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TEC21 2008|24
Masse in Bewegung
TEC21 2008|24
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Fliessender Verkehr

Der Verkehr einer Grossveranstaltung belastet die ohnehin häufig überfüllten Strassen zusätzlich. Um trotzdem für einen weitestgehend reibungslosen Verkehrsablauf während der Euro 08 zu sorgen, werden das Verkehrsmanagement auf der Strasse angepasst sowie spezielle Massnahmen geplant und umgesetzt.

9. Juni 2008 - Alexandra Diewald
Das erwartete Verkehrsaufkommen der Euro 08 ist mit dem täglichen Pendler- und dem jährlichen Ferienverkehr nicht vergleichbar. Um zielgerecht Massnahmen treffen zu können, wurden die zu erwartenden Besuchermengen für die Schweiz geschätzt. Infras[1] legte Erfahrungswerte der Fussballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland, der Europameisterschaften 2004 in Portugal sowie 2000 in Belgien und den Niederlanden zugrunde. Ferner wurden Informationen der Uefa zum Ticketverkauf mit der regionalen Verteilung der Ticketbesteller herangezogen. Durch Auskünfte der SBB bezüglich Besuchermengen und Modal Split, durch Kontakte zu wissenschaftlichen Partnern und aus eigenen Erfahrungswerten wurden weitere Daten evaluiert. Schliesslich spielte auch die Grösse der ethnischen Gruppen in der Schweiz eine Rolle, um das teilweise vom «Durchschnittsschweizer» abweichende Verhalten abzubilden. Um ein Gesamtbild zu erhalten, wurden die Stadionund die Public-Viewing-Besucher berücksichtigt.

Der Faktor Public-Viewing-Besucher wurde auf 1 bis 3 pro Einwohner der Host City wie bei der WM 2006 in Deutschland festgelegt. Diese Zahl wirkt auf den ersten Blick recht vage, doch sie ist von Faktoren abhängig, die nicht vorausgesagt werden können, wie dem Wetter oder dem Weiterkommen der Nationalmannschaften. In den Stadien hingegen richtet sich der Faktor zur Berechnung der Besucherzahl nach den verkauften Tickets. Insgesamt werden voraussichtlich 61 % der Besucher und Besucherinnen an den Spieltagen mit Bahn und ÖV, 21 % mit dem PW, 7 % mit dem Flugzeug, 9 % mit dem Bus und 2 % zu Fuss oder mit dem Fahrrad zum Stadion reisen. Im Verkehrskonzept der Schweiz wird an Spieltagen ein Anteil Öffentlicher Verkehr/Langsamverkehr (LV) von 60 % angestrebt, das Modal-Split- Ziel des Stadionnahverkehrs liegt bei 80 % ÖV mit LV. Die Untersuchungen von Infras1 lassen vermuten, dass dieses Ziel erreicht wird. Für das Management des ruhenden Verkehrs und das Verkehrsmanagement auf der Strasse sind die Bus- und PW-Mengen relevant.

Verkehrsmanagement: Ein Überblick

Das Verkehrsmanagement auf der Strasse hat das Ziel, nach Mitteln und Wegen zu suchen, das vorhandene Netz noch intelligenter zu nutzen. In seinem jüngsten Bericht zur Verkehrsentwicklung und der Verfügbarkeit der Nationalstrassen2 stellt das Bundesamt für Strassen (Astra) fest, dass der Verkehr 2006 auf den Nationalstrassen gegenüber dem Vorjahr weniger stark zunahm. Trotzdem wurden 4.7 % mehr Staustunden verzeichnet. Die Staustunden infolge Verkehrsüberlastung stiegen sogar um 17 %. An Netzerweiterungen und Neubauten ist aus ökologischen und finanziellen Gründen häufig nicht zu denken. Tatsächlich bietet das vorhandene Netz vielerorts und zu bestimmten Zeiten Kapazitätsreserven.

Durch Verkehrsmanagementmassnahmen sollen Staus und deren negative Auswirkungen wie volkswirtschaftliche Kosten und Umweltbelastung reduziert werden. Als Teil des allgemeinen Verkehrsmanagements werden unter dem Begriff «Verkehrsmanagement auf der Strasse» alle Massnahmen zusammengefasst, die darauf abzielen, den Verkehrsablauf gross- und kleinräumig optimal zu gestalten. Die Zielsetzungen und Definitionen werden im Glossar Verkehrsmanagement Schweiz3 und in der Schweizer Norm SN 6407814 präzisiert.

Verkehr steuern

Die netzweite Signalsteuerung gehört heute zum Standard in jeder grösseren Stadt. Während die Steuerungstechnik weit fortgeschritten ist und jede ausgeklügelte Steuerungslogik einprogrammiert werden kann, herrscht oft eine grosse Unsicherheit über die Steuerungsphilosophie. Welche Verkehrsarten sollen priorisiert werden? Nach welcher Gesamtzielfunktion sollen die Verkehrsingenieure die Steuerung optimieren? Hier zeigt sich die Grenze der Anwendung von Verkehrsmanagementmassnahmen: Ohne einen Konsens bezüglich Zielsetzungen und Prioritäten sind intelligente Systeme wertlos.

Eine der neueren Massnahmen der Verkehrssteuerung in der Schweiz ist die Rampenbewirtschaftung zur Autobahn. Der Zufluss wird so dosiert, dass sich einfahrende Automobilisten mit dem Verkehr auf den Durchfahrtsspuren flüssig vereinigen. Bei vielen Verkehrsteilnehmern ist die Akzeptanz für diese Massnahme (noch) nicht vorhanden. Sie fragen sich – auf der Auffahrtsrampe auf Grün wartend –, weshalb der Transit- gegenüber dem Lokalverkehr bevorzugt wird. Beispiele wie die Einfahrt Baden West vor dem Bareggtunnel oder die Einfahrt Weiningen auf der Nordumfahrung Zürich haben sich bewährt: Staudauer und Rückstaulängen haben abgenommen. Welche Auswirkung eine Rampenbewirtschaftung auf das Netz der Hauptverkehrsstrassen hat und wie man unerwünschten Begleiterscheinungen entgegenwirkt, untersucht der Schweizerische Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute (VSS). Die Ergebnisse werden Ende 2008 publiziert.

Verkehr leiten und lenken

Um die Kapazität einer Strecke zu erhöhen, wird auch darüber diskutiert, den Standstreifen umzunutzen. Diesen als zusätzlichen Fahrstreifen zu verwenden, lässt sich verantworten, wenn gleichzeitig die Geschwindigkeit herabgesetzt und der Verkehr lückenlos überwacht wird. In Deutschland hat man mit der dynamischen Umwidmung von Standstreifen vor allem im Grossraum München gute Erfahrungen gemacht. Bis Ende 2008 wird der VSS erarbeiten, wie die technische Ausrüstung der Strasse bei dieser Massnahme aussehen soll. Derzeit wird der maximale Durchfluss vor allem durch Verkehrsleitsysteme erreicht. Sie detektieren Verkehrsdichte, Geschwindigkeiten sowie Störungen und passen die Signalisation automatisch den Gegebenheiten an. Dynamische Gefahren- und Geschwindigkeits signalisationen (allenfalls Fahrstreifensignalisationen) werden eingesetzt, um einem Verkehrszusammenbruch auf einem Abschnitt entgegenzuwirken. Weiteres Ziel des Verkehrsleitsystems ist die Erhöhung der Sicherheit, insbesondere sollen Auffahrunfälle bei Nebel und Stau verhindert werden. Blockiert ein Ereignis den Verkehr oder sind Teile einer Route stark belastet, kann der Verkehr durch Wechselwegweisung an neuralgischen Punkten im Netz gelenkt werden; ein Beispiel ist die Umleitung über die San-Bernardino-Route bei Hindernissen am Gotthard. Wechseltextanzeigen werden unterstützend zur Verkehrslenkung und zur Information der Verkehrsteilnehmer eingesetzt.

Über den Verkehrszustand informieren

Um effizient von A nach B zu kommen und gar nicht erst in einen Stau zu geraten, helfen Verkehrsinformationen im Radio oder im Internet. Heute gehören zudem Navigationsgeräte zum Standard von höherklassigen Autos. Durch das GPS (Globales Positionsbestimmungssystem) und die gespeicherte digitale Strassenkarte kennt das Auto seinen Standort und den Weg zum Fahrziel. Die Empfehlungen der Navigationsgeräte können allerdings von den Routenempfehlungen der Verkehrsmanagementzentrale abweichen, da sie nicht auf den Verkehrsmanagementplänen (siehe Kasten), sondern auf Streckenattributen basieren. Der VSS untersucht die Möglichkeit, diesbezügliche Konflikte zu vermeiden und die Informationen und Massnahmen besser abzustimmen. Die aktuelle Diskussion zeigt, dass im Verkehrsmanagement intensiv nach Lösungen gesucht wird, um das vorhandene Netz langfristig optimal zu nutzen. Kurzfristig liegt der Fokus auf der Europameisterschaft.

Normalverkehr und Euro 08

Überlagern sich die Spitzenzeiten des täglichen Verkehrs mit dem Verkehr einer Grossveranstaltung, spitzt sich die Situation auf der Strasse zu. Dazu kommen erhöhte Sicherheitsanforderungen: Die Interventionsdienste müssen jederzeit schnell den Ereignisort erreichen können. Durch die Fanmeilen wird das Verkehrsregime der Innenstädte der Host Citys vollständig umgekrempelt. Sondermassnahmen für den privilegierten Verkehr und für Reisebusse müssen ebenfalls berücksichtigt werden.

Bauliche Massnahmen ohne langfristigen Nutzen in der Zeit nach der Euro 08 wurden aus Nachhaltigkeitsgründen nicht verfolgt. Allerdings sind kurzfristige ökologische Belastungen vertretbar, zum Beispiel werden verlängerte Abflugzeiten für die Flughäfen und Parkieren in Grundwasserschutzzonen während der Euro 08 genehmigt. Betriebliche Massnahmen werden speziell für Grossanlässe in Betracht gezogen: So wurde während der Expo in Hannover auf der ganzen Strecke von Kassel nach Hannover der Standstreifen als dritter Fahrstreifen genutzt. Die dafür notwendigen Massnahmen wie Ummarkierung und Geschwindigkeitsreduktion wurden vor und nach der Expo in Kauf genommen. Die Schweiz verzichtet für die Euro 08 auf solche Massnahmen.

Um die An- und die Abreise für die Besucherinnen und Besucher während der Euro 08 so angenehm und effizient wie möglich zu gestalten, wird das Verkehrsmanagement in der Schweiz und in Österreich angepasst. Selbstverständlich werden auch Autofahrer und -fahrerinnen, die nicht auf dem Weg zu einer Fussballveranstaltung sind, berücksichtigt. Die Verantwortlichen in der Verkehrsmanagementzentrale Schweiz und die zuständigen Kantonspolizeistützpunkte legten im Vorfeld Lenkungs-, Leitungs-, Steuerungs- und Informationsmassnahmen fest, die situationsabhängig aktiviert werden. Wichtiger Bestandteil dieses Massnahmenpakets bilden eigens entworfene und mit den Verantwortlichen aus Österreich abgestimmte Signalisationsmittel sowie eine einheitliche Verkehrsinformation. Bei der Signalisation werden Massnahmen eingesetzt, die sich ausschliesslich an den «Euro 08- Verkehr» richten und auf den ersten Blick erkennbar sind, damit der Besucher sein Ziel direkt erreicht. Für die übrigen Verkehrsteilnehmenden gibt es Signalisations- und Informationsmassnahmen, die auf die spezifische Situation hinweisen und Umfahrungen signalisieren. Die Verkehrssituation wird während der Euro 08 beobachtet, laufend analysiert und daraufhin verbessert. Ob die Verkehrsströme wie angenommen verlaufen und die Massnahmen greifen, wird erst im Nachhinein beurteilt werden können.

[Alexandra Diewald, RappTrans AG, Basel, alexandra.diewald@rapp.ch]
Anmerkungen / Literatur
[1] Daniel Sutter, Infras AG, Zürich, Präsentation Europaforum in Salzburg, 20./21.02.08
– Bericht Verkehrsentwicklung und Verfügbarkeit der Nationalstrassen. Jahresbericht 2006. Bundesamt für Strassen (Astra)
– Glossar Verkehrsmanagement Schweiz, Ausgabe 2007 V4.21. Bundesamt für Strassen (Astra)
– Schweizer Norm SN 640781, Verkehrsmanagement, gültig ab 1. Februar 2006

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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