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TEC21 2008|15
Tunneldörfer
TEC21 2008|15
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Tunneldorf Naters

14. April 2008 - Elisabeth Joris
Der Bau des Simplon- und des Lötschbergtunnels vor hundert Jahren lockte viele Mineure aus Italien an. Sie siedelten in Naters bei Brig und prägten die Gemeinde baulich und sozial. Da der Tunnelbau 25 Jahre dauerte, blieben viele italienische Familien für immer im Oberwallis. Ihre ersten Häuser verschwinden jedoch allmählich. Als das Ehepaar Joseph und Kreszentia Biffiger-Wyssen 1900 sein neues Wohnhaus mit Laden in Naters zwischen dem alten Dorfkern mit seinen von der Sonne geschwärzten Holzhäusern und dem neuen Italienerquartier jenseits des Kelchbachs baute, demonstrierte es den wirtschaftlichen Aufschwung, den das Dorf seit den Anfängen des Tunnelbaus erlebte. Dabei hatte alles klein angefangen: Mit dem Ersparten aus ihrer Zeit als Köchin in Paris und der finanziellen Unterstützung ihres Bruders, der Pfarrer in Gondo war, hatte Kreszentia Wyssen 1886 einen kleinen Laden eröffnet. Sie ahnte damals nicht, welch aus - gezeichnete Wahl sie mit dem Lokal an der Peripherie getroffen hatte. Die Handlung Biffiger avancierte bald zum bedeutendsten Detailgeschäft von Naters, in dem man sich mit allem Notwendigen, von Lebensmitteln über Textilien bis zu Eisenwaren aller Art, eindecken konnte.

Mineure und Ingenieure, Negotiantinnen und Nonnen

Den entscheidenden Schub zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel löste der Tunnelbau aus: 1898–1906 wurde die erste Simplonröhre zwischen Brig und Isella gebaut, 1906–1913 der Lötschbergtunnel zwischen Goppenstein und Kandersteg und 1913–1921 die zweite Simplonröhre. Bis dahin war das gegenüber von Brig gelegene Naters eine weitgehend von der Landwirtschaft geprägte Gemeinde gewesen, die sich als mehrstufi ger Kulturraum vom Dorfkern rund um die grosse Kirche im Talgrund über Blatten bis zur Belalp und zum Aletschgletscher hin erstreckte. Weit mehr als die Hälfte der im Tunnelbau Beschäftigten siedelte sich hier an, vor allem entlang der alten Furkastrasse, der heutigen Land-/Weingartenstrasse, die sich von der Handlung Biffi ger nach Osten über den Weiler Weingarten hinaus bis an die Grenze der Gemeinde Bitsch erstreckte. So wuchs die Bevölkerung von 1888 bis zur Jahrhundertwende von 1075 auf 3953 Personen, von denen mehr als die Hälfte Italienisch sprach. Alle diese Leute mussten wohnen und essen, wollten sich unterhalten und ihre Feste feiern, ihre Kleider mussten gewaschen und geflickt werden. Und so zogen mit den Ingenieuren und Mineuren auch Gewerbetreibende nach Naters. Die Zahl der Handlungen vervierfachte sich von 7 im Jahr 1896 auf 28 im Jahr 1899 und pendelte sich in dieser Grössenordnung ein. Die Zahl der Wirtschaften wuchs noch rasanter von 1898 bis 1915 von 6 auf 53. Neben einer provisorischen Wohnbarackensiedlung im Talgrund entstanden schon innert weniger Monate nach Beginn der Tunnelarbeiten an der alten Furkastrasse Gebäulichkeiten verschiedenster Grösse und Qualität.

Italiener und Oberwallis

Das Gebiet im Süden der alten Furkastrasse hat mit dem Tunnel- und dem Eisenbahnbau immer wieder Umwandlungen erfahren. Es liegt gegenüber dem Eingang des Simplontunnels auf der anderen Seite der Rhone. Ausbruchmaterial aus dem Tunnel wurde hier verteilt, das Flussbett mehrfach verlegt und schliesslich eingedämmt; der neu gewonnene Boden wurde mit provisorischen Wohnbaracken und dauerhaften Häusern bebaut, von meist italienischen Familien als Garten genutzt und vom Trassee der Furkabahn belegt. Im Unterschied zu den meisten anderen historischen Tunnelbaudörfern, die nach dem Bau wieder schrumpften oder verschwanden, weil die Mineure weiterzogen, veränderte sichNaters nachhaltig. Weil sich die drei Tunnelbaustellen hier über 25 Jahre hinweg nahtlos ablösten, blieben grosse Teile der Arbeitskräfte über lange Jahre beschäftigt. Sie gründeten Familien und Unternehmen und blieben defi nitiv im Oberwallis. Die damals entstandene räumliche, soziale, bauliche und ökonomische Struktur prägt die Gemeinde bis in die Gegenwart, auch wenn die hundertjährigen Häuser zunehmend spärlicher werden, neuen Gebäuden weichen müssen oder zwischen mehrstöckigen Neubauten fast untergehen. Für die seelische und die schulische Betreuung der italienischen Zugezogenen war ab 1912 die Missione Cattolica Italiana zuständig, die sich unweit vom Kaufhaus Biffi ger talaufwärts etablierte. Als Teil der karitativen «Opera Giuseppe Bonomelli» aus Cuneo im Piemont hatte sich die Mission zu Beginn des Lötschbergtunnelbaus in Goppenstein und Kandersteg niedergelassen. Nach Abschluss der Bauarbeiten zogen mit den italienischen Mineursfamilien auch der Pfarrer Don Pasquale und die Suore Giuseppine samt ihrer Infrastruktur nach Naters und bauten hier ihre Schule wieder auf. Generationen von Kindern sollten sie besuchen. Der kleine, inzwischen hellgrau gemalte Holzbau dient heute als Krippe und wird fast erdrückt vom 1992 eröffneten wuchtigen Neubau des «Zentrum Missione», dem gegenwärtigen Treffpunkt der italienischen Migrantinnen und Migranten im Oberwallis und wichtigsten Veranstaltungsort von Naters. In diesen beiden Bauten der Italienerkolonie verdichtet sich anschaulich die Veränderung, die mit dem Tunnelbau begonnen und in den letzten Jahrzehnten nochmals eine Beschleunigung erfahren hat.

Bauliche Veränderungen

Das Wachstum der Gemeinde machte Infrastrukturbauten nötig: Es entstanden Bauwerke zur Eindämmung des Kelchbachs zwischen altem Dorf und Italienerviertel, und nach einer Typhusepidemie im ersten Barackendorf, das auf sumpfi gem Grund erbaut worden war, baute die Gemeinde ein Reservoir, Trinkwasserbrunnen und Abwasserkanäle. Doch vor allem die Siedlungsentwicklung entlang der Landstrasse kennzeichnete den Aufschwung. Die Einheimischen sprachen despektierlich vom «Negerdorf», auch wenn nicht nur Kreszentia Biffi ger-Wyssen von den Zugezogenen profi tierte. Dichter als sonst irgendwo im Kanton reihten sich im Italienerquartier Gaststätten aneinander, von der winzigen Bar oder Osteria in der Holzbaracke bis zum stattlichen Gasthaus mit Kost und Logis, vom Familienbetrieb bis zum anrüchigen Lokal. Die Cafés trugen Namen wie «Roma», «Monte Rosa», «Nazionale» und «Unione». Oft wurde gleichzeitig gewirtet und gehandelt. Ausser Spirituosen und Wein verkaufte man von Süssigkeiten und Tabakwaren bis zu Textilien und Kohle alle zum Leben notwendigen Waren, in kleinsten Mengen bis en gros. Bäcker, Negotiantinnen, Schuster, Früchtehändler, Schneiderinnen, Coiffeure, Velohändler, ja selbst ein Fotograf und ein Kinobetreiber boten in Lokalitäten verschiedenster Grösse ihre Dienste an. Neue Gastwirtschaften entstanden auch im Westen an der neuen Bahnhofstrasse, die über die Rhonebrücke nach Brig führte und wo – im Gegensatz zu den einfachen und oft improvisierten Bauten im Osten – die neuen Gebäude einen Hauch von Stadt verströmten. Die Bahnhofstrasse blieb jedoch Stückwerk. Den Brückenkopf am nördlichen Rhoneufer dominierte nicht etwa ein elegantes Geschäftshaus, sondern der hohe Bau der neuen Mühle. Stückwerk blieb auch das neue Rhoneufer mit den beiden repräsentativen Häusern von Rossi, dem italienischen Baumeister von Brigs Bahnhof und Bahnhofstrasse. Mit dieser konnte die Natischer Bahnhofstrasse niemals konkurrenzieren, sie blieb Hinterausgang. Das wirkte sich aus: Über Jahrzehnte liessen sich Bahnarbeiter und einfache Bahnangestellte an der Landstrasse und im Natischer Feld nieder; die hohen Zoll- und Bahnbeamten hingegen wohnten in Brig, das sich als internationaler Knotenpunkt verstand. Selbst sozial aufsteigende italienische Familien zog es nach dem Krieg nach Brig; die meisten Nachkommen der Mineure dagegen blieben in Naters.

Migration im Verwandtschaftverband

Die meisten Mineure kamen ebenso wie die Gewerbetreibenden aus dem heutigen Norditalien. Fast alle migrierten im Verwandtschaftsverband. Frauen und Männer, Junge und Alte sicherten sich in enger Kooperation und vielfältiger Arbeitsteilung die Existenzgrundlage.Exemplarisch zeigt dies die Familie Giachetto. Sie stammte aus einem Minendorf bei Turin und war bereits auf anderen norditalienischen und österreichisch-ungarischen Tunnelbaustellen beschäftigt gewesen, bevor sie sich in Naters niederliess und schliesslich eines der kleinen Häuser an der Landstrasse bezog. Ins Oberwallis war die Familie im Dreigenerationenverband gekommen: der Mineur Giuseppe Martino Giachetto, seine Frau Maria Beisone, die sich auf das Nähen von Kleidern für die Mineure spezialisiert hatte, sein Vater, ein Mineur auch er, seine Mutter, die den Gemüsegarten besorgte, sowie Söhne und Töchter. Die älteste Tochter Domenica arbeitete zeitweise als Köchin für Mineure, einen von ihnen heiratete sie 1921. Einige ihrer Geschwister arbeiteten in der für die neue italienische Kundschaft eröffneten Pastafabrik. Auch die «Dienstmagd» Genoveffa Milani kam zusammen mit zwei Brüdern, beide Mineure, nach Naters. Hier heiratete sie Liberale d’Alpaos, der im Dienste der Eisenbahngesellschaft «Jura-Simplon» Holzmaquetten für den Tunnelbau konstruierte. Zur Zeit des Baus der Lötschberglinie übernahm Genoveffa D’Alpaos-Milani 1908 weit draussen im Weingartenquartier das «Café Venezia», wo sie mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Kinder Mineure verköstigte. Liberale D’Alpaos machte sich mit der angegliederten Schreinerei ebenfalls selbstständig. Das «Venezia» blieb bis in die 1970er-Jahre ein wichtiger Treffpunkt der italienischen Bevölkerung von Naters, wo vor allem am Sonntag Handorgel gespielt und gesungen wurde. Seine Ausstrahlung hat es seitdem verloren, denn das alte Italienerquartier hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert.

Neuer Tunnel, neuer Wandel

Mit dem Bau der neuen Furkastrasse von der Bahnhofstrasse durch das Natischer Feld 1957 verschob sich in den Zeiten der Hochkonjunktur der 1960er- bis 1970er-Jahre das geschäftliche Zentrum nach Süden an die breite Strasse mit mehrstöckigen Wohn- und Geschäftsbauten aus Beton. Diese liessen die Häuser der Nachkommen der Mineure, aber auch vieler Bahnangestellter klein und verloren aussehen. Die Landstrasse geriet etwas ins Abseits, ebenso wie der alte Dorfkern rings um die Kirche. Im mehrfach vergrösserten Kaufhaus der Nachkommen von Kreszentia Biffi ger-Wyssen wechselten in den letzten Jahren verschiedentlich die Mieter. Bereits aber blättert auch schon der Verputz von den Blöcken aus der Hochkonjunktur, und an der breiten, auf den Autoverkehr ausgerichteten Furkastrasse bleiben einige Geschäfte unvermietet. Die leeren Schaufenster nehmen sich hier trostloser aus als die ebenfalls immer zahlreicheren ungenutzten Lokale an der alten Landstrasse. Während wohl die meisten Zeugnisse der Italienerzeit bald niedergerissen werden, um weiteren Baukomplexen Platz zu machen, fressen sich hinter der alten Missione moderne Wohnüberbauungen für gehobene Ansprüche den sonnigen Berghang hinauf. Wegen dieser Hanglage mausert sich Naters heute selbst für Briger vom einstigen Bauern-, Bähnler- und Proletendorf am Hinterausgang ihres prächtigen Bahnhofs zu einer attraktiven Wohnalternative. Denn auf die internationale Bedeutung dieses Aushängeschilds von Baumeister Rossi ist seit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels und des Knotens Visp im Dezember 2007 kein Verlass mehr.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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