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TEC21 2008|40
Im Sog der Autobahn
TEC21 2008|40
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Der Verkehr geht, ein Quartier erwacht

Um 1930 entstand um den Bullingerplatz ein eindrückliches städtebauliches Ensemble des sozialen Wohnungsbaus. Die Eröffnung der Westumfahrung um Zürich ermöglicht eine Verkehrsreduktion, die als Chance für eine sozialverträgliche Erneuerung genutzt werden soll.

29. September 2008 - Andreas Hofer
Als Zürich um die Wende zum 20. Jahrhundert explosionsartig zur Grossstadt wurde, produzierte dies Stadträume unterschiedlichster Prägung. Die Industrie als treibende Kraft verwandelte im Westen und Norden Riedlandschaften in Fabrikareale. In ihrer Nähe siedelten die zuströmenden Arbeiterfamilien. Städtebau hiess in der Folge Massenwohnungsbau, Infrastrukturbau und Sozialpolitik. In den 1920er-Jahren löste die Tieferlegung der linksufrigen Eisenbahn in den Seebahneinschnitt umfangreiche Planungen aus. Die Stadtplanung gestaltete in der Folge die Entwicklung des Quartiers in einem heute unvorstellbaren Mass und sicherte ihre Ziele durch öffentlichen Landerwerb ab. Leitbild waren grosse Baufelder mit einer strassenbegleitenden Bebauung und durchgrünten Höfen. Ungefähr die Hälfte des Bullinger quartiers gehört heute der Stadt oder Genossenschaften. Den Endpunkt der baulichen Entwicklung markierte in den 1960er-Jahren die städtische Hochhaussiedlung Lochergut. Breite Alleen, ruhige Höfe, fast keine Produktion: Das Bullingerquartier ist eine Insel des gemeinnützigen Wohnungsbaus – allerdings eine umtoste und zerschnittene. Denn seit den 1970er-Jahren belegt die Westtangente die wichtigsten Strassen: Auf Bullinger- und Sihlfeldstrasse und über den Bullingerplatz quält sich der Verkehr in den Süden, auf der Seebahn- und der Hohlstrasse in die Gegenrichtung. Das Quartier ist heute eines der ärmsten der Stadt, hat einen der höchsten Anteile an ausländischer Wohnbevölkerung, aber ihm fehlt die multikulturelle Lebendigkeit des benachbarten Langstrassenquartiers oder des Kreises 5 jenseits des Gleisfeldes.

Verkehrsberuhigung als Chance

Die flankierenden Massnahmen zur Eröffnung der Westumfahrung von Zürich im nächsten Jahr ermöglichen einen Rückbau der Westtangente. Die Bullinger- und die Sihlfeldstrasse werden bis 2012 zu Quartierstrassen. Der (beträchtliche) innerstädtische Verkehr wird auf der Seebahnstrasse konzentriert. So stark, wie der Verkehr das Quartier stigmatisiert und seinen Charakter bestimmt hatte, wird seine Reduktion und Verlagerung an den Rand eine Entwicklungsdynamik auslösen. Die Stärke der gemeinnützigen Bauträger ermöglicht es, diese Transformation ähnlich koordiniert zu gestalten wie seinerzeit den Bau des Quartiers. Diese Chancen fallen mit Überlegungen der gemeinnützigen Bauträger über den Umgang mit ihren Beständen zusammen. Die um 1930 gebauten Siedlungen sind gut unterhalten, die Wohnungen sind aber eng und technisch veraltet. Eine umfassende Erneuerung würde das Quartier wieder für mittelständische Familien attraktiv machen, gleichzeitig aber knappen günstigen Wohnraum zerstören und soziale Verdrängungsprozesse auslösen. Wenn diese Veränderung mit Neubauten geschieht, stellen sich zusätzlich noch denkmalpflegerische Fragen. Es ist weniger die herausragende architektonische Qualität von Einzelgebäuden als die grosse städtebauliche Figur, die das Quartier wertvoll macht.

Der Ideenwettbewerb „Wie wohnen wir morgen?“

Der Schweizerische Verband für Wohnungswesen (SVW, der Verband der gemeinnützigen Wohnbauträger, Sektion Zürich) feierte im letzten Jahr gemeinsam mit der Stadt Zürich 100 Jahre Wohnbauförderung. Das Jubiläum sollte neben dem Rückblick auf eine stolze und in der Schweiz einmalige Erfolgsgeschichte auch für das Weiterdenken des gemeinnützigen Wohnungsbaus in die Zukunft genutzt werden. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb war die Plattform. Als Projektperimeter standen das Bullingerquartier und das Quartier Leutschenbach, ein Entwicklungsgebiet im Norden von Zürich mit einem grossen Wohnpotenzial, zur Verfügung. Die Aufgabe war breit und offen formuliert. Es ging nicht nur um architektonische Entwürfe oder die Umsetzung eines Raumprogramms, sondern um den möglichen Beitrag des gemeinnützigen Wohnungsbaus zur Entwicklung der Stadt. 40 Teams, darunter 15 aus dem Ausland, stellten sich dieser Herausforderung mit ganz unterschiedlichen Konzepten. Die Jury vergab am Schluss sechs Preise, ohne diese zu rangieren.

Im Entwicklungsgebiet Leutschenbach bot die Situation wenig Anknüpfungspunkte. Die Frage war zu offen gestellt; das verleitete zu öko-technokratischen Megastrukturfantasien. Doch die negativen Erfahrungen mit den Grossplanungen im 20. Jahrhundert wirken nach: Architektur und Städtebau haben noch keine gemeinsame Sprache gefunden. Diesem Dilemma wichen eine Reihe von Autorinnen und Autoren aus, indem sie die Frage nach dem Wohnen der Zukunft auf abstrakte, poetische Weise zu beantworten suchten. In ihren Collagen wird die Stadt zum Spannungsfeld, in dem sich das intime Wohnen und der kommunikative Austausch im öffentlichen Raum überlagern. Zwei dieser Arbeiten erhielten einen Preis. Die vier anderen Preisträger beschäftigen sich mit dem Bullingerquartier. Das bestehende Quartier erwies sich als vielversprechendes Feld für die Weiterentwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Alle Projekte setzten beim Potenzial des absehbaren Wandels an: Die Entlastung der Strassenräume gibt dem reinen Wohnquartier Öffentlichkeit. Teilweise verblüffend ähnliche Projekte schlugen einen Transformationsprozess mit wenig baulichen Massnahmen, einer Neuinterpretation des Hof- und Strassenraums und Software – Kooperationen und Kommunikation im Quartier – vor.

Quartiervernetzung als Pilotprojekt

Erfreulicherweise hat der Ideenwettbewerb in beiden Perimetern konkrete Folgen. In Leutschenbach sprach die Stadt Zürich der für diesen Zweck neu gegründeten Baugenossenschaft «mehr als wohnen» ein Grundstück im Baurecht zu. Hier soll eine experimentelle Wohnsiedlung entstehen; zurzeit läuft der Projektwettbewerb. Im Bullingerquartier führte die Diskussion der Wettbewerbsresultate zu einer Vernetzung der Baugenossenschaften. Nach einer internen Diskussionsrunde gelangten sie an die Stadtverwaltung und schlugen Gespräche vor, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. In der ersten Jahreshälfte 2008 fanden zwei Workshops statt. Die beteiligten Amtsstellen, die Genossenschaften, der Quartierverein, die Kirchgemeinden und die Schulpflege diskutierten die künftige Entwicklung. Diese Gespräche mündeten in Leitsätze für die Erneuerung des Quartiers.

Zusammen mit den Ideen des Wettbewerbs steht damit ein gut gefüllter Werkzeugkasten für die weitere Entwicklung zur Verfügung: Um den verkehrsberuhigten Bullingerplatz soll ein Zentrum für das Quartier entstehen. Kommerzielle (Café) und soziale Infrastrukturen (Spitex, Mehrzwecksaal) schaffen eine grössere Öffentlichkeit. Die gemeinnützigen Bauträger fördern die Belebung der Erdgeschosse mit Gemeinschaftsräumen, Waschsalons, Ateliers und der Ansiedlung von Klein gewerbe, Krippen und Horten. Das Fusswegnetz kann unter Einbezug der Höfe enger geknüpft werden. Einzelne Höfe übernehmen Funktionen für das ganze Quartier. Der tiefe Motorisierungsgrad soll als Chance genutzt werden: Wenn die Parkierung in bestehenden Tiefgaragen am Rand konzentriert wird, entsteht ein verkehrsarmes Quartier. Eine Machbarkeitsstudie klärt siedlungsübergreifend das Potenzial von Ersatzneubauten ab. Der Ersatz einzelner Siedlungen an immissionsbelasteten Standorten ermöglicht eine massive Steigerung der Wohnqualität und eine Ergänzung des Angebotes mit zeitgemässen Familienwohnungen und altersgerechtem Wohnraum.

Der eingeschlagene Weg verspricht eine behutsame Erneuerung und eine Aktivierung der Potenziale im öffentlichen Raum. Das Bullingerquartier als Monument des Kampfes gegen die Wohnungsnot wird durch diesen Prozess vielleicht etwas von seiner architektonischen Homogenität und Strenge verlieren, aber als Stadtquartier an Vielfalt, Attraktivität und Zukunftsfähigkeit gewinnen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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