dies vor allem dort, wo neu Seen in heute gletscherbedeckten, übertieften Tälern entstehen. Gletscher, Wald und Seen als charakteristische Landschafts­elemente der Hochgebirgslandschaft im Oberengadin werden in ihrer heutigen Kombination kaum erhalten bleiben. Durch den Gletscherrückzug werden die Fels- und Moränenvorfelder bedeutend an Fläche zunehmen. Die «leuchtenden» Firn-/Eisflächen mit ihrem Symbolcharakter für eine «reine, ungestörte» Natur dürften für Generationen durch monotone Schutt- und Felsfluren ersetzt werden. Eine Folge davon ist die Abnahme der Landschaftsattraktivität dort, von wo aus Gletscher ursprünglich sichtbar waren, also auch in den Siedlungen der Tallage. Lokal wird diese negative Entwicklung durch neu entstehende Seen in sukzessive eisfrei werdenden Gletscherbetten kompensiert. Solche Seen könnten sich schon in den kommenden Jahrzehnten am Morteratschgletscher am Fuss des Piz Bernina und am Persgletscher unterhalb des Piz Palü bilden (Bild 4). Die Veränderung von Naturgefahren und damit verbundene Nutzungskonflikte werden am deutlichsten bei der Bildung solcher Seen sichtbar. Die Möglichkeit von grossen Sturzereignissen aus umgebenden Steilflanken mit ihren stark veränderten Eisbedingungen über und unter der Oberfläche13 nimmt zu und führt zusammen mit den Seen in ihrer potenziellen Sturzbahn zur Gefahr von grossen und weitreichenden Flutwellen und Murgängen (Bild 4) – Prozessketten, die mit modernen und zukunftsorientierten Konzepten der Naturgefahrenabschätzung behandelt werden müssen[14].

Basis für frühzeitige Anpassungsstrategien

GIS-basierte Geoinformationssysteme wie GISALP ermöglichen es, nicht nur einzelne Landschaftsobjekte oder Naturgefahrenprozesse räumlich-zeitlich zu modellieren, sondern die Hochgebirgslandschaft als Synthese aus einzelnen Teilbereichen gesamthaft zu betrachten und die Reaktion auf steigende Temperaturen beispielsweise durch Koppelung von regionalen Klimamodellen und GIS-basierten Impaktmodellen15 integral abzuschätzen. Sie sind die Basis für den Aufbau regionaler Kapazität im Umgang mit schnellen Umwelt- und Geosphärenveränderungen. In erster Linie vermitteln sie eine Übersicht über das vorhandene Wissen und Verständnis bezüglich der beteiligten Komponenten. Dadurch machen sie die wissenschaftliche Reflexion – Annahmen, Prozessverständnis, Empirie, Szenarien – transparent und zeigen Wissenslücken auf. Insbesondere helfen sie, die langfristige Entwicklung komplexer Systeme abzuschätzen. Sie sind allerdings noch weit von Idealzuständen entfernt und müssen deshalb im Hinblick auf die schnellen Veränderungen im Forschungsstand, in der einsetzbaren Technologie und vor allem in der Natur ständig verbessert werden.
Im Gegensatz zu Daten und Modellen für die abiotischen Bereiche (z. B. Gletscher, Seebildung, Permafrost, Murgänge) sind die biotischen Aspekte wesentlich komplexer und weit weniger gut erfasst. Für die Bodenverbreitung wurde im Zusammenhang mit dem
GISALP-Projekt eigens ein neues GIS-basiertes Modell entwickelt16. Für das Nachrücken der Vegetation in eisfrei werdende Gebiete fehlt jedoch ein quantitatives räumlich-zeitliches Modell noch weitgehend. In Anbetracht der beschränkten, inhomogenen und teilweise fehlenden Grundlagen müssen relativ einfache und robuste Modelle verwendet werden, deren Anwendungsbereich nach Möglichkeit durch komplexere Modelle und gezieltes Monitoring zu überprüfen ist. Die vorhandene räumlich-langzeitige Information muss mit Daten und Modellen höherfrequenter Abläufe (Lawinen, Schneeschmelze, Hochwasser etc.) kombiniert werden. Einsatz und Weiterentwicklung der Systeme erfordert eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung, lokaler Praxisberatung und politischer Planung. Im Hinblick auf die bevorstehenden Veränderungen sind möglichst frühzeitig Visionen für mittel- bis langfristige Milderungs- und Anpassungsstrategien (Bild 6) gefragt. Systeme wie GISALP können helfen, entsprechende Möglichkeiten und Grenzen zu definieren.

[ Wilfried Haeberli, Geografisches Institut, Universität Zürich, Markus Egli, Geografisches Institut, Universität Zürich ]
Anmerkungen
Weitere Informationen findet man im Schlussbericht des NFP-Projektes GISALP6, in den Dissertationen von Rothenbühler
und Meilwes[7, 9] oder in spezialisierten Publikationen z.B. [10, 11, 12].

Literatur
[1] Bätzing, W.: Die Alpen – Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Verlag C.H. Beck, München,
2003, 431S.
[2] Huber, U. M., Bugmann, H. K. H., und Reasoner, M. A. (Hrsg.): Global change and mountain regions (a state of
knowledge overview). Springer, Dordrecht.
[3] Watson, R. T., und Haeberli, W. (2004): Environmental threats, mitigation strategies and high-mountain areas.
In: Royal Colloquium: Mountain Areas – a Global Resource; Ambio Special Report 13, 2004, S. 2–10.
[4] Zemp, M., Haeberli, W., Hoelzle, M., und Paul, F.: Alpine glaciers to disappear within decades? Geophysical
Research Letters 33, 2006, L13504 (doi: 10.1029/2006 GL026319).
[5] Noetzli, J., Gruber, S., Kohl. Th., Salzmann, N., und Haeberli, W.: Three-dimensional distribution and evolution
of permafrost temperatures in idealized high-mountain topography. Journal of Geophysical Research 112, 2007,
F02S13 (doi: 10.1029/2006JF000545).
[6] Haeberli, W., Keller, F., Krüsi, B.O., Egli, M., Rothenbühler, C., Meilwes, J., Maisch, M., Burga, C., und Gruber,
S.: Raum-zeitliche Information über schnelle Klimaänderungen in hochalpinen Umweltsystemen als strategisches
Werkzeug für Analyse, Kommunikation, partizipative Planung und Managment im Tourismusgebiet Oberengadin.
Schlussbericht des Teilprojektes GISALP, NFP 48 (Nationales Forschungsprogramm «Alpen»). Vdf-Verlag, Zürich,
2007.
[7] Rothenbühler, C.: GISALP – räumlich-zeitliche Modellierung der klimasensitiven Hochgebirgslandschaft des
Oberengadins. Schriftenreihe Physische Geographie (Universität Zürich), Glaziologie und Geomorphodynamik 50,
2006, 179 S.
[8] Vester, F.: Die Kunst, vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Deutscher
Taschenbuch Verlag, München, 2002.
[9] Meilwes, J. (im Druck): Sozioökonomische und landschaftsökologische Betrachtung hochalpiner Regionen unter
Berücksichtigung systemrelevanter Veränderungsprozesse am Beispiel des Oberengadins. Schriftenreihe Physische
Geographie (Universität Zürich), Glaziologie, Geomorphodynamik & Geochronologie.
[12] Paul. F., Maisch, M., Rothenbühler, C., Hoelzle, M., und Haeberli, W.: Calculation and visualisation of future glacier
extent in the Swiss Alps by means of hypsographic modelling. Global and Planetary Change 55, 2007, 343–357.
[13] Gruber, S., und Haeberli, W.: Permafrost in steep bedrock slopes and its temperature-related destabilization
following climate change. Journal of Geophysical Research 112, 2007, F02S18 (doi:10.1029/2006JF000547).
[14] Huggel, C., Haeberli, W., Kääb, A., Bieri, D., und Richardson, S.: An assessment procedure for glacial hazards
in the Swiss Alps. Canadian Geotechnical Journal 41, 2004, 1068–1083.
[15] Salzmann, N., Noetzli, J., Hauck, C., Gruber, S., Hoelzle, M., und Haeberli, W.: Ground surface temperature
scenarios in complex high-mountain topography based on regional climate model results. Journal of Geophysical
Research 112, 2007, F02S12 (doi:10.1029/2006JF000527).
[16] Egli, M., Margreth, M., Fitze, P., Tognina, G. und Keller, F.: Modellierung von Bodeneigenschaften im Oberengadin
mit Hilfe eines GIS. Geographica Helvetica 60, 2007, S. 87–96.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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