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hochparterre 09|2008
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 09|2008
zur Zeitschrift: hochparterre

Vorwärts ins 19. Jahrhundert

Für die Architekten der strengen Observanz ist es klar: der Historismus ist tabu. Architektur ist Avantgarde oder sie ist nicht. Hans Kollhoff ist da anderer Ansicht, er baut eine persönliche Art von Klassizismus. Darf man das? Man darf, wenn man es kann. Es ist Zeit, das 19. Jahrhundert neu zu sehen.

15. September 2008 - Benedikt Loderer
An der Tourismusküste Luzerns steht ein neuer Palast. Tivoli sein Name, ererbt vom Hotel, das früher auf diesem Grundstück stand. Man muss zweimal hinsehen, bis man merkt: Aha, ein Neubau. Denn der Bautyp Grand Hôtel ist hier - hundert Jahre nach seinem Ausstreben - wieder neu gepflanzt worden. Er hatte nur im Gewächshaus der Architekturgeschichte überlebt. Doch wo, wenn nicht unter seinesgleichen kann er anwachsen und Früchte tragen? Die grossen Hotelpaläste aus dem Fin de Siècle jedenfalls haben den Neuzuzüger weit selbstverständlicher empfangen als die Architekten der strengen Observanz. Für sie war die klassizistische Formensprache Vergangenheit, jede Neubelebung eine Lebenslüge. Doch die städtebauliche Begründung für das Grand Hôtel ist einfach: Der Kette der grossen Hotelkästen an der Tourismiusfront Luzerns wurde ein neues Glied angefügt.
Zwar kommt der Neubau hundert Jahre zu spät, aber er stellt sich bescheiden ans Ende der historischen Reihe von der er allerdings behauptet: auch ich gehöre dazu.

Das ist auf den ersten Blick auch offensichtlich, man erkennt dieses Gebäude sofort als Grand Hôtel vom Dampfschiff aus zum Beispiel. Erst beim genaueren Hinsehen zweifelt man. Es fehlt der Empfang. Wo wir eine Vorfahrt und ein Portal erwarten, ist nur ein schmaler Schlitz in der Pergola, der Eingang dahinter ist von der Strasse kaum zu sehen. Sichtbar hingegen ist eben diese Pergola, von Schinkels Schloss Glienicke bei Potsdam inspiriert, sie ist Glasschrank und -schranke zwischen der verkehrsreichen Seestrasse und dem Gebäude. Diese Pergola privatisiert das Vorgelände. Sie grenzt aus und ab und macht deutlich: das ist kein öffentliches Gebäude.

Der strenge Takt der Fassade erinnert als nächstes an ein Sanatorium. Die tiefen Balkone wären für die Liegekur durchaus geeignet, doch ist nicht die Tuberkulose hierzulande provisorisch ausgerottet? Das Konvikt einer religiösen Schule? Da fehlt die Kirche nebenan. Kurz, das Grand Hôtel, das Sanatorium und das Konvikt sind nur die nahen Verwandten dieses Gebäudes, das einen kaum vorhanden Bautyp in die Schweiz importiert, den städtischen Wohnpalast, den Wiener Ringstrassentyp des 19. Jahrhunderts, oder wie die Entlüftungsrohre auf den Dächern glauben machen, an den Boulevard Sébastopol in Paris.
Die Seefassade bestimmt die Wahrnehmung. Dass es sich nicht um einen Riegel parallel zum See handelt, sondern um einen Winkelbau findet nur heraus, wer es wissen will. Das, was Jahrhunderte lang selbstverständlich war, die Hierarchie des Äusseren, wird hier nochmals vorgeführt: Haupt-, Seiten und Hoffassaden. Warum ist es richtig, einem Gebäude rundherum dieselbe Gestalt zu geben? Die Antwort auf die Umgebung jedenfalls ist es nicht.

Grossbürgerlicher Zuschnitt

Im Innern hat der Wohnpalast hat zwei deutlich verschiedene Bestandteile: die Vorzeige- und die Privaträume. Zu den Vorzeigeräumen gehören die Gärten, die Eingangshallen, die Treppenhäuser und die Korridore, der Weinkeller und die Badehalle. Hier setzt Kollhoff seine Architektur durch, seine steife Spätklassik, die repräsentative Räume schaffen will. Kollhoff verwendet dafür unter anderen das ausgelaugteste Element der Klassik die Säule. Wer es nicht wissentlich abwehrt, ist einmal mehr überrascht, wie unvermittelt die Weihe uns anweht, wie viel Hoheit eine Säulenreihe ausdrückt, selbst wenn sie Vignolas Regeln kühl missachtet. Das wir in der Empfangshalle deutlich, ein Raum, der im Erdgeschoss die Eingangsachse mit eine Querstellung beendet. Durch die Fenster blickt, wer in den Ledersesslen sitzt, auf eine wasserüberspülte Grotte, une follie, die den Hang und den Hof abdeckt. Niemand ist zugegen. Die Bewohner fahren in die Tiefgarage und darauf mit dem Lift zu ihrer Wohnungstür. Die Halle, ja alle Vorzeigeräume, dienen dem Standing, eine dem architektonischen Jakobiner unerträglich amoralische Situation.

In den Korridoren teilen Friese aus Nussbaumholz Wandfelder ab, die Böden sind mit Marmor und Granit mit perfektem geometrischem Muster durchgestaltet, die Schreinerarbeiten von bester Qualität. Allein die Handläufe sind Kabinettsstücke. Kollhoff ist ein diziplinierter Architekt. Nichts ist zufällig, kein Bodenmuster, kein Wandfries, kein Deckenfeld, das die strengen Regeln der angewandten Geometrie verletzt. Es gibt eine weite Auslegung der klassizistischen Bildungsgesetze, aber ein enges Einhalten der Detailrichtigkeit. Man spürt den Form- und Durchsetzwillen. Nichts ist Zufall hier. Diese Vorzeigeräume vermitteln dem Besucher den Eindruck, hier wohnen Grossbüger. In ihrem Besonderssein werden umgekehrt die Bewohner bestärkt: sie haben Klasse, man sieht es ja.

Das Bad, genauer, die Therme, fasst die Ansprüche des Architekten und der Bewohner zusammen. Die gestalterische Konsequenz schafft einen noblen Raum, eine Schwimmbasilika. Wer hier Werterhaltung seiner Körpergebäudes betreibt, ist unter Seinesgleichen. Formale Disziplin und gesellschaftliche Exklusivität treffen sich.

Wieviele wollen sie setzen? fragte der Architekt der Gründerzeit als erstes seine Kunden und entwickelte aus der Platzzahl des Esszimmers die Grösse der Wohnung, Mädchenkammer inklusive. Auch heute verlangen die begüterten Kunden zuerst und vor allem viel Wohnfläche. Wo genügend Platz ist, sind die vernünftigen Grundrisse nicht weit. Sie stammen nicht aus dem 19. Jahrhundert, sondern aus dem unsern und gehorchen den Gesetzen der Baumeistervernunft. Die Entlüftungs und Steigschächte diktieren die Standorte der Sanitärgruppen, die Varianz der Wohnungen ist kleiner als vermutet, doch gross genug die privaten Wünsche zu erfüllen. Kollhof bietet denn auch für dieselbe Wohnung einmal einen klassischen und einmal einen modernen Ausbau an. Immer aber gibt es eine deutliche Trennung von Tag- und Nachtteil, zusammenfassend: bürgerlich sind alle Wohnungen. Den Rest besorgt der Geschmack oder die Willkür der Eigentümer. Die privaten Räume überlässt Kollhoff ihnen. Sie bleiben privat, also kein Wort mehr darüber.

Die Wohnungen sind sehr teuer, die Seesicht kostet. Von der Zweieinhalbzimmerwohnung für 550 000 Franken bis zur Attika für 3,9 Millionen. Wie beim Wohnpalast des Fin de Siècle gelten auch hier die Spielregeln der Spekulation, pardon, des Return of Investment. Das Unternehmen Tivoli ist Immobiliengeschäft, ein Entwicklungsprojekt für die einen, eine Geldanlage für die andern. Darüber zu lamentieren, ist in der heutigen politischen Lage leere Gesinnungsprotzerei.

Historismus ist erlaubt

In diese Wohnungen sind bildungsbürgerliche Erinnerungen eingewoben. Die Leute von Familie aus Fontanes Romanen oder Senator Buddenbrock wohnten so und die Pariser Grossbürger Balzacs stellen wir uns vor. Heute bewundern wir, was davon übrig geblieben ist. In England ist immer noch die zeitgenössische Fortsetzung des Historismus die Regel und die Moderne die Ausnahme. Hierzulande hingegen gibt es einen Rechtfertigungsdruck: Man kann doch nicht das heutige Leben in die Formen von gestern pressen!

Käme diese Immobilienunternehmung im Gewande der modern-modischen Ratlosigkeit daher, sie würde von den Hütern der Architekturmoral nur verachtet. Zieht aber Kollhoffs Wohnpalast ein historisches Gewand an, empören sie sich über die Lebenslüge. Wenns Lügen gibt, so muss es auch Wahrheit geben, nur wo ist sie? Hier werden nicht bloss Quadratmeter mit Blick auf See und Berge verkauft, hier geht’s um Exklusivität. Da zeigt sich, dass Lüge ein moralisches Urteil ist, kein ästhetisches. Das nämlich würde fragen: ist denn Kollhoffs Palast nach den Regeln der Klassik auch gut gemacht? Er ist es.

Anders herum: das moralische Verbot der „Stilarchitektur“ ist reine Ideologie. Wer sich Stilarchitektur kauft, ist nicht ehrlich, stellt sich dem modernen Leben nicht, regrediert in eine nie stattgefundene Vergangenheit. Dazu kommt: Geld korrumpiert, Kollhoffs Wohnpalast ist der Beweis dafür.

Doch halt, wir sollten das 19. Jahrhundert neu besichtigen, es gibt dort viel zu entdecken. Seine Wiederanerkennung ist überfällig, schlimmer noch: Historismus ist erlaubt. Man muss es nur können. Kollhoff stellt eine peinliche Frage: ist es wahr, dass diese grossbürgerlichen Wohnungen mit ihren Vorzeige- und Privaträumen ausserordentliche Wohnqualitäten hatten ja oder nein? Ja, antwortet die intellektuelle Redlichkeit. Also, spricht Kollhoff, werde ich dort wieder anknüpfen. Mehr ist’s nicht, aber auch nicht weniger. Wohnkultur ist das Stichwort. Sie spricht heute verschiedene Sprachen. Kollhoff redet altfränkisch, doch wird er verstanden.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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