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TEC21 2008|14
Spielräume
TEC21 2008|14
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ungehindert spielen

Im Heilpädagogischen Zentrum in Hagendorn wurde 2006 ein grosser Spielplatz errichtet, der auf die speziellen Bedürfnisse körperlich und geistig behinderter Kinder zugeschnitten ist. Das Ziel der Planer war, einen Spielraum für alle Kinder zu schaffen – ganz egal für welches Alter und für welchen Grad der Behinderung.

31. März 2008 - Katinka Corts-Münzner
Heilpädagogen und Lehrer wissen, dass die Bewegung im dreidimensionalen Raum auch die Bereiche im Gehirn schult, die für das Lernen extrem wichtig sind.1 Diese Erkenntnisse sollten auch in das Neubaukonzept für den Spielplatz in Hagendorn mit einfl iessen. Das Heilpädagogische Zentrum Hagendorn (HZH) liegt etwas abseits der Kantonsstrasse nach Cham und Zug, inmitten von Landwirtschaftsfl ächen und in der Nähe eines Wäldchens. Zur Anlage gehören ein Schulhaus, ein Mehrzweckbau mit Turnhalle und drei Internatsgebäude. Dazwischen gibt es einen Pausenplatz, unterhalb der Wohngebäude liegt eine grosse Grünanlage, in der sich der neue Spielplatz befi ndet (Bild 7). In der Ganztagsschule leben und lernen Kinder aus dem Kanton Zug und angrenzenden Kantonen. Sie haben sehr unterschiedliche Behinderungen, was eine einheitliche Lösung bei der Neuplanung des Spielplatzes unmöglich machte. Manche Kinder können zum Beispiel zwei Sprachen sprechen, sind aber in der Motorik gestört und brauchen Hilfe beim Essen. Andere sind körperlich nicht behindert, sind aber im frühpubertären Alter noch auf dem geistigen Niveau eines Kleinkindes.

Der Spielplatz als Lehrraum

Im Sommer 2004 stellte das HZH sein Unterrichtskonzept um. Die Kleinklassen wurden auf vier Lerngruppen mit je 12–16 SchülerInnen verteilt. Jeweils drei bis vier Pädagogen be - treuen die Gruppen über den ganzen Tag. Seit der Umstellung des Unterrichtskonzeptes werden auch die Pausen als Unterrichtszeiten angesehen, in denen zum Beispiel die Sen - sorik geschult wird. Der neue Aussenraum sollte demnach nicht nur Spielplatz, sondern auch Lernraum sein. Die Betreuenden konnten so die Pausen frei gestalten und deren Län - gen selbst festlegen, sie sollten die Kinder aber in dieser Zeit in eine Umgebung führen, in der ihre Aktivität angeregt wird. Auf dem Spielplatz sollen den Kindern Aufgaben gestellt werden, die sie dort lösen. Da die Kinder, die im Internat leben, den Spielplatz auch nach dem Unterricht nutzen, sollte er leicht verständlich und ohne Betreuer nutzbar sein. Bei der Erarbeitung des neuen Spielplatzkonzeptes wurden die Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Heilpädagogen befragt, wie den Bedürfnissen der Schüler auf dem Spielplatz entsprochen werden könnte. Die Spielsachen sollten nach ihrer Auskunft selbsterklärend sein und keine grosse Anleitung durch die Betreuer bedingen. Zur Vorbereitung des Projektes sollten die Betreuenden die Kinder beim Spielen auf dem alten Platz beobachten. Dabei stellte sich heraus, dass die Kinder sich besonders gern mit Spielgeräten beschäftigen, die ihre Motorik fordern – also zum Beispiel Schaukeln und Wippen. Da auf dem künftigen Spielplatz ein Teil des Unterrichts abgehalten werden sollte, gaben auch die LehrerInnen ihre Wünsche zur Gestaltung an. Daniela Saxer vom Architekturbüro Raum B Architekten entwickelte nach diesen Vorgaben ein Konzept für die gesamte Schulanlage und erweiterte anschliessend das Planerteam. Gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekturbüro Appert & Zwahlen aus Cham und der Baarer Künstlerin Johanna Naef planten die Architekten das Projekt und setzten es ab 2005 um.

Dosierte Gefahren auf dem Weg

Der neue Spielplatz unterteilt sich in drei Bereiche: eine gekieste Fläche, einen Sandkasten und einen Pavillon. Ein Merkmal der Anlage ist, dass es den Kindern nicht zu einfachgemacht wird, an jede beliebige Stelle des Spielplatzes zu gelangen. Der Weg zu Spielplatz und Schwimmbad sollte nicht einfach durchgehend asphaltiert werden, sondern auch bezwingbare Hindernisse und «Abenteuerwege» enthalten. Die oberste Prämisse der Planenden war: je kürzer der Weg, desto grösser muss die Herausforderung für die Kinder sein. Beispiele dafür sind ein Riffelblechboden mit minimalen, für Rollstuhlfahrer aber überwindbaren Stufen und Gitterroste, die über den Sandkasten führen. Einer der Roste ist stabil, der andere gelenkig fi xiert. Hier ist die Motorik der Kinder gefordert, denn auf dem wackelnden Steg will das Gleichgewicht gehalten werden. Zwischen der ersten und der zweiten Ebene liegt ein Wackelsteg, die zweite ist mit der dritten über eine wippende und kippende Brücke verbunden. Diese kippt und schaukelt beim Begehen und Befahren mit Rollstuhl und Fahrrad. Beim Pavillon schliesslich wählte die Architektin einen weichen Sportplatzbelag, der durch seine Höhe von 11 cm sehr stark federt. Die verschiedenen Lauf- und Fahrerlebnisse machen bereits den Gang zum Spielplatz zum Abenteuer.

Alle Sinne fordern

Über den Asphaltweg gelangen die Kinder zuerst in den Kiesbereich. Sie haben hier eine Fläche, die mit Kies, nicht bindigem Sand und grossen Steinen bedeckt ist. Besonders ihre taktile Wahrnehmung schulen sie beim Spiel. Einige Kinder nehmen wegen ihrer Behinderung nur wenig über ihre Haut wahr. In Kies und Sand können sie sich gefahrlos eingraben, die Materialien wahrnehmen und die Wärme oder die Kälte der Steine spüren. Für diesen Bereich entwickelte Johanna Naef Liegen aus Kunststoff, auf die sich die Kinder alleine oder mit Hilfe legen können. So erreichen sie den Boden und können bäuchlings im Sand spielen. Der Sandkasten im zweiten Bereich ist mit bindigem Sand gefüllt – ideal zum Burgenbauen und Matschen. Auch die Kinder im Rollstuhl können diesen Bereich befahren und an einem Matschtisch auf einer Betonplattform ohne die Hilfe anderer spielen (Bild 4). Als Besonderheit wurde ein erhöht liegender Pavillon errichtet. Kinder, die im Rollstuhl sitzen, können ihre Umgebung nur selten von einem erhöhten Standpunkt aus wahrnehmen. Auf dem Spielplatz haben sie aber diese Möglichkeit. Der Pavillon ist für Rollstuhlfahrer über eine Rampe zu erreichen, nicht gehbehinderte Kinder können ihn auch über eine Kletterwand, ein Netz oder einen schmalen Kamin – ein Metallrohr mit Sprossen – erklimmen (Bilder 2 und 3). Das Holztragwerk, geplant von Bauingenieur Walter Bieler aus Bonaduz, ergänzte in spielerischer Weise einen Stützenwald unter der Rampe. Die schräg angeordneten Pendelstützen stabilisieren die Rampe und bilden gleichzeitig einen Spielraum für die Kinder (Bilder und Pläne Seiten 26 und 27). Rückwärtig schliesst der Bau mit einer fl acheren Rampe für die Rollstuhlfahrer an den Pausenplatz an. Von diesem gelangen die nicht gehbehinderten Kinder auch direkt zum Spielplatz, müssen dazu aber eine Röhrenrutschbahn nutzen und auf dem Rückweg über grosse Steine klettern. Hier wird erneut der Vorsatz der Planer deutlich: kurze Wege müssen schwieriger gestaltet sein und eine Herausforderung darstellen. Birken und Föhren schliessen den Spielplatz gegenüber der angrenzenden Wohnbebauung ab. Strauchrosen setzen farbliche Akzente. Neu gepfl anzt wurden unter anderem Haselnuss- und Holundersträucher, die für die Kinder nicht nur in der Blütezeit interessant sind. Neben der optischen, akustischen, olfaktorischen und taktilen Wahrnehmung sind auch die Entwicklung des Gleichgewichtssinns und der Muskelkraft für ein Kind wichtig. Wenn die Kinder im Herbst die Beeren und Nüsse sammeln, trainieren sie ihre taktile Wahrnehmung und lernen, wie sie ihre Kraft dosieren müssen, um die Beeren nicht zu zerdrücken. Wollen die Kinder hingegen die Früchte der Erdbeeren erreichen, müssen sie sich auf den Boden knien, wobei sie für sie unübliche Bewegungsabläufe üben.

Neugestaltung von Pausenplatz und Mehrzweckraum

Die Betreuenden und die Kinder haben die neue Aussenraumgestaltung mittlerweile gut angenommen. Die Kinder sehen den Spielplatz auch als Aufgabe an, die es zu lösen gilt. Sie beschäftigen sich oft stundenlang mit einem Hindernis, bis sie es überwinden könnenDie Betreuenden verbieten den Kindern nichts, sie sollen ihre eigenen Erfahrungen im Ge - lände machen und ihre Grenzen selbst kennenlernen. Nach diesen positiven Erfahrungen will die Schulleitung des Heilpädagogischen Zentrums Hagendorn nun auch weitere Berei - che des Geländes umgestalten. Sie hat Daniela Saxer mit der Aufgabe betraut, ein Gestaltungskonzept für den zurzeit unattraktiven und verstellten Pausenplatz zu entwickeln. Hier sollen die Rabatten entfernt werden und so ein Platz zum Velofahren und Herumrennen entstehen. Ausserdem sollen der Mehrzweckraum generell saniert, die Raumfolge darin optimiert und die Zwischenräume mit spielerischen Komponenten versehen werden.

Öffnung zur Aussenwelt

Die Klassengrösse wird in Zukunft wohl eher abnehmen, da die Kinder schneller in Integrationsklassen öffentlicher Schulen aufgenommen werden sollen. Die Plätze im Internat hingegen werden nach wie vor gefragt sein, und damit wird auch die attraktive Gestaltung des Wohn- und Lernumfeldes ein Thema bleiben. «Behinderte wurden früher abgeschoben und ihre Einrichtungen abseits der Städte gebaut», so Saxer. Den Kontakt zur Aussenwelt könne das Heilpädagogische Zentrum heute wieder verstärken, indem es sein Gelände und seine Einrichtungen für Fachleute und Schulklassen öffnet. In den Mehrzweck- und Schulungsräumen sollen zum Beispiel Fachhochschulen Kurse, Weiterbildungen und Informationsabende durchführen. Das Interesse an einer Anlaufstelle für Personen aus der Praxis besteht. Andere Schulklassen sind eingeladen, den Spielplatz gemeinsam mit den Kindern des HZH zu nutzen. Das Angebot stösst auf Interesse, mittlerweile reisen auch Regelkindergärten und Schulklassen aus der Umgebung für einen Besuchstag an. Katinka Corts

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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