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TEC21 2007|44
Gläsern
TEC21 2007|44
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Tragfähig

Die Nachfrage und die Forderung nach mehr Transparenz bei Bauprojekten steigen von Jahr zu Jahr. Isolierglasfenster nehmen beeindruckend grosse Abmessungen an, vollflächig aus Glas verkleidete Doppelhautfassaden öffnen die Sicht auf das Innenleben eines Gebäudes und präsentieren dessen Tragkonstruktion. Sichtverdeckend störende Pfosten und Balken werden durch transparente Glasschwerter ersetzt. Glas dient nicht mehr nur als durchsichtige Raumtrennung, es übernimmt tragende Funktionen. Das Kompetenzzentrum Fassaden- und Metallbau an der Hochschule für Technik und Architektur in Horw beschäftigt sich seit längerem intensiv mit dem Thema des tragenden Glases. Dabei stehen vor allem die Erforschung der Trag- und Konstruktionsweisen im Vordergrund.

Zwei Bauingenieurstudenten der HTA Luzern, Michael Preindl und Riccardo Dorn, liessen sich von der steigenden Nachfrage nach dem transparenten Baumaterial inspirieren und untersuchten in ihrer Diplomarbeit den Entwurf, die Bemessung und die Konstruktion ­einer Fussgänger- und Radwegbrücke aus Glas. Das spröde Material als Ersatz für den duktilen Baustahl, das biegsame Holz oder den massiven Stahlbeton einzusetzen scheint widersprüchlich. Sie haben aber eine Lösung für die Konstruktion gefunden.

Die grobe Geometrie mit einer Spannweite von 8 m und einer begehbaren Wegbreite von 1.5 m war in der Aufgabenstellung der Diplomarbeit festgelegt. Mit dieser Forderung zwang man die Studenten zum Entwurf einer Trägerkonstruktion aus mehreren Glaselementen, denn die industrielle Herstellung von Flachglas beschränkt sich derzeit noch auf eine maximale Scheibendimension von 6x3 m. Gesucht war ein geeignetes System, das durch gelenkige oder steife, durch geklebte oder punktgehaltene Verbindungen einen Brückenträger für den betreffenden Geländeeinschnitt zusammenfügt. Als zusätzlich herausforderndes Ziel dieser Arbeit stellte sich die durch Sponsoren ermöglichte Realisation dar.

Verflechten von Architektur und Technik

Während eines kurzen Vorprojekts wurden erste Querschnitte durch Vordimensionieren bestimmt und als grobe Struktur der Brücke in einem Entwurf festgehalten. Das Projekt sollte auch ästhetischen Anforderungen genügen. Im Dialog mit Kollegen und Kolleginnen aus dem Architekturstudium und mit dem renommierten Brückenarchitekten Eduard Imhof verflocht sich das ingenieurhafte Geschick mit der architektonischen Kunst. Mit einfachen Mitteln und unkomplizierten Bauteilen passte sich der Entwurf des Projekts einer modernen und zeitgemässen Architektur an. Die Gestaltung der Brückenträger ergab sich aus dem statischen Konzept der primären Tragstruktur. Die Bauingenieure gingen dabei auf ein visuelles Spiel mit dem Kraftfluss ein, das seinen Ursprung im Tragwerkskonzept hat und sich in der Tragstruktur zeigt. Durch Überlagerung der Trägerquerschnitte passte sich die Brückenstruktur dem Biegemomentenverlauf eines einfachen Balkens an. Dem Betrachter wird so die Momentenlinie des Trägers sichtbar gemacht.
Im Auflagerbereich schaffen Aussparungen einen fliessenden Übergang von der Glasbrücke ins Betonfundament. Eine geringe Steigung der Glasbrücke von weniger als 6% aus dem Fundament hinaus deutet auf die Überhöhung des Brückenbogens hin – eine kleine Massnahme, die eine grosse Wirkung erzielt und die Bogenform ästhetisch leicht und nicht durchhängend erscheinen lässt.

Krafteinleitungszonen sind die Herausforderung

Um die entworfene Balkenbrücke baustatisch zu bemessen und zu dimensionieren, ­mussten keine anspruchsvollen Systeme gelöst werden. Vielmehr galt es, die Bereiche der Krafteinleitung genauer zu untersuchen. Spannungskonzentrationen können vom spröden Material Glas nicht abgebaut und müssen verhindert werden. Die Diplomanden trennten darum die Krafteinleitungszonen, in denen Glas auf Glas oder Glas auf Stahl trifft, konstruktiv voneinander. Das Material der Zwischenschichten musste dabei genügend elastisch sein, um keine Spannungsspitzen im Glas zu erzeugen, und eine entsprechende Steifigkeit aufweisen, damit es sich nicht stark verformt. Die punktförmige Bolzenverbindung zwischen den einzelnen Glasschwertern der Primärträger zeigte eine ebensolche Schwachstelle auf. Durch eine eigens für dieses Projekt angefertigte zentrierbare Minischalung wurde eine Polyoximethylen-Hülse (POM) im Bohrloch ausgerichtet und mit einem schnell abbindenden Injektionsmörtel (Hilti Hit 50) ausgegossen. Die POM-Hülse verhindert den Kontakt zwischen dem spröden Glas und dem duktilen Stahl. Zusätzlich lässt sie Verdrehungen um die eigene Achse zu und garantiert die Freiheit der statisch bedingten Trägerbewegungen, sodass Zwängungen und unerwünschte Eigenspannungen verhindert werden. Der Injektionsmörtel gleicht einen allfälligen Versatz im Verbundglas aus und stellt eine korrekte und gleichmässige Krafteinleitung in beide Scheiben sicher. Spannungsspitzen werden durch diese Zwischenlagenkonstruktion gedämpft und unter einem zulässigen Wert gehalten.

Tragende Bauteile aus Glas

Die drei Scheiben, aus denen jeweils ein Träger zusammengefügt wird, bestehen aus Verbundsicherheitsgläsern (VSG). Sie setzen sich aus zwei 15mm dicken Einscheibensicherheitsgläsern (ESG) mit einer 1.52mm starken Polyvinylbutyral-Folie zusammen (Kurzbezeichnung: VSG aus ESG 15 mm/PVB 1.52mm/ESG 15mm). Diese Glasschwerter wurden vorgängig auf einem Traggerüst mit den horizontal verbindenden Vollstahlstreben (RND40 S235) und den aussteifenden, korrosionsbeständigen Winderverbänden (Spiralseile d=10mm) zur Trägerkonstruktion zusammengefügt. Mittels Kranbahn hob man die vorgefertigte Konstruktion an und legte sie in die Betonauflager. Die gläsernen Primärträger liegen in der Auflagerkonsole auf einer EPDM-Bettung (Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk bzw. Neopren) auf. Dadurch wird auch hier ein flächiger Krafteintrag geschaffen, und damit werden zu hohe Spannungskonzentrationen im Glasquerschnitt verhindert.

Auf den Primärträgern liegen die 1.50 x 2.05 m grossen Glasplatten des Gehweges. Es kommen Verbundsicherheitsgläser zum Einsatz, die aus zwei 15mm dicken Floatgläsern bestehen und eine 1.52mm dicke PVB-Folie einklemmen. Die Platten bieten eine nur geringe Rutschsicherheit. Da das Projekt jedoch ein Experiment war, bei dem möglichst viel Transparenz erzielt werden sollte, wurde auf eine Ätzung oder spezielle Folienbeschichtung verzichtet. Die Glasplatten sind durch Ultraviolett-resistente Auflagerstreifen aus Polyethylen von der Trägeroberkante getrennt und nur mit Silikon seitlich verklebt. Dadurch wird ein horizontales Weggleiten der Gehwegplatten verhindert. Zusammen mit der Unterstützung der aussteifenden Windverbände unterhalb der Gehwegplatte gewährleisten die Silikonverklebungen die seitliche Aussteifung der Glasbrücke.

Um die komplexen Berechnungen für die Krafteinleitung und das Kippen durchzuführen, behalfen sich die Diplomanden mit einem Finite- Elemente-Programm. Das statische System wurde mit Schalenelementen modelliert, und die Eigenschaften der Trenn- oder Auflagerschichten wurden mit Federelementen simuliert. Die verschiedenen Bereiche der Krafteinleitung, aber auch alle Tragsicherheits- und Gebrauchtauglichkeitsnachweise am gesamten statischen System konnten auf diese Weise untersucht werden.
Neben den üblichen Nachweisen wurde auch die seitliche Aussteifung durch Verkleben der Gehplatten an der Trägeroberkante untersucht. Die Verklebung modellierten die Tragwerksplaner mit Liniengelenken und Federelementen, denen man die gleichen Eigenschaften wie Silikon zuordnete. Schwierig gestaltete sich jedoch die Auswertung dieser Ergebnisse, und die Frage nach einer genügenden seitlichen Steifigkeit konnte nicht abschliessend, beantwortet werden. Eine Kontrolle des Durchbiegungsverhaltens bestätigte aber die erwarteten Verformungen und Verdrehungen der eingesetzten Gelenke und Federelemente.

Schlankheit birgt Schwingungsprobleme

Diese Fussgängerbrücke ist als schlanke Konstruktion ausgeführt. Solche Konstruktionen neigen infolge ihrer geringen Steifigkeit zu Schwingungsanfälligkeit. Damit die Glasbrücke bei Fussgängerverkehr nicht aufzuschaukeln droht, wurden die Phänomene der personeninduzierten Schwingungen mit einer mathematischen Analyse der Eigenwerte untersucht. Es erfolgte ein direkter Vergleich der Eigenfrequenz der Brücke mit der Frequenz gehender oder hüpfender Personen, die aus Feldversuchen ermittelt wurde. Durch einfache Berechnungen konnte ein allfälliges Resonanzproblem ausgeschlossen werden. Da die Eigenfrequenz der Fussgängerbrücke aber in einem schwingungsanfälligen Bereich zwischen ein bis vier Hertz liegt, besteht die Gefahr, dass die schwingungsbedingte Beschleunigung zu hohe Werte erreicht. Das subjektive Empfinden eines Passanten würde die erhöhte Beschleunigung als störend registrieren und unangenehm empfinden. Eine detaillierte Schwingungsanalyse zeigte aber, dass die Beschleunigungsamplituden auf einem für die Allgemeinheit akzeptablem Niveau bleiben. Ausserdem bestätigen die effektiven Begehungen der Fuss- und Radwegbrücke die theoretischen Berechnungen – man spürt zwar die Beschleunigungen der Schwingungen, doch nur in einem äusserst geringen Mass.

[ Daniel Meyer, dipl. Bauingenieur ETH SIA SWB, Leiter des CC Fassaden- und Metallbau und Dozent an der HTA Luzern; Michael Preindl, dipl. Bauingenieur FH, Assistent HTA Luzern; Riccardo Dorn, dipl. Bauingenieur FH bei Dr. Lüchinger und Meyer Bauingenieur AG ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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