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TEC21 2008|35
Erdbebensicher
TEC21 2008|35
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Tragwerksverformung bei Erdbebeneinwirkung

Verformungsbasierte Verfahren haben das Erdbebeningenieurwesen signifikant weiterentwickelt. Sie erlauben eine im Vergleich zu kräftebasierten Verfahren realitätsnähere Erfassung des seismischen Verhaltens eines Tragwerks und führen somit in der Regel zu einer günstigeren Bemessung bzw. Überprüfung. Erdbebenforschung und -lehre an der ETH Zürich haben zum Ziel, verformungsbasierte Verfahren für die Praxis zu erschliessen.

25. August 2008 - Alessandro Dazio
In den letzten zwei Jahrzehnten hat im Erdbebeningenieurwesen ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Das primäre Ziel ist es nicht mehr nur, Einstürze zu vermeiden, um Menschenleben zu retten, sondern im Voraus abzuschätzen, welche Schäden unter bestimmten seismischen Einwirkungen zu erwarten sind. Das gilt sowohl für die Bemessung eines Neubaus als auch für die Überprüfung eines bestehenden Tragwerks. Dieser Ansatz ist als verhaltensbasiertes Erdbebeningenieurwesen («Performance-Based Earthquake Engineering»[1]) bekannt und stellt sicher, dass das Verhalten des Bauwerks die Bedürfnisse der Benützer, der Bauherrschaft und der Gesellschaft möglichst optimal erfüllt. Um diesen Ansatz anwenden zu können, muss das Erdbebenverhalten mit einer quantitativ bestimmbaren Genauigkeit vorhergesagt werden können. Diese Information ermöglicht es dem Auftraggeber, zweckmässige und sachkundige Entscheidungen über Zielkonflikte zu treffen, die den ganzen Lebenszyklus des Bauwerks berücksichtigen und nicht lediglich seine Baukosten. Die Verhaltenszustände (Bild 1), die von einer bestimmten Erdbebenbeanspruchung hervorgerufen werden können, berücksichtigen Schäden am Tragwerk, an den nichttragenden Bauteilen und an den Einrichtungen sowie sich daraus ergebende Konsequenzen. Sie werden anhand von Indikatoren charakterisiert, die erfassbaren Ereignissen entsprechen wie Rissebildung, Fliessbeginn der Bewehrung, Abplatzen des Betons, Reissen der Bewehrung, erreichte Stockwerksschiefstellungen und bleibende Verformungen.
Aus Bild 1 ist ersichtlich, dass Erdbebenschäden besser mit den auftretenden Verformungen als mit den Kräften korrelieren. Aus diesem Grund sind sogenannte verformungs- basierte Bemessungsverfahren, die die seismische Beanspruchung eines Tragwerks durch eine möglichst realistische Abbildung seines inelastischen Verformungsverhaltens erfassen, immer häufiger in Literatur und Normen zu finden. Typische Beispiele dafür sind die «Capacity Spectrum Method»1 in ihren unterschiedlichen Varianten oder das «Direct Displacement Based Design (DDBD)»[2],[3]. Unabdingbare Voraussetzung für die Anwendung dieser Methoden sind ausreichende Kenntnisse über das elastische sowie das inelastische Verformungsverhalten der Bauteile des Tragwerks. In Anbetracht der unterschiedlichen Baugewohnheiten in verschiedenen Ländern ist es erforderlich, dass diese Kenntnisse die lokalen Gegebenheiten widerspiegeln.

…In der Forschung an der ETH Zürich

Am Lehrstuhl für Erdbebeningenieurwesen und Baudynamik der ETH Zürich laufen zurzeit eine Reihe von Forschungsprojekten, die sich mit dem Verformungsverhalten von verschiedenen für die Schweiz typischen Tragwerken beschäftigen. Sie haben zum Ziel, bessere Grundlagen für die verformungsbasierte Bemessung bzw. Überprüfung von Bauwerken zu erarbeiten. Beispielsweise wird dabei das seismische Verhalten von bestehenden Schweizer Stahlbetonbrücken aus den 1960er-Jahren untersucht, das nichtlinear-zyklische Verformungsverhalten von unbewehrten Mauerwerksbauten numerisch und experimentell analysiert oder – wie in Bild 2 dargestellt – das Erdbebenverhalten von Gebäuden erforscht, die durch U-förmige Stahlbetontragwände ausgesteift sind.[4]

Stahlbetonkerne weisen unter Erdbebeneinwirkung ein sehr komplexes Verhalten auf. Sie werden auf biaxiale Biegung und Schub sowie auf Torsion bis weit innerhalb ihres inelastischen Verformungsbereichs beansprucht. Trotz häufiger Anwendung in der Praxis wurde ihr seismisches Verhalten weltweit kaum untersucht. Deshalb wurde an der ETH ein Forschungsprojekt zu dieser Problemstellung initiiert. In einer ersten Phase wurden mittels nichtlinearer Zeitverlaufsberechnungen an einem sechsstöckigen Prototypgebäude die für den Kern ungünstigsten Beanspruchungszustände identifiziert (Bild 3, a). Die Resultate der Simulationen wurden dann benutzt, um Versuchskörper und Versuchseinrichtung zu planen. Zwei Modelle des plastischen Bereichs des Kerns im Massstab 1:2 wurden anschliessend unter statisch-zyklischer Beanspruchung getestet.[5] Die verwendete Belastungsgeschichte ist in Bild 3, b), dargestellt und umfasste Auslenkungen sowohl parallel zu den Hauptrichtungen des Kerns als auch in diagonaler Richtung.

Die Versuchskörper waren duktil ausgelegt und konnten inelastische Verformungen überstehen, die wesentlich grösser als der seismische Verformungsbedarf waren, der typisch für Gebiete mässiger Seismizität ist. Dabei spielten die vier gut umschnürten End- und Eckbereiche eine wesentliche Rolle, indem sie einerseits ein ausreichendes Stauchungsvermögen der jeweiligen Druckzonen gewährleisteten und andererseits die Integrität des plastischen Bereichs sicherstellten. Im Bild 3, c), ist das experimentelle hysteretische Verhalten des ersten Versuchskörpers für die Zyklen mit Verschiebeduktilität μΔ=4 dargestellt. Die drei Diagramme stellen die Kraft-Verformungs-Beziehungen dar, die bei der Wirkungslinie der drei horizontalen Prüfzylinder OW, NS-W und NS-O (siehe Bilder 2 und 3, a) gemessen wurden.

Einfache Modelle – Resultate für die Praxis

Bei der Modellierung des zyklischen Verformungsverhaltens der Kerne wurden relativ einfache, praxistaugliche Ansätze bevorzugt, wie etwa das äquivalente Rahmenmodell aus Bild 3, a). Die vertikalen Stäbe entsprechen dabei nichtlinearen Faserelementen, während die horizontalen Verbindungen elastische Eigenschaften aufweisen. Vollständig elastische äquivalente Rahmenmodelle wurden bereits in den 1960er-Jahren ausführlich untersucht. In der Literatur sind aber kaum Hinweise zu finden, wie die Eigenschaften von inelastischen äquivalenten Rahmenmodellen am besten festzulegen sind. Eine erste Wahl der Eigenschaften erlaubte eine Simulation der Versuche («State of the Art»-Modell, Bild 3, c), die vor allem für Auslenkungen in diagonaler Richtung (Punkt E, Bild 3, c) klar unbefriedigend war.

Erst nach einer vertieften Analyse des Verformungsverhaltens der beiden Versuchskörper konnten neue Empfehlungen bezüglich der Wahl der Eigenschaften des Rahmenmodells vorgeschlagen werden, die eine wesentlich akkuratere Simulation der Versuche ermöglichte («verbessertes» Modell im Bild 3, c).6 Diese Empfehlungen stehen nun Ingenieuren und Ingenieurinnen zur Verfügung, um inelastische äquivalente Rahmenmodelle als einfache Werzeuge zur Erfassung des Verformungsverhaltens von Stahlbetonkernen im Rahmen von verformungsbasierten Verfahren zu verwenden. Weitere Details zu den Versuchen und zu den numerischen Simulationen sind in den entsprechenden Veröffentlichungen zu finden.[4–6]

Anmerkungen
[1] Bozorgnia, Y., Bertero, V.: Earthquake Engineering – From Engineering Seismology to Performance Based Engineering. CRC Press, Boca Raton, Fl., 2004
[2] Fédération Internationale du Béton: Displacement-based seismic design of reinforced concrete buildings. State-of-the-art Report. FIB Bulletin 25. 2003
[3] Priestley, M. J.N., Calvi, G. M., Kowalsky, M. J.: Displacement-Based Seismic Design of Structures. IUSS Press, 2007
[4] Beyer, K., Dazio, A., and Priestley, M. J. N.: Seismic design of torsionally eccentric building with U-shaped RC walls. Research Report ROSE – 2008/03. IUSS Press, 2008
[5] Beyer, K., Dazio, A., and Priestley, M. J. N.: Quasi-static cyclic tests of two U-shaped reinforced concrete walls. Journal of Earthquake Engineering, in press
[6] Beyer, K., Dazio, A. and Priestley, M. J. N.: Inelastic wide-column models for U-shaped reinforced concrete walls. Journal of Earthquake Engineering, Vol. 12, S1, pp. 1–33. 2008
[7] Dazio, A., Wenk, T.: Website der Vorlesung «Erdbebensicherung von Bauwerken II» an der ETH Zürich (www.ibk.ethz.ch/da/education/EB2)
[8] Vorlesungsverzeichnis der ETH Zürich (www.vvz.ethz.ch/Vorlesungsverzeichnis/lerneinheitDetailPre.do?lerneinheitId=53449&semkez=2008W)
[9] SeismoSoft : SeismoStruct – A computer program for static and dynamic nonlinear analysis of framed structures (www.seismosoft .com), 2007

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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