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TEC21 2008|27-28
New Orleans Blues
TEC21 2008|27-28
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Nichts gelernt von Katrina

Das Flutschutzsystem von New Orleans versagte beim Hurrikan Katrina kläglich. An über 100 Stellen brachen Dämme, 80 % des Stadtgebiets wurden überschwemmt. Robert Bea, der Autor dieses Artikels, ist Professor am Institut für Bau- und Umweltingenieurwesen in Berkeley. 2005 untersuchte er in New Orleans die Gründe für dieses Versagen. Sein Resultat: Seit 1965, als Hurrikan Betsy einen Drittel der Stadt unter Wasser setzte, hat man nichts gelernt, die Zuständigkeiten bleiben weiter ungeregelt, die Reparaturen sind Flickwerk – «Katrina» war keine Umwelt-, sondern eine politische Katastrophe. Und sie wird sich wiederholen. Der Bericht eines wütenden Ingenieurs.

7. Juli 2008 - Robert G. Bea
Eine Hauptursache für das Versagen des Flutschutzes wurzelt in seiner langen Entstehungsgeschichte. Das System wurde seit dem frühen 18. Jahrhundert entwickelt, als man den ersten Deichring um die Stadt legte – nach Vorbildern in Frankreich, dem Herkunftsland vieler Einwohner von New Orleans. Seitdem errichtete man höhere und breitere Dämme, und zwar stets auf der Krone der schon vorhandenen Deiche. In den 1850er-Jahren wurden Entwässerungskanäle gegraben, die für den Ablauf von Regen- und Flutwasser aus der Stadt sorgen sollten. Im frühen 20. Jahrhundert baute man Pumpstationen mit den innovativen Wood-Propellerpumpen. Mit der Ausdehnung der Stadt wurden weitere Flächen eingedeicht, die Sümpfe trocken gelegt, aufgeschüttet und besiedelt. Das Flutschutzsystem ähnelt einem Flickenteppich, an dem über mehrere Generationen hinweg gewerkelt wurde. Von einem integrierten und kohärenten System kann keine Rede sein, vielmehr von einer Ansammlung zusammenhangsloser Stücke, die mit vielfältigsten Mitteln und Methoden konzipiert, gestaltet, konstruiert, betrieben und instand gehalten werden.

Ein dramatischer Weckruf durch Hurrikan Betsy im Jahre 1965 wies auf die Defekte und Unzulänglichkeiten dieses Systems hin: Dämme brachen, Pumpanlagen versagten ihren Dienst, über 30 % der Stadt wurden überflutet. Der Autor lebte zu dieser Zeit im Osten von New Orleans. Seine Familie verlor ihr Haus und alle Habseligkeiten. Betsy führte vor, dass die bis ins Herz von New Orleans gegrabenen kommerziellen Wasserwege und Entwässerungskanäle die vom Hurrikan verursachte Flut in die Stadt lenkten und in einigen Fällen gar verstärkten.

Nach dem Hurrikan Betsy nahm man sich vor, dass «das niemals wieder passieren würde». Während der folgenden Monate ergriffen der Bezirk, der Staat Louisiana und die Bundesbehörden Massnahmen zur Planung von Reparaturen und zum Ausbau des Systems. Künftig sollte ein Schutz vor einer 200- bis 300-Jahr-Flut gewährleistet werden. Auf der Ebene des Bundes verantwortete hauptsächlich das U.S. Army Corps of Engineers die Planung und Konstruktion der Schutzdämme. Der Staat Louisiana und der Bezirk übernahmen deren Betrieb und Instandhaltung. Planung, Konstruktion, Betrieb und Instandhaltung der Flutwasserbeseitigung fielen hingegen in die Zuständigkeit der Bezirksbehörden. Die Koordination und Kommunikation zwischen diesen vielen Amtsstellen erstickte oft schon im Keim. Aus vielerlei Gründen war bis in die frühen 1990er-Jahre noch nicht einmal die Planung für das verbesserte Post-Betsy-System abgeschlossen. Die verantwortlichen Behörden konnten sich nie einigen, was auf welche Weise zu tun sei. Die Frage, wer was bezahlen musste, wurde zur Hauptsache. Das U.S. Army Corps of Engineers war zahlreichen technologischen, zeitlichen und finanziellen Zwängen sowie politischem Druck ausgesetzt. Technische Anforderungen an den Flutschutz kollidierten mit den Interessen von Fischerei und Umweltschutz. Es wurden neue Pläne entwickelt, um mögliche negative Einflüsse auf die Umwelt zuvermeiden. Im Lauf der Jahre führten die lokalen Deichbehörden einige Reparaturen und Sanierungen von Teilen des Systems durch.

In den 1990er-Jahren kam der Ausbau des Systems schliesslich voran. Endlich einigte man sich, wer was, wo und wie tun – und wer wofür zahlen sollte. Doch dafür war man eine Reihe von Kompromissen eingegangen. Und in der Folge tat man alles mögliche, um Kosten zu reduzieren und die Zeit bis zum Abschluss der Arbeiten abzukürzen. Unglücklicherweise wusste niemand genau, wie sich dies auf die Funktionssicherheit des Flutschutzsystems auswirken würde. Anspruchsvolle Technologie und hohe Qualität wurden Eigeninteressen geopfert. Forschungsergebnisse fanden ihren Weg in die Praxis nicht. Und die Lehren, die andere Länder wie die Niederlande, Grossbritannien oder Japan aus den Erfahrungen mit Fluten gezogen hatten, wurden nicht beherzigt. Auf Bundes-, Staats- und Bezirksebene wurden die Haushaltsmittel für den Flutschutz Schritt für Schritt reduziert. Die Finanzierung erfolgte sporadisch. Instandsetzungen wurden bestenfalls oberflächlich durchgeführt, Teile des Systems zerfielen. Zu Beginn des Jahres 2005 schätzte man, dass es mindestens zehn weitere Jahre dauern würde, um das System, das 1965 bewilligt worden war, endlich fertig zu stellen.

In dieser Periode gab es beunruhigende Anzeichen dafür, dass sich der Aushub weiterer kommerzieller Wasserwege – wie der Mississippi River Gulf Outlet und der Inner Harbor Navigation Canal – extrem nachteilig auf die natürliche Umgebung auswirkte. Schützende Feuchtgebiete und Sümpfe verschwanden in alarmierendem Ausmass. New Orleans, einst ein Binnenhafen, wurde zum offenen Küstenhafen. Den Hurrikans, die vom Golf von Mexiko kamen, war die Stadt nun direkt ausgesetzt. Durch die kombinierte Wirkung aus Bodensetzungen, Expansion der Siedlungsfläche und steigendem Meeresspiegel geriet der grösste Teil von New Orleans unter Meereshöhe.

Nach vierzig Jahren Arbeit, die auf Hurrikan Betsy folgten, prüfte am 29. August 2005 Hurrikan Katrina den Flutschutz des Grossraums New Orleans. Dieses Mal wurden 80 % des Gebietes überschwemmt. Auch der Verlust von Menschenleben, die Zahl der obdachlos gewordenen Familien und der beeinträchtigten und zerstörten Existenzen waren substanziell grösser als bei Betsy. Geschätzt wurde, dass die absoluten direkten und indirekten Kosten der Flutschäden die Grenze von tausend Milliarden Dollar überschritt.

Der Autor traf einige Wochen nach Hurrikan Katrina in New Orleans ein. Er war Mitglied einer unabhängigen Untersuchungskommission (Independent Levee Investigation Team, ILIT) mit über dreissig erfahrenen Forschern und Ingenieuren sowie Studierenden. In freiwilliger Arbeit suchten sie nach den Ursachen für die Brüche und Fehlfunktionen des Flutschutzes. Ein Grossteil des Gebiets befand sich noch unter Wasser, während auf den DachbödenLeichen geborgen wurden. Der Autor stand vor seinem ehemaligen Zuhause und musste mit ansehen, wie die jetzigen Besitzer ihre Habseligkeiten zur Tür herausschleppten, gerade so, wie er es vierzig Jahre zuvor getan hatte.

Nach dem Versagen des Flutschutzsystems waren eilig Untersuchungen eingeleitet worden. Die finanziell am besten ausgestattete wurde vom U.S. Army Corps of Engineers durchgeführt: Mehrere hundert Wissenschafter und Ingenieure waren darin involviert. Vom Corps of Engineers und dem Department of Defense wurden gleich zwei Aufsichtsgremien eingesetzt, um die Untersuchungsergebnisse des Corps of Engineers nochmals zu überprüfen.

Wegen der Grössenordnung der Katastrophe herrschte besonders beim Corps of Engineers ein extremer politischer Druck, Tatsachen zu bestreiten und von ihnen abzulenken. Anfänglich erklärte das Corps of Engineers das Versagen des Flutschutzes öffentlich zu einem Akt «höherer Gewalt» – das System sei einfach überwältigt worden von einem Hurrikan bisher nicht gekannter Stärke. Es waren zunächst vier andere Untersuchungen, die beunruhigende Hinweise darauf gaben, dass das System nicht so funktioniert hatte wie vorgesehen, dass Teile vorzeitig oder auf unvorhergesehene Weise versagten – und gewisse Teile schlichtweg fehlten! Eine wurde vom National Institute for Standards and Technology (NIST) durchgeführt, eine andere durch ein Team von Ingenieuren und Wissenschaftern aus Louisiana, die schon sehr bald nach dem Hurrikan in New Orleans eingetroffen waren. Eine weitere unternahm die American Society of Civil Engineers (ASCE). Schliesslich finanzierten die National Science Foundation und die University of California in Berkeley eine vierte Untersuchungskommission – das Independent Levee Investigation Team. In den ersten Tagen nach Hurrikan Katrina erklärte das Team aus Louisiana, dass es sich bei dem Desaster nicht um höhere Gewalt gehandelt habe – es sei von Menschenhand verursacht und überdies auch vorhergesagt worden. Dies brachte das Team in direkte Konfrontation mit dem Corps of Engineers. Die ersten Ergebnisse von NIST, ASCE und ILIT erhärteten jedoch die Einschätzungen des Teams aus Louisiana.

Technische und strukturelle Ursachen

Nach über 8000 Arbeitsstunden, die der Autor für eigene Untersuchungen und das Studium der Ergebnisse anderer Untersuchungsteams aufgewendet hat, kann er die Gründe für das Versagen des Flutschutzes in zwei Kategorien einteilen: technische und strukturelle. Die technischen Gründe umfassen Schadensarten, die bei der Planung des Schutzes nicht berücksichtigt worden waren. Ein Überlaufschutz war nicht vorgesehen; das Eindringen von Wasser zwischen die Flutschutzmauern und den Grund, auf dem sie stehen, wurde ebenfalls nicht in Erwägung gezogen; Erdschichten mit niedriger Festigkeit wurden nicht sorgfältig aufgespürt, stark wasserleitende Schichten einfach ignoriert.

Doch die Hauptgründe für das Versagen fallen in die strukturell-politische Kategorie. Die Organisation des Systems erwies sich als disfunktional: Für die Vision und die Führung, die nötig gewesen wären, um ein hochqualitatives und funktionssicheres Flutschutzsystem zu errichten, fühlte sich keine der involvierten Behörden verantwortlich. Es waren keinerlei Ressourcen bewilligt und eingesetzt worden, um solch eine Vision zu realisieren.

Diese und andere, ähnlich schmerzvolle Erfahrungen haben zur Erkenntnis geführt, dass es keine «Naturkatastrophen» gibt. Es gibt natürliche Gefahren wie Hurrikane, Taifune und Erdbeben, und es gibt menschliche Anmassung, Arroganz, Ignoranz und Trägheit. Kombiniert man beides, ist früher oder später eine Katastrophe zu erwarten. Genau davon handelt die Geschichte vom Versagen des Flutabwehrsystems in New Orleans beim Hurrikan Katrina.

Gegenwart

Heute gibt es viele Orte in der Stadt, an denen die Ablagerungen und Schäden der Flut noch sichtbar sind. Zahlreiche Menschen bleiben Vertriebene. Viele sind desillusioniert und kommen nicht mehr zurück. Die Stadt und ihre Einwohner kämpfen tagtäglich um eine Rückkehr zur Normalität. Symptome der Katrina-Müdigkeit sind unübersehbar.

Die Brüche im Flutschutzsystem sind repariert worden. In einigen Fällen wurden die Dämme auf die vor Katrina genehmigte Höhe aufgestockt. Man führte einige Verbesserungen durch, etwa den Bau von Pumpanlagen und von Toren an den Mündungen der zentralen Entwässerungskanäle. Doch bereits sind Mängel und Unzulänglichkeiten an den Reparaturen offensichtlich geworden. Die Reparaturen mussten selber wieder repariert werden, neue Pumpen und Fluttore versagten in Tests.Die schwer beschädigten und rissigen Bereiche unmittelbar neben den vielen Damm­brüchen wurden nicht saniert. An verschiedenen Orten zeigen sich beunruhigende und unerklärbare Lecks, zum Beispiel nahe den Einbrüchen am 17th Street Canal und im Lower Ninth Ward. Das System hat noch viele schwache Glieder – und die Kette des Flutschutzes ist nur so stark wie seine schwächsten Glieder.

Einige Verbesserungen wurden am institutionellen System unternommen. Zum Beispiel hat das Corps of Engineers zwölf «Actions for Change» gestartet, die einige Fehler der Vergangenheit vermeiden helfen sollen. Der Staat Louisiana hat die zahlreichen für den Flutschutz verantwortlichen Behörden reorganisiert und konsolidiert. Erneut hat man sich das bekannte «Nie wieder» zum Vorsatz genommen. Aber echter struktureller Wandel ist weder schnell noch gratis zu haben. Die Unfähigkeit der Behörden von Bund, Staat und Bezirk, ihr Handeln an die Veränderung der Umwelt anzupassen, ist die Erklärung für vieles, das wir heute im Gebiet sehen – gleiches Denken, gleiche Resultate.

Zukunft

Wenn wir die Geschichte der letzten vierzig Jahre betrachten, um die Zukunft des Flutschutzes im Grossraum New Orleans abzuschätzen, erscheint diese düster. Viele Fehler werden wiederholt. Wir lernen die vielen Lektionen von Betsy und Katrina nicht. Um es diesmal richtig zu machen, wäre wirkliches Engagement der Öffentlichkeit, der Industrie, der Regierung und des Ingenieurwesens gefragt. Erforderlich wären eine Vision, Führung, Kooperation und angemessene Ressourcen. Die Vision muss auf naturfreundliche und nachhaltige Flutschutzstrategien setzen. Dies beinhaltet zum Beispiel die Wiederherstellung und Wiederbelebung von natürlichen Sturm- und Flutbarrieren wie Sümpfen, Marschland und Flachwasserzonen. Dazu gehört aber auch, dass dem Wasser ein angemessener Raum überlassen wird und nur Gebiete besiedelt werden, die ausreichend geschützt werden können. Und dazu gehört schliesslich die richtige Anwendung fortgeschrittener und erprobter Flutschutz-Technologien. Doch eine solche einheitliche Vision scheint nicht in Sicht. Statt die Natur zum Verbündeten bei den Anstrengungen für einen langfristigen, nachhaltigen Flutschutz zu machen, kämpfen wir weiter gegen sie an. Unter diesen Umständen müssen wir mehr Katastrophen vom Typ Katrina erwarten. Es ist nur eine Frage der Zeit.

[Robert G. Bea, Ph.D., Professor am Institut für Bau- und Umweltingenieurwesen der Universität von Kalifornien in Berkeley]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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