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TEC21 2007|46
Siedlungsplanung
TEC21 2007|46
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Dichte statt Zwang

Was kann Architektur bei der Suche nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsform helfen? Andreas Hofer diskutierte die Frage mit Architekturschaffenden, die Erfahrungen mit unkonventionellen Siedlungsprojekten gemacht haben. Basis für das Gespräch bildete der Artikel «Gemeinschaftshäuser in Zürich» in diesem Heft.

12. November 2007 - Andreas Hofer
Andreas Hofer: In Zürich feiern die Wohnbaugenossenschaften das 100-Jahr-Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Sie sind auch sonst in Bewegung geraten, denn ein grosser Teil ihrer Bestände muss heute erneuert werden. Das böte die Chance, nach einer grundsätzlich nachhaltigeren Siedlungsweise zu suchen. Das hiesse wohl, die Trennung von Wohnen und und Arbeiten rückgängig zu machen, die soziale Durchmischung zu fördern und zeitgemässe Formen von Gemeinschaftlichkeit zu finden, die den heutigen Bedürfnissen nach persönlicher Unabhängigkeit, Haushaltrationalisierung und sozialen Kontakten gerecht würde.
Andreas Zimmermann, Sie scheinen gern alte Wohnutopien auszugraben: Ihr Bauprojekt für die Wogeno an der Grüngasse1 radikalisiert die Idee flexibler Grundrisse aus den 1980er-Jahren. Und im Wettbewerb der Genossenschaft Sonnengarten im Triemli schlugen Sie grosse Blöcke nach Art von Godins «Familistère» im 19. Jahrhundert vor, in denen die Wohnungen auf teilweise gedeckte Innenhöfe orientiert gewesen wären.2 Wie passen die alten Typologien in die heutige Welt?
Andreas Zimmermann: Für die Genossenschaftssiedlung im Triemli versuchten wir, grosse Gemeinschaftsbereiche zu schaffen, um das Kollektiv zu fördern. An zentralen Innenhöfen und Hallen sahen wir Funktionen wie die Waschküche oder zumietbare Zimmer für Büros respektive durchgesteckte Wohnungen vor. Die Erschliessung aller Wohnungen führte über den Gemeinschaftsbereich. Doch diese architektonisch-soziale Vorstellung löste bei der Genossenschaft die Angst aus, dass ihre Mieter das gar nicht suchen und so die Höfe ungenutzt und öde bleiben könnten.
Das kleine Wogeno-Projekt an der Grüngasse entsteht auf einem zentralen, sehr engen Grundstück. Wir fragten uns einerseits, ob die üblichen Wohnungsstandards hier wirklich das Richtige wären. Zum anderen finden wir, dass die bekannten Grundrisse von, zum Beispiel, ADP oder Michael Alder mit weglassbaren Trennwänden, aber eindeutigen Tages- und Nachtbereichen, nicht flexibel genug sind für die heutigen dispersen Vorstellungen über Wohn- und Lebensformen. An der Grüngasse sind nun die Wohnungshälften (Hof- und Strassenseite, Morgen- und Abendsonne) absolut gleichwertig. Räumliche Unterteilungen werden durch verschiebbare Schrankelemente realisiert. So sind unterschiedlichste Wohnformen denkbar – ohne hohe Kosten für individuelle, massgeschneiderte Grundrisse.
Andreas Hofer: Könnte man also sagen, das Gemeinschaftliche hat seinen Ort entweder in der Grossform oder dann im Quartier, während auf der Ebene der Wohnung eine extreme Individualisierung und Flexibilisierung stattfindet?
Andreas Zimmermann: Ja, das ist möglich. Die Wohnungen im Triemli haben wir in der Tat stark definiert. Dort wäre Identität durch die spezifische Wohnung und die Teilnahme am Kollektiv entstanden. An der Grüngasse entsteht das Gemeinschaftliche anders: In der Wogeno bilden die Bewohner Hausvereine und verwalten ihre Häuser zusammen. Identität entsteht hier durch die individuelle Anpassung und Nutzung einer sehr unspezifischen Wohnung.
Andreas Hofer: Urs Primas, Sie haben mit dem «Ringling»3 mit Franziska Schneider und Jens Studer eine Grossform in Planung: einen übergrossen Wohnhof mit vielfältiger EG-Nutzung im Quartier Rütihof am Stadtrand von Zürich. Waren Überlegungen zu gemeinschaftlichen Bedürfnissen prägend?
Urs Primas: Es gibt im Ringling mehrere Ebenen von Gemeinschaftlichkeit. Es sind drei Bauträger. Wir schlugen jedoch ein einziges grosses Haus vor, um deren Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen und um das Potenzial dieser koordinierten Initiative ganz auszuschöpfen. Das Quartier Rütihof ist im Lauf von 30 Jahren gewachsen und hat dabei unterschiedliche Gebäudeformen, Aussenräume und Arten von Gemeinschaftlichkeit entwickelt. Wir wollen dem eine neue Ebene hinzufügen. Unsere Grossform stellt deshalb dem dichter werdenden Quartier den Park im Innenraum zur Verfügung.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro war an der Entwicklung der Genossenschaft Dreieck4 in Aussersihl beteiligt. Charakteristisch ist hier die Weiterentwicklung einer bestehenden Gebäudestruktur. Hängen die gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensformen im Dreieck damit zusammen?
Priska Ammann: Ja, sehr stark. Denn die Ausgangslage zur Gründung und Entwicklung der Genossenschaft war nicht primär eine Wohnideologie, die Leute wollten einfach dort bleiben. Deshalb gibt es im Dreieck eine soziale Durchmischung, die neue Siedlungen nur mit Mühe erreichen: Ausländer, Junge und Alte, Intellektuelle und Arbeiter waren schon da. Es gelang, die Leute zu halten. Aus ihrer Verwurzelung im Quartier und ihrer gemeinschaftlichen Erfahrung kommt auch die Ausstrahlung des Dreiecks: Es expandiert über die Strasse, und jetzt entsteht mit der Genossenschaft Kalkbreite5 gerade eine Art Ableger ein paar hundert Meter weiter entfernt.
Die Häuser aus dem 19. Jahrhundert mit ihren Ladenlokalen und neutralen Zimmern eignen sich gut für heutiges Wohnen, wir mussten nur Bäder einbauen. Die beiden Neubauten erweitern den Wohnungsspiegel, der eine mit Gross-, der andere mit Kleinwohnungen. Zur Förderung von sozialen Kontakten ist unser Neubau über Laubengänge am gemeinsam genutzten Hof erschlossen. Das kann allerdings heikel sein! Wenn alle Leute über einen Gemeinschaftshof gehen müssen, wie in Andreas Zimmermanns «Familistère», kann das auch zu viel sein. Es sollte keinen Zwang zu Gemeinschaft geben. In unserem Neubau kann man auch ungesehen den Lift nehmen.
Andreas Hofer: Stephan Gantenbein, Sie haben vor zehn Jahren ein Bürohaus in der Nähe des Albisriederplatzes in den Grosshaushalt «Karthago»6 mit über 50 Leuten und Gemeinschaftsküche umgebaut. Ist hier der Architekt der Handwerker eines sozialen Experiments?
Stephan Gantenbein: Das finde ich schön gesagt. Ja, wir waren Handwerker für Auftrag­geber, von denen einige aus der Hausbesetzerszene am Stauffacher kamen. Sie hatten eine unheimlich starke Vision von einem gemeinschaftlichen Wohnen in Bolo’ Bolos7, Hausgevierten in der Stadt mit begrünten Dächern, eigener Energieerzeugung und Beziehungen zu biologischem Landbau ausserhalb der Stadt. Annette Spiro und ich mussten uns da einarbeiten, eine sehr schöne Erfahrung. Das Gebäude war dann ein sehr normales Bürohaus mit Warenlift und Rasterfassade. Es liegt aber in einem attraktiven Quartier. Das ist wichtig! Bei Projekten, die etwas Neues versuchen, hilft eine Lage in der funktional dichten Kernstadt.
Ein zweites Thema begann mich damals zu interessieren: Nach dem Hauskauf war das Umbauprojekt noch nicht bereit und das Geld knapp. Deshalb wurde für ein Jahr eine Zwischennutzung eingerichtet. Es entwickelte sich ein buntes Leben im Haus, mit Kultur­betrieben, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Für uns Architekten war es schwierig, als sich dann bei der Projektierung herausstellte, dass hinter jedem Fenster ein vermietbares Zimmer liegen musste, damit es finanziell aufging. Während der Zwischennutzung war dank den billigen Mieten mehr Vielfalt möglich. Seither frage ich mich: Könnte man nicht generell Liegenschaften gegen Ende ihrer Lebenserwartung für zehn Jahre einer Zwischennutzung überlassen? Die Miete ist günstig, man kann selber umbauen; das macht Experimente möglich, bevor das Baugesetz, Umwelt- und feuerpolizeiliche Auflagen hohe Investitionen und Mieten verursachen.
Barbara Buser: Das frage ich mich oft. In einem Provisorium finden alle unkonventionelle Lösungen toll – die Füsschen-Badewanne mit Kerzenbeleuchtung in altem Gemäuer! Doch sobald die Leute Eigentümer werden oder das Haus eine definitive Trägerschaft erhält, steigen die Ansprüche, und man muss eine 08/15-Renovation machen mit den üblichen Bädern, Küchen usw. Wieso?
Stephan Gantenbein: Im Karthago wurde immerhin der Grosshaushalt verwirklicht. Ein Wohngemeinschaftenhaus für heute 55 BewohnerInnen mit einer gemeinsamen Gross­küche, ein Unikat für Zürich. Es sind gescheite Leute, die wissen, dass so ein Experiment auch über den Magen funktioniert, und sie achten sehr darauf, gute KöchInnen anzustellen.
Andreas Zimmermann: Und in den Wohnungen gibt es keine Küchen?
Andreas Hofer: Doch.
Andreas Zimmermann: Das ist ein wichtiger Punkt: Wenn das Kollektiv ein Zwang ist, wird es offenbar schwierig. Dass ein Koch angestellt ist und man nicht selber im Turnus kochen muss, hilft sicher. Aber manchmal möchte man vielleicht allein oder im privaten Rahmen essen. Es geht also um das Verhältnis von kollektiv und privat, Zwang und Freiwilligkeit.
Stephan Gantenbein: Ich weiss nicht mehr, wer entschied, einen Steigstrang und Tee­küchen einzubauen. Einige der Wohngruppen haben ihre Küche mittlerweile ausgebaut, vor allem für das Wochenende, wenn der Koch frei hat.

Andreas Hofer: Stephan Gantenbein betont, wie wesentlich eine starke tragende Utopie und die zentrale städtische Lage für den Erfolg von «Karthago» waren. Nun gibt es aber in jüngster Zeit Beispiele von professionellen Immobilienfirmen, die ein Projekt an einem schwierigen Standort mit Dienstleistungen und einer Art synthetischer Ideologie aufzuwerten versuchen, was durchaus Wurzeln in wohnutopischen Bewegungen hat. Das bekannteste ist «James»8, eine von Immobilienfonds der UBS finanzierte Wohnsiedlung in Zürich Albisrieden mit 180 Wohnungen. In der Portierloge bietet eine Firma als «James» Dienstleistungen für die Mieter an. Michael Geschwentner, Sie waren Projektleiter von «James» im Büro Patrick Gmür. Hat sich dieses Konzept auf die Architektur ausgewirkt?
Michael Geschwentner: Das «James»-Konzept kam erst nach dem Architekturwettbewerb hinzu. Es stammt aus einem zweiten Wettbewerb für die Vermarktungsstrategie. Es war interessant zu sehen, was die Marketingfirmen in ihrem Wettbewerb in unser Projekt hineinlasen. Wir hatten im Hochhaus eine Portierloge eingezeichnet, als Sinnbild für ein urbanes Wohnen im Geiste bekannter Vorbilder, etwa in London, wo der Portier kein Luxus, sondern eine wichtige soziale Institution ist. Wir hatten gemerkt, dass das Wohnhochhaus Bilder von Anonymisierung und Vereinsamung auslöste. Ein Portier wirkt da natürlich dagegen. Wir strebten auch bewusst eine Klientel an, die keine Angst vor Vereinsamung hat: moderne urbane Nomaden. Das «James»-Konzept stiess dann auf enormes Interesse. Wir haben dafür das EG angepasst; sonst bildet die Architektur das Konzept nicht speziell ab.
Andreas Hofer: Konsumieren denn die Mieter lediglich den angebotenen Service, oder lösst «James» auch soziale Interaktionen aus?
Michael Geschwentner: Ich wohne selber im «James». Es ist schon ein Pioniergeist spürbar. Ich bin nicht sicher, ob die Portierloge ein Treffpunkt wird, es ist keine Hotel-Lobby,
sicher aber ein Ort für informelle Begegnungen. Aber es gibt noch das Intranet mit einem ­Tablet-PC in jeder Wohnung zur Kommunikation mit den anderen Mietern. Einige haben damit bereits das ganze Hochhaus zum Apéro eingeladen, und etwa ein Drittel ist gekommen.
Andreas Zimmermann: Das könnte ein grosses Potenzial haben: ein breit akzeptiertes Medium, das niederschwellig und relativ unverbindlich die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme bietet – aber eben freiwillig und nicht als Zwang.
Stephan Gantenbein: «James» ist ja irgendwo vergleichbar mit «Kraftwerk1»9, sicher vom Volumen her. Andreas Hofer, Sie kennen «Kraftwerk1» ja gut. Wo sehen Sie den Unterschied?
Andreas Hofer: Man könnte sagen, «James» ist das «Kraftwerk1» der UBS. Was bei «Kraftwerk1» mit viel Engagement und Freiwilligenarbeit passiert, ist bei «James» ein kommer­zielles Vermietungskonzept mit Abrechnung und Löhnen. Hier zeigt sich, wie ehemals verrückte Wohnutopien normal geworden sind: Zu «Karthago» musste sich 1993 ganz Zürich in einer Volksabstimmung äussern, weil gegen einen städtischen Baurechtsvertrag ein Referendum ergriffen wurde, heute erschrecken diese Ideen niemanden mehr, im Gegenteil.
Priska Ammann: Wesentlich finde ich die Frage, ob solche Modelle mit der Zeit auf ihre Umgebung ausstrahlen oder ob sie isoliert bleiben.
Michael Geschwentner: So viel ich weiss, gibt es Überlegungen, die Dienste von «James» auch für andere Siedlungen im Quartier anzubieten.
Stephan Gantenbein: Einen Gewinn sehe ich darin, wenn Projekte wie «James» Leute in die Stadt ziehen und damit die Zersiedelung der Landschaft bremsen. Erhöhte Attraktivität städtischer Angebote scheint mir hier der einzige Erfolg versprechende Weg.

Dieter Bachmann: Die UBS und eine junge Genossenschaft stossen also in eine ähnliche Richtung. Hingegen dünkt mich, dass sich die traditionellen Genossenschaften sehr schwer tun mit Neuerungen. Sie merken zwar, dass sie alte Gewohnheiten ablegen sollten, aber es fehlt ihnen der Mut, wirklich Stellung zu gesellschaftlichen Neuerungen zu nehmen. Am Ende bauen sie einfach etwas bessere Wohnungen, als sie schon haben.
Andreas Zimmermann: Das ist doch der Punkt, wo die grossen alten Baugenossenschaften ihre Stärken ausspielen könnten! In ihrer Grösse und ihren finanziellen Möglichkeiten liegt ein riesiges Potenzial. Als sie ihre Siedlungen bauten, galt es primär, im Kampf gegen die Wohnungsnot viele einfache und günstige Wohnungen zu erstellen. Dieser Gedanke ist noch zu fest verankert. Wenn die Genossenschaften in einem Quartier stärker zusammenarbeiten würden, so wie es Mischa Badertscher Architekten im Wettbewerb «100 Jahre mehr als Wohnen» vorschlagen10, könnten sie gemeinsam Dienstleistungen und Gelegenheiten zu sozialer Interaktion anbieten, die ohne Zwang funktionieren – ganz einfach, weil die Nachfrage im Quartier gross genug ist. So wie der «James»-Service jetzt eine Ausdehnung auf das Quartier in Betracht zieht, aber auch weiter gehend . . .
Dieter Bachmann: . . . mit Implantaten. Soziale Funktionen, beispielsweise Turnhallen, in Quartiere mit sozialen Defiziten zu implantieren und so Treffpunkte zu schaffen ist ein Trick mit phantastischen Möglichkeiten.
Micheal Geschwentner: Ich finde den Ansatz gut, mehr über Nutzungen zu reden . . .
Urs Primas: . . . und über Dichte. Genossenschaften wollten einst eine Alternative zur dichten, steinernen Stadt bieten und halten noch heute an tiefer Dichte als Qualität fest. Doch tiefe und mittlere Dichten erzeugen in einem Quartier nicht genug Nachfrage, um Servicefunktionen wirtschaftlich betreiben zu können. Die ganz niedere Dichte wird für das Wohnen immer attraktiv sein, aber auch hohe Dichten könnten mit Modellen wie «James» eine Chance für Nutzungsüberlagerungen bieten und so Quartiere beleben. Beim Wettbewerb für die städtische Wohnsiedlung Werdwies stellten unsere Kollegen vom Büro Undend die vorgegebene mittlere Schweizer Ausnützung von vielleicht 1.3 mit einer hongkongesken architektonischen Gestalt in Frage. Wir schlugen dort mit dem Beitrag «Boba Fett»11 vor, die Baumasse der ganzen Siedlung in einem einzigen Baukörper zu konzentrieren, nicht zuletzt, um die für ein öffentliches Erdgeschoss notwendige kritische Masse zu erreichen.

Andreas Hofer: Dass aus einer hohen Dichte heraus eine neue Lebensqualität entstehen kann, diese Erfahrung machen wir auch im «Kraftwerk 1». Ein anderes Tabu aus der Geschichte der Genossenschaftsbewegung ist, dass sich Genossenschaften bisher nicht mit der Nutzungsmischung beschäftigt haben und mit dem Verhältnis von Wohnen und Arbeiten, das sich stark verändert. Barbara Buser, Sie entwickeln in Basel mit Ihrer Firma Kantensprung auf Industriebrachen Kultur- und Gewerbezentren wie das Gundeldinger Feld12. Welche Wege habt ihr dafür gefunden? Fördergelder gibt es dafür ja nicht. Und weshalb baut ihr kaum Wohnungen?
Barbara Buser: Das Gundeldinger Quartier ist sehr dicht bewohnt, es gab kaum öffentliche Räume und Treffpunkte. Auf dem Gundeldinger Feld konnten wir für das Quartier eine alte Fabrik in ein Gewerbe- und Kulturzentrum ausbauen. Ich würde noch so gerne dort wohnen! Aber damit das finanzierbar wäre (die Bodenpreise entsprechen der zentralen Lage), müssten wir eine einstöckige Halle durch einen vierstöckigen Wohnbau ersetzen. Nun zeigt aber die Erfahrung in Basel, dass sich Wohnen und Kultur wegen des extremen Ruhebedürfnisses der Bewohner schlicht nicht vertragen. In allen gemischten Umnutzungsprojekten in Basel hat das Wohnen die Kultur verdrängt. Deshalb haben wir entschieden, auf dem Gundeldinger Feld keine Wohnungen zu bauen. Wir verschenken damit 4500 m² Nutzfläche zugunsten des Quartiers: Heute wird das Gundeldinger Feld täglich von 1000 Leuten besucht. Wir haben das ohne Subventionen zustande gebracht. Das
Finanzierungsmodell funktioniert so: Die Investorengemeinschaft besteht aus drei Privaten und drei Pensionskassen und ist keineswegs gemeinnützig. Sie hat das Gelände gekauft und erwartet die übliche Rendite von 5 %. Hingegen verzichten wir als Baurechtnehmer auf einen Gewinn. Dadurch können wir zahlbare Mieten verlangen und schrittweise die heutigen Energievorschriften umzusetzen. Wenn man eine Form findet, mit der man auf ein paar Prozent Gewinn verzichten kann, ist Vieles plötzlich möglich.
Andreas Hofer: Sie garantieren also einem Investor eine Rendite, entwickeln die Idee zur Umnutzung und übernehmen als Architekturbüro den Umbau. Ist dieser Weg, Kapital der Pensionskassen für alternative Stadtentwicklungsprojekte zu mobilisieren, ein generell anwendbares Modell, wenn man versuchen möchte, den Siedlungsbau nicht mehr nur vom Wohnen, sondern von der Quartierentwicklung und einer stärkeren Durchmischung der Funktionen her zu denken?
Barbara Buser: Davon bin ich überzeugt. Auch langfristig. Denn es geht auch darum, das Grundeigentum zu neutralisieren, um sinnvolle oder gemeinnützige Funktionen langfristig zu sichern. In Arlesheim hat die Stiftung Edith Maryon die ehemaligen Produktionsgebäude der Weleda gekauft, und wir haben sie umgenutzt13. Jetzt zahlen dort 20 Mieter eine recht hohe Miete, denn Arlesheim ist sehr beliebt, da steuergünstig. Ein Drittel der Miete wird in einen Fonds eingezahlt, der dazu dient, den Boden abzuschreiben. In 30 Jahren sollte er abbezahlt sein – dann halbieren sich die Mieten, und die jetzige Baurechtnehmerin, die benachbarte gemeinnützige Ita Wegman Klinik, wird sehr günstig ihre Tätigkeit ausweiten können. Die jetzigen Mieter helfen also, den Bodenpreis zu amortisieren, den Grundbesitz zu neutralisieren. Dieser Weg ist aber nur auf sehr günstigen Arealen möglich, meist grossen, die schnell verkauft werden müssen oder heruntergekommen sind, auf denen aber über eine Zwischennutzung sofort eine Miete realisiert werden kann, ohne dass zuerst Planungskosten, Leerstände und Investitionen anfallen.

Andreas Hofer: Sie sind als Architektin Unternehmerin geworden. Muss man wählen zwischen Architektur und Unternehmertum? Oder eröffnet die unternehmerische Projekt­entwicklung auch Architekturbüros neue Möglichkeiten?
Barbara Buser: Die enge Zusammenarbeit von Development und Architektur ist ganz zentral. Denn all diese Projekte brauchen eine feinfühlige und bescheidene bauliche Umsetzung unter weitgehender Wiederverwendung des Bestehenden. Wir haben gemerkt, dass wir diese Arbeit eigentlich nicht vergeben können, weil andere Büros einfach zu teuer planen. Unterdessen sind wir 18 Leute im Architekturbüro. Wir wollen eigentlich nicht weiterwachsen, aber fast jede Woche kommt ein weiteres Projekt hinzu. Wir haben eine zweite Firma gegründet, die sich vor allem mit Konzeptarbeit und Projektfinanzierung beschäftigt. Aber nach unserer Erfahrung müssen Konzeptarbeit und Architektur möglichst eng gekoppelt sein, um Schnittstellen zu vermeiden, die Kosten verursachen.
Andreas Hofer: Ist unser Berufsstand fit für solche Rollenverschiebungen und unternehmerische Herausforderungen?
Dieter Bachmann: Nein, ich glaube nicht.
Barbara Buser: Ich würde sagen, überhaupt nicht! Das ist auch ein Imageproblem unseres Berufs. Die Bauherren haben Angst vor Architekten, Angst, dass sie Kosten verur­sachen, und setzen dir einen Kostenmanager vor die Nase. Aber die Architekten haben sich das selber eingebrockt, weil sie nicht gesamtheitlich denken und die Life Cicle Costs der Gebäude nicht berücksichtigen.
Priska Ammann: Aber Architektur und die wirtschaftlichen Aspekte des Immobilien-Developments – das sind doch tatsächlich verschiedene Jobs! Sie können das nun verbinden, und das schafft natürlich ganz neue Synergien und ist bewundernswert, aber es ist wohl so selten, weil es sehr schwierig ist. Machen Sie denn selber noch Achitektur?
Urs Primas: Man muss ja Architektur nicht so eng definieren. Wir stellen ja alle auch Überlegungen zu Kosten und Vermietbarkeit an. Kunden trauen uns nur oft nicht zu, dass wir auch gute Ideen zur Immobilienentwicklung haben könnten. Aber es ist ja auch klar, dass wir nicht in Aspruch nehmen dürfen, alles selber zu können.
Barbara Buser: Das muss man ja auch nicht. Aber ich meine, es bräuchte mehr Architekten, die sich in die Immobilienentwicklung einschalten. Auch wenn unsere Ausbildung an der ETH nicht alles bietet, was man dazu braucht.
Urs Primas: Ich sehe schon Anlass zur Selbstkritik: Viele von uns funktionieren über die Wettbewerbe, wo wir vorgegebene Bedingungen akzeptieren und innerhalb dieses Rahmens dann etwas verkrampft Kreativität entwickeln. Diese Beispiele aus Basel zeigen aber, dass auf der Developer-Ebene ein grosses Potenzial für Kreativität liegt.
Michael Geschwentner: Also aktiv werden, statt auf Gelegenheiten warten.
Barbara Buser: Ja, denn als Architekt sollte man das Potenzial von bestehenden Gebäuden und Arealen doch erkennen. Dieses Feld dürfen wir nicht den Ökonomen überlassen!
Dieter Bachmann: Es ist ähnlich wie beim Städtebau. Auch da haben die Architekten eines ihrer ursprünglichen Kerngebiete immer mehr abgegeben und müssen es sich jetzt zurückerobern. Einst haben Architekten sich doch viel mehr um die ganze Stadt gekümmert. Heute hält man sich am Wettbewerbsperimeter fest und lässt sich so beschneiden. Das ist eigentlich falsch.

Andreas Hofer: Wir reden aus gegebenem Anlass über die Stadt, unsere Projekte stehen meist in der Stadt, und es wurde gesagt, ein zentraler Standort sei wichtig für neue Ideen. Nun hat aber die Schweiz mit der ungebremsten Zersiedelung und dem daraus resultierenden Verkehr ein Nachhaltigkeitsproblem. Haben wir auch Ideen für ausserhalb der Stadt?
Urs Primas: Ich erwarte, dass die Mobilität weiter zunimmt und nur über neue Verkehrsmittel nachhaltiger gestaltet werden kann. Denn die Entwicklung des Individualismus, die Ruedi Weidmann in seinem Artikel sehr schön beschrieben hat, wird weitergehen und weitere Länder einbeziehen; die Mobilität gehört dazu. Ich glaube deshalb nicht – und das wäre eine Kritik an diesem Text –, dass verdichtete und multifunktionale Siedlungen in der Stadt wesentlich zur Verkehrsverminderung beitragen können. Sie sind aber in anderen Bereichen nachhaltig.
Barbara Buser: «James» versucht doch, die Dienstleistungen einer Kernstadtumgebung auch weiter draussen anzubieten. Das finde ich richtig. «Kraftwerk1» geht auch in diese Richtung, nur basierend auf viel freiwilliger Arbeit. Für diese Orte oder noch weiter draussen, wo das Leben heute nur mit dem Auto funktioniert, muss man etwas erfinden.
Andreas Hofer: Priska Ammann, Ihr Büro baut in München Riem an einem neuen Quartier14 in einer Vorstadtsituation mit. Versucht man dort, urbane Qualitäten zu erreichen?
Priska Ammann: Wir haben das in der Stadtplanung und in einem Bauprojekt versucht. In der Stadtplanung hat unser Team ein differenziertes System von öffentlichen Plätzen, halböffentlichen Höfen und grünen Ruheräumen geschaffen. Die Wohnungseingänge liegen an der Strasse oder in halböffentlichen Höfen. U-Bahn-Ausgänge, Läden und öffentliche Bauten sind strategisch positioniert, um den öffentlichen Raum zu aktivieren. Das Baurecht schliesst an Strassenkreuzungen im Erdgeschoss Wohnungen aus. Im Quartier entstehen nun Läden, Cafés und publikumsorientierte Büros. Wir glauben, dass wir damit eine Basis für ein lebendiges Quartier gelegt haben.
Beim Bauprojekt, das wir dort bearbeiten, handelt es sich um Häuser von Einzelbauherrschaften, die sich in eine Baugemeinschaft zusammengetan haben, um eine Wohnüberbauung im Gemeinschaftseigentum zu erstellen (eine Alternative zum Stockwerkeigentum und zur Genossenschaft). So entsteht schon während der Planung eine Bewohnerschaft mit sozialem Zusammenhalt. In diesem Projekt ist es allerdings nicht gelungen, Läden ins Erdgeschoss zu bringen, weil sie nicht verkauft werden können. Stattdessen entsteht nun ein Gemeinschaftsraum, der so gebaut wird, dass er als Laden eingerichtet werden kann.

Andreas Hofer: Bauen für die Menschen von heute heisst also: möglichst wenig Zwang, dafür möglichst viele Möglichkeiten. An peripheren Langen könnte ein neues Gebäude die dazu nötige Dichte sowie Dienstleistungen selber mitbringen. Und im dichten städtischen Kontext? Muss sich hier die Architektur gar nicht unbedingt um Gemeinschaftlichkeit kümmern, hingegen mit einem vielfältigen Wohnungs- und Nutzungsmix dazu beitragen, dass sozial nachhaltiges Leben auf der Quartierebene stattfinden kann?
Stephan Gantenbein: Die Ebenen Haus und Stadt hängen unmittelbar zusammen. In Neu-Oerlikon etwa sind teilweise Überbauungen entstanden, die sich zu stark an den Siedlungsformen der früheren Stadterweiterungen orientieren, mit ausschliesslich Wohnungen auf dem Erdgeschoss, was natürlich wenig zu einer belebten Strasse beiträgt.
Dieter Bachmann: Wir erleben jetzt gerade, dass im Neubauquartier Aspholz / Ruggächer15 in Zürich Affoltern der gleiche Fehler wieder gemacht wird. Bei den privaten In­vestoren fehlt das Bewusstsein für diese Fragen. Sie wollen Wohnnutzung bis ins Erdgeschoss und mögen Alternativen nicht einmal prüfen. Das ist enttäuschend.
Ich sehe, dass es zwar einzelne Visionen gibt wie «James» oder «Kraftwerk1», aber in übergeordneten stadtplanerischen Überlegungen werden solche Anstösse kaum aufgenommen. Fragen wie «Wie sind die Funktionen verteilt und vernetzt?», «Wo sollen öffentliche Plätze und Funktionen sein?» werden kaum gestellt. Hier besteht enormer Nachholbedarf.
Urs Primas: Es ist ja begreiflich, dass niemand eine Pizzeria eröffnen will in einem Quartier, in dem noch kaum Leute wohnen. Aber müsste man nicht für eine längere Perspektive planen? Brauchte es nicht strukturelle, architektonische und Vermietungskonzepte, die sich der Entwicklung der Stadt anpassen könnten?
Dieter Bachmann: Ja genau. Beispielsweise baut man heute Schulen, die ein pädagogisches Konzept wunderbar umsetzen. Aber was macht man damit, wenn sie zu gross werden? Man könnte ja auch nutzungsneutrale Gebäude entwerfen, die als Schul- oder Wohn- oder Geschäftshaus funktionieren. Solche Überlegungen sollten für die Stadtplanung selbstverständlich werden. Sie könnte etwa festlegen, dass in einem Quartier alle Erd­geschosse drei Meter hoch sein müssen, dann wird man sie immer für alles brauchen können. Solche Gedanken und Visionen fehlen mir.

[ Aufzeichnung: Ruedi Weidmann, weidmann@tec21.ch ]
Gesprächspartner:

Andreas Hofer (Gesprächsleitung), Arch.ETH
im Vorstand der Sektion Zürich des Schweizerischen Verbands für Wohnungswesen, Projektleiter 100 Jahre gemeinnütziger Wohnungsbau in Zürich, Mitgründer der Genossenschaft Kraftwerk1, Zürich

Priska Ammann, Arch. ETH/SIA
Partnerin des Architekturbüros Ammann Albers StadtWerke, Zürich

Dieter Bachmann, Arch. HTL / BSA
Partner von pool Architekten, Zürich

Barbara Buser, Arch. ETH
Verwaltungsratspräsidentin Kantensprung AG, Basel

Stephan Gantenbein, Arch. ETH/SIA,
Partner des Architekturbüros Spiro + Gantenbein, Zürich

Michael Geschwentner, Arch. ETH,
Partner im Büro Patrick Gmür, Zürich

Urs Primas, Arch. ET H/SIA, Zürich

Andreas Zimmermann, Arch. ETH, Zürich


Anmerkungen:
1 Tec21 Nr. 22/2007, S. 6–7.
2 Tec21 Nr. 37/2006, S. 22–23.
3 www.bg-sonnengarten.ch/pdfs/ProjektdokumentationGruenwald.pdf | Tec21 Nr. 20/2005, S.22.
4 www.dasdreieck.ch | Tec21 Nr. 6/2006, S. 11–14.
5 www.kalkbreite.net.
6 www.karthago.ch.
7 P.M.: Bolo‘bolo, Paranoya City Verlag, Zürich 1995.
8 www.patrickgmuer.ch | www.james.ch.
9 www.kraftwerk1.ch | Tec21 Nr. 42/2001.
10 www.mehr-als-wohnen.ch | www.mbarchitekten.ch | Tec21 Nr. 33-34/2007, S. 10.
11 www.urbjects.net/pdf/2_buildings/boba_fett.pdf.
12 www.gundeldingerfeld.ch | Tec21 Nr. 3-4/2005.
13 www.stiftung-edith-maryon.ch/de/projekte/c5_arealweleda.html.
14 www.stadtwerke.ch | www.messestadt-riem.com.
15 www.poolarch.ch/site/php/projDetail.php?id=10.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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