Zeitschrift

Architektur + Wettbewerbe 213
Kindergärten und Jugendhäuser
Architektur + Wettbewerbe 213

Kinderwelten

18. März 2008 - Josef Lenz
Kinder, ihre Lebenswelten, ihre Zukunft und Bildungschancen sowie die Perspektiven für Familien sind Themen, die auf der gesellschaftlichen Agenda ganz oben stehen. Häufig leider nur aus demographischen Gesichtspunkten betrachtet. Aber haben Kinder Bedeutung für Architekten, Stadtplaner und Landschaftsarchitekten? Wenn ja, in welcher Art und Weise?

Die Aneignung von Architektur und des öffentlichen Raumes gestaltet sich je nach Altersphase der Kinder unterschiedlich. Eine Aneignung zu animieren anstatt sie zu verhindern, sollte auch der Architektur wichtig und möglich sein. Bauen für Kinder scheint auf den ersten Blick eine einfache Aufgabe zu sein, bei der allerdings Architekten schnell in den Konflikt geraten, zwischen kindgerecht oder kindisch unterscheiden zu müssen. Doch wenn man bereit ist sich auf die Kinder einzulassen, wird schnell klar, dass das Entwerfen von Gebäuden als Spielwelt für Kinder eine komplexe Herausforderung darstellt. Die Möglichkeiten Kinder jeden Alters eine Spielwelt und eine Welt des Lernens zu bieten, sind für die Architektur condiciones sine quibus non – notwendige Bedingungen.

In der Kindheit einen Garten

Verstecken in verwinkelten Gassen, Fußball auf der Straße, streunen durch Wiesen und Wälder, Baumhäuser als Phantasieschlösser. Die Arbeitswelt der Erwachsenen in Haus und Hof, die Mühsal der Gartenarbeit und die einhergehende Erfahrung von Witterung oder die Stunden hoher handwerklicher Konzentration in Großvaters Werkstatt – all das sind Erlebnisse und Räume, durch die Kinder vielseitig angeregt wurden. War es früher ganz selbstverständlich, dass Kinder an den Arbeiten der Erwachsenen teilhaben konnten, so ist innerhalb weniger Jahrzehnte eine Veränderung eingetreten. Was für viele von uns Selbstverständlichkeiten waren, sind heute bloß schöne Erinnerungen, deren Erlebiswert sich vielen Kindern heute nicht mehr bieten wird.
Im Alltag eines Kindes gibt es immer weniger Augenblicke, in denen es sich aus seinem eigenen Interesse heraus beschäftigen kann. Aber genau bei solchen Beschäftigungen lernen Kinder besonders intensiv. Heutzutage sind Kinder in ihrem Alltag in Termine und Verpflichtungen eingebunden – natürlich nur, zu ihrem Besten. Schule, Sportverein und Musikschule lassen kaum Momente zum Träumen, Trödeln oder Spielen. Denn Kinder sollen ja zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten heranwachsen. Die Grundlage erschöpft sich also nicht im Nachdenken darüber, wie man das Kind lehren und erziehen kann, sondern wie man ihm eine Umgebung schaffen kann, die seiner Entwicklung förderlich ist, um dann in dieser Umgebung sich auch frei entwickeln zu können. Könnte nicht der Garten als Metapher eines Ortes oder eines Raumes dazu dienen, eine informelle Plattform für eine Kinderwelt bereitzuhalten, die im weitesten Sinne zur Kontemplation und Muße einlädt, damit Kinder Zeit geschenkt bekommen? Dieser Grundgedanke Platons und des von ihm ausgestalteten Olivenhain Akademos, dem ersten »Akademischen Schule«, wäre ein Ort in dem das Sich-Wundern, das kindliche Staunen oder auch das Unbehagen gegenüber der Welt ein Gesicht bekommen könnte.

Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht

Unendlich viele disparate Gesichtspunkte beim Bauen für Kinder gilt es zu berücksichtigen. Ein Puzzle aus Themenfeldern, das sich aus Aspekten der Soziologie, wie der Medizin, aus Fragmenten der Pädagogik, wie der Psychologie zusammensetzt. Es gibt kein Grundrezept, das man pauschal für ein Gelingen brauchbarer Kinderwelten anwenden kann. Im Mittelpunkt steht sicher die pädagogische Orientierung, die Konzepte einer Gesellschaft und deren Vorstellung von Erziehung in der Bandbreite von Summerhill bis Montessori und vieler weiterer Facetten.
Kleinkinder sind in einer Phase der Entwicklung, in der ihre Einstellung, ihr Vertrauen in das Leben, ihre Phantasie und ihre Kreativität geprägt werden. Daher ist es sehr wichtig, dass die sie umgebenden Objekte und Räume, Rücksicht auf diese, noch in der Entwicklungsphase befindenden Persönlichkeiten nehmen. Die Räume in denen Erziehung und Leben stattfinden, also in Architekturräumen, spielt daher für Kinder eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Aneignungsprozess. Eine Voraussetzung für kindgerechte Architektur, das Bauen der Kinderwelten, ist, dass dieses Bauen unter Einbeziehung der Kinder stattfindet. Ein Bauen für Kinder ist daher eher erfolgreich, wenn das Entwickeln dieser Welten gemeinsam mit den Kindern geschieht. Wer mit Kindern in der Rolle als »Bauherr« zu tun hat, der lernt sehr schnell diese andere Perspektive zu sehen und wer die Welt der Kinder beobachtet, kann sich von ihr inspirieren lassen. Aus solch einem Entwurf kann eine experimentierfreudige, moderne Architektur entstehen, eine Architektur die Funktionalität, Sinnlichkeit und Phantasie verbindet.
Kindergärten und Schulen, die sichtbetoniert modisch sind, sind für viele Architekten Vorbilder. Sind sie es auch für Kinder? Viele Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Architekten mit Kinderräumen umgehen. Aber wesentlich bedeutsamer ist die Reaktion der Kinder auf diese gebauten Räume. Wie sie ihre Räume beschreiben, worauf sie achten. Vieles wird von Kindern anders an- und wahrgenommen, als es sich Architekten vorstellen.
Aus vielen Erfahrungen können wir schließen, dass die Kinder selbst entscheiden, ob diese Architektur gelungen ist oder nicht. Kinder erobern ihre Welt, sie gestalten sie und diese Möglichkeiten zu unterstützen wäre nicht nur die Aufgabe der Architekten. Partizipation und Geduld sind zwar nicht die alleingültigen Annäherungswege an Kinderwelten aber sie können einen kreativen Geist zu außergewöhnlichen Ergebnissen führen.

Kinder brauchen Raum und Zeit

Dies vor allem für sich. Ein schwedisches Sprichwort – »Ein Kind hat drei Lehrer: Der erste Lehrer sind die anderen Kinder. Der zweite Lehrer ist der Lehrer. Der dritte Lehrer ist der Raum.« – beschreibt den Raum, damit die Architektur als ein Vorbild für Kinder und dies sicher nicht im Sinne Euklids, sondern definitiv als Werkzeug des eigenen Gestaltens, der eigenen Wahrnehmung. Unsere Lebenswelt und damit auch die unserer Kinder, ist Leben in Raum und Zeit und kann nicht unabhängig dieser Bedingungen gedacht werden. Die daraus entstehende Notwendigkeit, den Raum konzeptuell zu gestalten, führt uns Architekten zum Gestalten eines modernen Mensch-Raum-Zeit-Verhältnisses, das weit entfernt von einfacher Funktionspragmatik sich als kreatives Entwurfswerkzeug anbietet.
Zu Beginn des 20.Jahrhunderts gab es keine speziellen Räume für Kinder, denn Kinder gingen zum Spielen nach draußen, in die unmittelbare Wohnumgebung. Ihre Orte erreichten die Kinder zu Fuß. In den letzten 30 Jahren ist eine Trennung von Außen- und Innenräumen zu beobachten. Der moderne (Lebens-)Raum ist für Kinder kein einheitliches erfahrbares Phänomen mehr, denn der primäre Raumtopos der Wohnung, der Straße bis hin zum Quartier ist dem Modell des »verinselten« Lebensraumes gewichen. Die Merkmale dieser veränderten Lebenswelt in der Moderne wird in der Soziologie mit der These der »Verinselung« umfangreich beschrieben. Damit einhergehend wird eine weitere Tendenz sichtbar: Eine zunehmende Nutzung geschlossener Räume (Stichwort: Verhäuslichung). Diese Veränderungen der Außenräume bedingt auch eine Veränderung der Innenräume, wie wir dies am größeren Wohnraumbedarf und der Stellung und Bedeutung des »Kinderzimmers« ablesen können. Kinderzimmer sind kleine adaptierte oder oktroyierte Lebenstypologien zwischen Mädchenland der Prinzessin Lillifee oder Baukasten.
Um Räume aneignen zu können, brauchen Kinder Zeit. Raum-Zeit, die notwendig ist, um einen Raum im Geiste als Plattform abzuschreiten und auszuloten. Aus Kindersicht ist Architektur dann lebendig, wenn Einbauten und Verdichtungen in eine räumliche Konfiguration möglich sind. Eine informelle aktive räumliche Nutzung im zeitlichen Intervall gilt als Ideal der Architekturaneignung. An den gebauten Kinderwelten der Architekten Peter Hübner und Christoph Forster, die Zeit und Raum den Kindern schenken, ist das Modell der Partizipation ein Ansatz der gelungene Architektur hervorbringt. An ihren Projekten für Kinder und Jugendliche, spürt man, dass die Einbeziehung der Kinder zu ganz erstaunlichen, vielleicht etwas unkonventionellen, aber vor allem für die Nutzer optimalen Ergebnissen führen. Eine andere Gruppe junger Planer unter dem Namen »Baupiloten« hat sich ebenfalls die Einbeziehung der Nutzer, die Partizipation als Leitfaden vorgenommen und zum Programm gemacht. Ihre Projektentwicklung zusammen mit Kindern und Jugendlichen bringen ganz erstaunliche phantasievolle Ergebnisse zutage. Nicht nur die Teilhabe am Erschaffen ihrer Welt stimuliert Kinder und Jugendliche, es ist auch die räumliche Komplexität, die sie und auch wir für unser Wohlbefinden benötigen.

Die Entwicklung des erkennbaren Raumes

Hier schließt sich ein scheinbarer Kreis, der Architekten und Kinder verbindet. Architekten wollen Räume entwickeln mit den unterschiedlichsten Zielen: Ein großes Universum, eine bunte Burg, ein Haus als Spielgerät und manche bauen gar ein schräges Schiff. Raumentwicklung aus Image, Geschichten oder Ideen?
Die Entwicklung einer Raumvorstellung bei Kindern geht auf zwei unterschiedlich, zeitlich aufeinander folgenden Ebenen vor sich. Der Entwicklungsprozess beginnt auf der Wahrnehmungsebene und verfestigt sich auf der Vorstellungsebene. Erst bei sieben- bis achtjährigen Kindern entwickeln sich Proportionen, Abstände oder die Koordination der Perspektive zu einer Raumkonstruktion, zu einem erkennbaren Raum. Auf diese Fähigkeit ausgerichtet, sich mit der Theorie und dem Hintergrund von Raum-Zeit-Verhältnissen bei Kindern zu beschäftigen, bedeutet auch, sich mit der Entwicklung und den Bedürfnissen des Kindes auseinanderzusetzen. Durch diesen »Umweg« ist es erst möglich, eine Architektur zu erschaffen, die Kinder als eigenständige Wesen in ihrer Entwicklung weiterträgt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Architektur + Wettbewerbe

Ansprechpartner:in für diese Seite: Arne Barthaw[at]kraemerverlag.com

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