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TEC21 2007|49-50
90 Km Bahnkultur
TEC21 2007|49-50
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Sehen und beschreiben

10. Dezember 2007 - Walter Zschokke
Im Urner Reusstal und in der Leventina haben Bahn- und Strassenbau die Topografie und die Kultur neu modelliert. Doch woraus besteht die Verkehrskulturlandschaft, und was haben die Einzelteile miteinander zu tun? Viele Teile sind unsichtbar geworden, überwachsen, vergessen oder selbstverständlich. Sie müssen entdeckt und in Sprache gefasst werden, damit sie wieder sichtbar werden. Der Autor dieses Artikels wurde von den SBB mit dieser Aufgabe betraut. Er sucht nach Methoden und Worten.

Die hochgradig technisch geprägte Kulturlandschaft im Urner Reusstal und, in etwas geringerem Mass, in der Leventina ist Zeugnis einer schrittweisen und in vielem pragmatischen Entwicklung – pragmatisch im durchaus positiven Sinn des in der jeweiligen Epoche sowohl technisch als auch ökonomisch gerade noch Machbaren. Nicht einzelne Sensationen, sondern die Gesamtleistung von Generationen bildet daher mehr und mehr den Anlass für die Faszination, die in den vergangenen Jahren mit der zunehmenden zeitlichen Distanz breitere Kreise erfasst hat.

Seitens der SBB ist man sich dieses Phänomens schon seit einiger Zeit bewusst. Dies führte zur Erarbeitung eines Inventars der Hochbauten an der Bergstrecke zwischen Erstfeld und Biasca, das mit wissenschaftlicher Detailschärfe den über die Jahre angewachsenen, veränderten und oft erneuerten Bestand auflistet und eingehend beschreibt. Doch in den beiden Bergtälern verläuft nicht nur eine doppelspurige Eisenbahnlinie der Nord–süd-Transversale, sondern es liegen darin auch die parallelen und teilweise überlagerten Systeme des Individualverkehrs: Saumpfad, Fahrstrasse, Autobahn, weiter die Anlagen für Produktion und Transport von Strom sowie mannigfaltige Schutzmassnahmen gegen Wildbäche, Lawinen, Steinschlag und Murabgänge (Rüfen), dazu militärische Anlagen zur Kontrolle des von der Bahn geschaffenen Korridors durch die Alpen. Sie alle sind eingebettet in eine von Fluss und Gletscher geformte alpine Topografie, die eine Folge von Landschaftsräumen unterschiedlichen Charakters aufweist.

In der Summe ist das sehr viel, und doch wird eine Fahrt über die Gotthard-Bergstrecke als ein grosses, nichtsdestotrotz stark komprimiertes Gesamtereignis wahrgenommen. Es war daher die Absicht der Verantwortlichen des Inventars, Toni Häfliger und Karl Holenstein, eine Zusammenschau anzustreben, die Bahnstrecke als Teil dieser technischen Landschaft zu betrachten und die Interdependenzen mit den anderen Systemen der technischen Infrastruktur als zusätzliche Faktoren der Sinnstiftung mit einzubeziehen.

Dem mit dieser Aufgabe betrauten Schreibenden stellte sich bald die Frage, ob die Wahrnehmung aus dem bewegten Eisenbahnzug dafür überhaupt geeignet ist. Der schräg nach vorn oder nach hinten zielende Blick aus dem Wagenfenster vermag näher Liegendes kaum zu erfassen, und schon ist es wieder verschwunden. Nur was etwas weiter entfernt ist, kann länger fixiert und somit «erkannt» werden. Eine Führerstandsfahrt bietet den von der Autofahrt bekannten frontalen Ausblick, der wesentlich ruhiger ist, weil man weiter vorausschauen und weniger auffällige Elemente der Bahninfrastruktur in Geleisenähe besser erkennen kann. Längeres Betrachten geht jedoch nicht, da sind selbst die 70 km/h, mit denen eine Güterzuglokomotive die Steigung bewältigt, viel zu schnell. Dazu kommt, dass ein nicht geringer Teil der Fahrt in kürzeren und längeren Tunneln verläuft, sodass dem Kontinuum der Bewegung ein stark fragmentierter Eindruck entgegensteht. Obwohl die Sicht aus dem fahrenden Zug hinaus ein wesentlicher Aspekt der «Erfahrung» und daher unabdingbar bleibt, kann sie keinesfalls genügen. Es ist daher zwingend, sich eine Aussensicht zu erarbeiten, die eine Gesamtvorstellung der durchfahrenen Landschaftsräume anstrebt. Dieser Versuch wird vom Überblick zum Einzelobjekt führen, doch er wird manche Lücken bewusst stehen lassen müssen, denn bis in alle Details vordringen zu wollen wäre vermessen. Dennoch ist der grosse Rahmen für das Gesamt- wie das Teilverständnis wesentlich.

Das ideale Vorgehen ist daher die immer wiederkehrende Annäherung an die Bahnlinie zu Fuss, unterstützt durch ein Fahrzeug. Damit wird die Kantonsstrasse zur Basislinie der Landschaftswahrnehmung, von der aus in intensiven Begehungen immer wieder die Nähe zur Bahntrasse gesucht wird, um die einzelnen Elemente in der Vorstellung zu einem Gesamteindruck zu verdichten. Selbstverständlich sind dabei Strässchen und Wege eine willkommene Hilfe, denn Wege entlang der Bahnlinie finden sich nur auf kurzen Teilstrecken. So präzisiert sich die etappenweise gewonnene Vorstellung mehr und mehr, und Zusammenhänge werden ersichtlich, die sich einem aus dem fahrenden Zug heraus nie erschlossen hätten. Eine unschätzbare Hilfe bildet zudem das in der Schweiz vorhandene ausgezeichnete Kartenwerk im Massstab 1 : 25000.

Die Dichte der technischen Infrastruktur im Tal bringt es mit sich, dass plötzlich gar vieles interessant wird. Vor allem wenn es zu Annäherungen, Kreuzungen, Überlagerungen und Engstellen der Systeme kommt, wenn sich die Bauwerke von nahe besehen und sogar anfassen lassen, wenn eine Brücke, über die sonst nur die Züge fahren dürfen, dem Fussgänger ebenfalls die Überwindung des topografischen Hindernisses zugesteht. Diese Begegnung zweier Massstäbe im doppelten Sinn – mächtiges Bauwerk–Mensch und Schritttempo–Eisenbahntempo – birgt einen hohen Erlebniswert, der nicht unterschätzt werden soll. Sigfried Giedion weist in «Bauen in Frankreich» (1928) auf dieses besondere, gleichsam überwältigende Gefühl hin: «In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stösst man auf das ästhetische Grunderlebnis des heutigen Bauens.» Auf dem Fussweg zwischen den Stahlkastenträgern der Reussbrücke bei Intschi, wo als Lichtquelle und Gehfläche nur die Gitterroste unter den Füssen dienen, packt einen hoch über den Strudeln der Reuss dieses Gefühl ebenso heftig. Und wenn dann noch ein Zug über die Brücke rollt und die Topflager ächzen, kann es Manchen sogar zu viel werden. Eine Achterbahn ist da weniger elementar. Es sind diese Nebenerträge der Primärleistung von Kunstbauten, die den neuartigen Erlebniswert für Wandernde enorm steigern. Nach einer solchen Begehung mit Direktkontakt befährt man die Strecke mit ganz anderen Augen.

Eine derartige Annäherung wird erst möglich, wenn die Hemmschwellen, die infolge einer massiven Veränderung des gewohnten Landschaftsbildes in den Köpfen entstanden sind, durch Gewöhnung abgebaut oder niedriger werden, wenn – oft nach Jahrzehnten – die Historisierung eintritt und die Werke der Ingenieure gleichsam zu Topografie geworden sind, einer von Menschen gemachten Topografie notabene, in der wir desto mehr zu sehen und zu erkennen vermögen, je mehr wir technik-, kultur- und sozialgeschichtlich darüber wissen. Das heisst nun nicht, dass die Strecke mit erläuternden Tafeln gespickt sein muss. Denn zuvorderst steht das spontane Schauen, das niemandem genommen werden soll. Daraus ergeben sich Fragen. Ein handlicher Führer oder gar nur ein Faltblatt dürfte genügen, denn individuelle Entdeckerfreude und Erkenntnisvermehrung sollen nicht durch pädagogistische Erläuterungen geschmälert werden; man kann eine Sache auch zu Tode vermitteln. Am stärksten sind diese Werke, wenn Stein, Stahl und Beton sowie Dimensio­nen und Leistung unmittelbar wirken.

Das heisst dennoch nicht, dass die neu gewonnene Sicht auf die technische Kulturlandschaft nicht in ein anderes Medium, sei dies Fotografie oder wie bei der vorliegenden Aufgabe Sprache, gefasst werden darf. Abschliessend und vollumfänglich wird dies sowieso nicht gelingen, aber die beschreibende, interpretierende Annäherung ist jedenfalls erlaubt. Daraus ergeben sich – in anderen Medien – eigenständige Werke, die mit dem Objekt der Betrachtung in mehrfacher Beziehung stehen.

Für eine textliche Annäherung werden die Strukturierung in Systeme und Elemente, eine Gliederung in Abschnitte und Einzelobjekte sowie Überlagerungen und Details nützlich sein, um der Fülle an Material und Eindrücken ordnend beizukommen. Dabei wird unschwer feststellbar, dass hinter jeder Massnahme mehrheitlich rationale, ihrer Zeit entsprechende Überlegungen stehen und auch das Gesamtsystem klare Gesetzmässigkeiten aufweist. Das Verhältnis zur alpinen Landschaft war jedoch eher nüchtern, gleichsam absichtslos. Diese spezifische Absichtslosigkeit, wie sie zur Bauzeit der Gotthardbahn und dann auch wieder von 1950 bis 1980 vorherrschte, bringt nicht selten Neues hervor, das sich erst im Nachhinein als solches erkennen lässt. Sie lässt sich nicht willentlich und künstlich herbeiführen. Wenn wir aber heute diese Infrastrukturbauten analysieren, entfernen wir den Schleier gleicher Gültigkeit und holen die Dinge ins Bewusstsein. Damit eignen wir sie uns neuerlich an und machen sie zu etwas Besonderem, zu Geschichte. Als Fachleute wie als Entscheidungsträger, die darüber Bescheid wissen, sind wir in der Folge für die Integration kommender Veränderungen verantwortlich.

[ Walter Zschokke, Architekt ETH und Autor ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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