Zeitschrift

TEC21 2008|06
Denkmäler sanieren
TEC21 2008|06
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Schwerter und Seile

Der Umbau der Wohnkolonie «Industrie 1» der BEP in Zürich hat die für die Tragkonstruktion zuständigen APT Ingenieure in mehrfacher Hinsicht gefordert: Neue Elemente mussten hinzugefügt und die alte Tragstruktur musste verstärkt werden. Dabei galt es, die bestehende Bausubstanz trotz der nötigen Anpassungen an heutige Sicherheits- und Komfortstandards wenn möglich zu erhalten.

4. Februar 2008 - Andreas Lutz, Peter Osterwalder
Im Wettbewerb bot der Entwurf neben den üblichen Aufgaben – das Ausbrechen, das Verschieben von Wänden oder das Unterfangen des Untergeschosses – vor allem eine grosse Herausforderung: Die Balkone sollten wie Bauchladen ans Gebäude gehängt werden, hätten 4 m ausgekragt und wären mit schrägen Zugstangen nach oben an der nächsten Decke befestigt gewesen. Diese spektakuläre Idee war ein Grund dafür, dass der Entwurf als Sieger aus dem Wettbewerb hervorging. In der Planungsphase stellte sich jedoch heraus, dass der Vorschlag zu kühn war. Zum einen würden sich die Bewohnerinnen und Bewohner auf diesen weit auskragenden Balkonen zu exponiert und auch zu unsicher fühlen, zum anderen wären für die Befestigung aufwändige Verankerungen und Abspannungen im Gebäude erforderlich gewesen. Daher wurden die Balkone parallel zum Gebäude ausgerichtet und stärker der jeweiligen Wohnung zugeordnet (vgl. vorangehenden Artikel).

Trotz dieser Anpassung erfüllt diese Lösung nach wie vor eine Vielfalt von Anliegen: Die Balkone erzielen eine kontrastierende, spielerische Modulation der bisher eher spröden und rigiden Fassade, ihr Nutzwert ist hoch, und die Eingriffe in die historische Substanz beschränken sich auf ein Minimum. Eine zentrale Stütze und je asymmetrisch auskragende Bereiche sorgen für einen prägnanten Ausdruck. Die Balkontürme, die entfernt an Katzenbäume erinnern mögen, stehen als eigenständige Bauwerke vor den Häusern und berühren diese nur im Bereich der Tür. Man tritt über einen feinen Spalt ins Freie und auf den Balkon hinaus (vgl. auch inneres Titelbild).

Verstärkung der Wohnungsdecken

In der Wettbewerbsphase ging man davon aus, dass es in den Wohnungen Holzbalkendecken gebe. Sondierungen während der frühen Planungsphase zeigten aber, dass die Decken bis ins dritte Obergeschoss aus Hourdiselementen bestanden. Detaillierte Untersuchungen am Bauwerk ergaben ausserdem, dass die Bewehrung über der Mittelwand – die Hourdisdecken waren als Zweifeldträger ausgebildet – so schlecht eingelegt war, dass sie nicht oben in der Zugzone, sondern ca. in Trägermitte im Nulllinienbereich zu fi nden war. Als Durchlaufträger konnten die Hourdisträger somit nicht gerechnet werden. Dies führte zu einem Problem, denn um einen besseren Schallschutz der Wohnungen zu erreichen, sollten die Decken mit einem stärkeren und dementsprechend schwereren Unterlagsboden versehen werden. Nachrechnungen zeigten rasch, dass die Tragfähigkeit der Decke mit den vorhandenen Mängeln und den zusätzlichen Lasten nicht mehr gegeben war. Daraufhin wurden verschiedene Vorschläge zur Verbesserung der Tragfähigkeit ausgearbeitet. Ein Ansatz sah den Einbau eines Trägerrostes vor. Betonstreifen parallel zu den Hourdisträgern und eine Querrippe in Ortbeton in Feldmitte hätten die Beanspruchung der Hourdisrippen auf ein Niveau reduziert, das ihrer Tragfähigkeit entsprochen hätte. Die Verstärkung sollte in Deckenebene erfolgen, um keine Raumhöhe zu verlieren. Die Lösung wäre einfach und auch relativ kostengünstig auszuführen gewesen. Die Denkmalpfl ege war mit diesem Vorschlag jedoch nicht einverstanden: Es würde dabei zu viel der alten Deckensubstanz ersetzt bzw. zerstört. Auch die Architekten lehnten die Trägerrostlösung ab, da sie die historische Raumstruktur verunklärt und als Tragwerksteil im historischen Massivbau einen Fremdkörper dargestellt hätte.

Aus diesen Gründen wurde eine Verstärkung gesucht, die die Decke weitgehend bestehen liess. Die gefundene Lösung mit einer geklebten Bewehrung, welche die Durchlaufwirkung des Zweifeldträgers wiederherstellen sollte, erfüllte die Wünsche der Denkmalpfl ege. Sie barg aber einige statische Knacknüsse: Würden die Lamellen auf dem bestehenden, kaum vibrierten Überbeton der Hourdisdecke genügend haften? Wie sollten die vielen Aussparungen am Fuss der Mittelwand, die für die Durchführung der Lamellen erforderlich waren, ausgebildet und wieder kraftschlüssig geschlossen werden?

Durch umfangreiche Vorversuche überprüfte man einerseits die Haftzugfestigkeiten des Überbetons und fand andererseits eine geeignete Methode, um die Aussparungen in der Mittelwand auszuführen (vgl. Bilder 2 und 3). Während des Baus wurden die heiklen Phasen ständig überwacht und die gemessenen Werte der Haftzugfestigkeit protokolliert. Die geforderten Messresultate wurden in der Ausführung erreicht, die Tragsicherheit der Decke für die neuen Lasten war gewährleistet.

Architekt und Ingenieur - Ein Ziel, Zwei Sichtweisen

Aus der Sicht der Tragkonstruktion ist kritisch anzumerken, dass hier mit dem Einsatz von «hochgezüchteten» Lamellen auf einen Beton mässiger Qualität zwei gar unterschiedliche Materialien kombiniert wurden. Materialfestigkeiten können in dieser Weise nur beschränkt genutzt werden. Die Architekten dagegen interessierte gerade die Möglichkeit, die hoch entwickelte Lamellentechnologie mit einer für die damalige Zeit ebenfalls neuen Technik (Hourdis) zur Erhaltung derselben kombinieren zu können – auch wenn der Beton aus heutiger Sicht keine gute Qualität aufweist. Die Lamellenverbundkonstruktion ähnelt der Hourdiskonstruktion insofern, als dass auch diese eine Verbundkonstruktion von neuem und altem Material darstellt: Ziegel und Beton mit dem verhältnismässig jungen industriellen Stahlprofi l. Die statische Ertüchtigung ist somit aus architektonischer Sicht eine passende und überzeugende Erweiterung.

Beim Umbau wurden Wohnungen zusammengelegt, indem durchgehende Wände in Querrichtung abgebrochen wurden. Gleichzeitig zogen die Planer bei den Treppenhäusern neue Wände ein, die der horizontalen Lastabtragung dienen. Damit die Aussteifung und die Erdbebensicherheit beibehalten bzw. verbessert werden konnten, sind die neuen Querwände konsequent in bewehrtem Stahlbeton erstellt und mit eigenen Fundamenten im Baugrund verankert.

Kunst am Bau: Installation im Hof

Der Plastiker Jürg Altherr war vom Anfang bis zum Schluss des Projekts Teampartner. Von ihm stammt die Idee mit den Bauchladenbalkonen sowie die raumgreifende Seilinstallation im Hof. Diese unterstreicht den Wandel vom Hinterhof zum Wohnhof und war schon Teil des Wettbewerbsbeitrages. Sie besteht aus einer vertikalen, auf dem Boden stehenden Skulptur (Pendelstütze), die an der Spitze von einem Seil stabilisiert wird. Das Seil ist mit einer aus - geklügelten Konstruktion im Dachboden und den angrenzenden Wänden verankert. Vom obersten Wohngeschoss führt es quer durch den Hof über den Stützenkopf bis in eine Hängekonstruktion, wo es von einem Gegengewicht gespannt wird. Zu hohe Seilkräfte können so verhindert werden.

[ Andreas Lutz, dipl. Bauing. ETH, APT Ingenieure GmbH, Peter Osterwalder, dipl. Bauing. ETH/SIA (Ingenieur für Kunst am Bau) ]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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