Zeitschrift

TEC21 2008|39
Vom Hochwasser lernen
TEC21 2008|39
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Standortbestimmung

Nach dem Hochwasser vom August 2005 leitete der Bund eine umfassende Ereignisanalyse ein. In deren Rahmen wurden die aufgetretenen Naturprozesse analysiert, Qualität und Umsetzung der vorhandenen Gefahrengrundlagen untersucht, das Verhalten und die Wirkung der Schutzmassnahmen sowie die Effizienz des Krisenmanagements überprüft . Während sich die vorhandenen Gefahrenkarten als weitgehend zutreff end erwiesen, muss bei vielen Schutzbauten sowie bei Notfallplanung und Informationsaustausch nachgebessert werden.

15. September 2008
Das Hochwasser vom August 2005 forderte sechs Todesopfer. Mit rund 3Mrd. Franken entstand ausserdem der grösste finanzielle Schaden, den ein einzelnes Naturereignis in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz verursacht hat. Erhebliche Schäden gab es auch in den Nachbarländern Deutschland und Österreich. Die grosse räumliche Ausdehnung und die lange Dauer führten mancherorts zu einer Überforderung der lokalen Einsatzkräfte. Jedes derartige Ereignis fordert zu einer Standortbestimmung heraus, weshalb der Bund nach dem Hochwasser die soeben veröffentlichte Ereignisanalyse einleitete. Diese wurde partnerschaftlich durch die betroffenen Fachstellen des Bundes, Institute aus dem universitären Bereich und private Büros bearbeitet. Damit war eine möglichst grosse Objektivität bei der Untersuchung sichergestellt. Gleichzeitig gewährleistet dieses Vorgehen auch eine direkte Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in der Verwaltung. Die Anliegen der nicht direkt in der Projektorganisation vertretenen Fachstellen von Bund und Kantonen sowie weiterer Institutionen wurden durch eine Koordinations- und Mitwirkungsgruppe eingebracht (Bild 2).

Das Hochwasser vom August 2005 ist kein singuläres Ereignis. Für den Zeitraum seit 1972, für den verlässliche Schadenszahlen vorliegen, ist es zwar ohne Parallele (Bild 3). Bei der Betrachtung einer längeren Periode verliert das Ausmass der Schäden vom August 2005 jedoch die Einzigartigkeit (Bild 4). Das Hochwasser 2005 führte zwar lokal zu aussergewöhnlichen Niederschlägen, Abfl üssen, Seeständen und Schäden – über das gesamte betroffene Gebiet und einen längeren Zeitraum betrachtet ist es jedoch nicht mehr als aussergewöhnlich, sondern höchstens noch als selten zu bezeichnen. Mit dem wiederholten Auftreten ähnlicher Ereignisse muss auch in Zukunft gerechnet werden.

Unerwartete Verkettung von Gefahrenprozessen

An sich entsprach die Vielfalt der Gefahrenprozesse im August 2005 dem aus früheren Grossereignissen bekannten Gesamtbild. Zuvor als eher unwahrscheinlich erachtete Prozesskombinationen, wie beispielsweise der auf eine Rutschung zurückzuführende Murgang im Glyssibach bei Brienz BE, führten jedoch 2005 lokal zu unerwartet hohen Intensitäten, das heisst zu grösseren Kräften und auch zu grösseren durch die Prozesse betroffenen Flächen. Eine vollständige Abbildung der möglichen Prozessvielfalt ist bei der Gefahrenbeurteilung, der Massnahmen- oder Notfallplanung nach wie vor nicht möglich. In allen Bereichen wird es somit auch künftig notwendig sein, mit Szenarien zu arbeiten. Wie das Hochwasser 2005 und auch jenes vom August 2007 deutlich zeigen, dürfen dabei wenig wahrscheinliche (aber eben doch mögliche) Szenarien nicht leichtfertig aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. In die Überlegungen sind auch Ereignisabläufe, Verkettungen von Prozessen, Prozessdauer oder Vorgeschichten mit einzubeziehen, die ausserhalb der lokal vorhandenen Erfahrung liegen.

Konsequenzen für die Gefahrengrundlagen

Schäden durch Überflutung, Erosion, Sedimentablagerungen und Rutschungen gab es im August 2005 in knapp 900 Gemeinden. Von diesen Gemeinden verfügte etwa ein Drittel über Gefahrenkarten. Diese erwiesen sich in hohem Mass als zutreffend: Nur an einigen wenigen Orten stimmten die betroffenen Gebiete nicht mit den ausgewiesenen Gefahrenzonen überein. Diese Fälle sind im Rahmen der Ereignisanalyse besonders genau analysiert worden, um daraus Schlüsse für eine verbesserte Gefahrenbeurteilung und deren Umsetzung zu ziehen. Inzwischen ist schweizweit rund die Hälfte der vorgesehenen Gefahrenkarten realisiert worden. Das Hochwasser von August 2005 und jüngere Ereignisse haben die Kartierung beschleunigt. Bis zum Jahr 2011 sollen die Gefahrenkarten gesamtschweizerisch für alle Gemeinden vorliegen und zügig in die Nutzungsplanung Eingang fi nden. Gefahrenkarten sind das meistbeachtete Produkt der Gefahrenbeurteilung. Letztere steht im Zentrum aller gefahrenrelevanten Tätigkeiten und muss die Grundlagen für unterschiedlichste Bedürfnisse liefern. So stellen beispielsweise die als Basis für die Gefahrenkarte dienenden Intensitätskarten eine wichtige Grundlage für die Planung von Objektschutzmassnahmen dar. Mögliche neue Produkte, wie Interventionskarten als Grundlage für die Einsatzkräfte oder Risikokarten für die Finanz- und Versicherungsplanung, sind deshalb ebenfalls direkt aus der Gefahrenbeurteilung abzuleiten.

Bei Schutzbauten den Überlastfall berücksichtigen

Das Hochwasser vom August 2005 und auch jenes vom August 2007 zeigen in aller Deutlichkeit, dass Schutzbauten überlastet werden können. Die Skala bei Naturereignissen ist grundsätzlich «nach oben offen». Die Belastungen durch Wasser, Geschiebe und Schwemmholz, auf welche Schutzbauten ausgerichtet sind, können bei einem seltenen Ereignis erreicht oder überschritten werden.

Hochwasserschutzmassnahmen sind deshalb konsequent auf ihr Verhalten bei ausserordentlichen Ereignissen zu prüfen. Auch bei Belastungen, die über den Dimensionierungswerten liegen (dem so genannten Überlastfall), dürfen Schutzbauten nicht kollapsartig versagen und zu einem unkontrollierten, sprunghaften Anwachsen der Schäden führen. Bei zeitgemässen Schutzkonzepten wird der Überlastfall deshalb immer berücksichtigt, und die vorgesehenen Massnahmen werden entsprechend robust ausgelegt.
Diese Vorgabe erfüllen ältere Schutzbauten aber häufig nicht. Viele Bauwerke aus dem 19. Jahrhundert genügen den heute geltenden technischen und ökologischen Anforderungen nicht mehr. Dazu gehören beispielsweise bedeutende Korrektionswerke wie etwa an der Rhone im Wallis, am Alpenrhein oder das Linthwerk. Auch zahlreiche Schutzbauten, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts errichtet worden sind, müssen erneuert und den heutigen Anforderungen angepasst werden. Ihre Dimensionierung basierte auf den Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1927 und 1977, in der es vergleichsweise wenige aussergewöhnliche Hochwasser gab.

Der landesweite Erneuerungs- und Anpassungsbedarf im baulichen Hochwasserschutz ist entsprechend gross. Im Zuge dieser laufenden Arbeiten dürfen die Folgen des Klimawandels nicht übersehen werden. Sowohl Neubauten als auch Erneuerungsprojekte sind deshalb so zu konzipieren, dass sie mit verhältnismässig geringem Aufwand an neue Rahmenbedingungen – wie höhere saisonale Abfl üsse oder erhöhter Feststofftransport – angepasst werden können.[3]

Die Erfahrungen beim Hochwasser 2005 mit den Massnahmen an der Engelberger Aa im Raum Buochs[7],[9] (Bild 1) und am Humligenbach in Wolfenschiessen[5] (siehe Artikel ab Seite 28 ff.) zeigen, dass der Überlastfall gemeistert werden kann. Die nach modernen Gesichtspunkten robust konzipierten Schutzsysteme haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Schäden an diesen zwei Orten begrenzt blieben, obwohl die Dimensionierungsgrössen massiv überschritten wurden. Um solche den Überlastfall berücksichtigenden Konzepte auch an anderen Orten zu realisieren, bedarf es einerseits des dafür nötigen Raumes undandererseits der Kreativität der planenden Ingenieure, um für den jeweiligen Standort das bestmögliche Konzept zu entwickeln und sich nicht mit Standardlösungen zu begnügen.

Den Notfall vorbereiten

Auch mit robusten Schutzbauten verbleibt ein Restrisiko, das durch permanente oder temporäre Objektschutzmassnahmen (siehe Artikel Seite 34 ff.) und eine adäquate Notfallplanung auf ein akzeptierbares Mass zu reduzieren ist. Insbesondere das Potenzial von temporären (organisatorischen) Massnahmen wie beispielsweise das Aufstellen von mobilen Schutzsystemen zur Begrenzung der Sachschäden ist noch nicht ausgeschöpft, da heute dank neuen Vorhersagemethoden ein Eingreifen bereits vor dem Ereignis möglich ist. Damit diese Möglichkeiten konsequent genutzt werden können, sind verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen. Die wichtigste ist, dass nur geplante, vorbereitete und eingeübte Aktionen Erfolg haben können. Dies bedingt Notfallplanungen, die einerseits auf einer umfassenden Gefahrenbeurteilung und andererseits auf den lokalen Erfahrungen aufbauen müssen. Weiter müssen materielle und personelle Voraussetzungen geschaffen sowie die beteiligten Personen ausgebildet werden. Dies gilt sowohl für Interventionskräfte als auch für Private. Gefahren und Handlungsoptionen müssen bekannt und vorbereitet sein, damit sie durch rechtzeitige Warnung und Alarmierung zeitgerecht ausgelöst werden können.

Anstrengungen in den Bereichen Vorsorge und Intervention zahlen sich rasch aus und sind daher zu forcieren. Ein Beispiel dafür sind die nach dem Hochwasser 2005 im Berner Mattequartier geplanten und eingeübten Interventionsmassnahmen. Sie haben im August 2007 dazu geführt, dass die Schäden in diesem Quartier trotz ähnlich hohen Wasserständen bedeutend geringer waren als noch zwei Jahre zuvor (Bild 5). Zur Verbesserung der Warnung und für den Informationsaustausch vor, während und nach ausserordentlichen Ereignissen befi ndet sich derzeit eine gemeinsame Informationsplattform Naturgefahren (GIN) im Aufbau. Über diese werden künftig die Fachstellen, die sich auf nationaler Ebene mit Hochwassern und anderen witterungsbedingten Naturgefahren beschäftigen, ihre Daten und im Ereignisfall auch gemeinsame Bulletins für die Fachstellen und Einsatzorgane aller Stufen verbreiten. Parallel dazu wird die Nationale Alarmzentrale (NAZ) im Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) zum gesamtschweizerischen Melde- und Lagezentrum auch für ausserordentliche Naturereignisse ausgebaut.

Integrales Risikomanagement umsetzen

Hochwasser wie jenes von 2005 oder noch grössere Naturereignisse können jederzeit auftreten, auch wenn die Erinnerung daran im Bewusstsein der Allgemeinheit rasch verblasst. Damit bei künftigen Ereignissen nicht ähnliche oder noch grössere Schäden auftreten, ist die konsequente Umsetzung des integralen Risikomanagements (Bild 6) notwendig. Dem Einbezug der verschiedenen Akteure in allen Phasen des Risikokreislaufs kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Sensibilisierung der breiten Bevölkerung auf Naturgefahren bildet nicht zuletzt auch für den Ereignisfall eine wichtige Handlungsbasis.

[Gian Reto Bezzola, Dr. sc. techn., dipl. Bauing. ETH, Sektionschef, Bundesamt für Umwelt Bafu, Bern
Christoph Hegg, Dr. phil. nat., Geograf, stv. Direktor a.i. und Programmleiter, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Birmensdorf
Felix Frank, dipl. Geograf, Felix Frank Redaktion & Produktion, Bern
Anja Koschni, dipl. Ing. für Landeskultur und Umweltschutz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL, Birmensdorf]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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