Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 11|2008
Genius Loci
db deutsche bauzeitung 11|2008

Bedarf die Architektur narrativer Strategien, um den Orten zu begegnen?

4. November 2008 - Ira Mazzoni
In Weimar führt am Hang gegenüber von Goethes Gartenhaus ein schmaler Pfad zum »Schlangenstein«, der 1787 auf herzoglichen Befehl dem »genius huius loci« gewidmet wurde. Die Klassik bemühte an diesem abgeschirmten Gartenplatz ihr historisches Wissen um römische Rundaltäre, die persönlichen oder örtlichen Schutzgeistern geweiht waren. Mit der Denkmalsetzung in der Parkanlage reagierten die Verantwortlichen weniger auf eine (gestaltete) Besonderheit dieser Stelle, sie schufen sie erst und zeichneten sie expressis verbis aus, um damit die empfindsame Reflektion aller nachfolgenden Gartenbesucher in ihrem Sinne zu lenken.

Die Besinnung auf einen Genius loci, den Geist des Ortes, wird in letzter Zeit wieder häufiger in die Architekturdebatten eingebracht. Die Inflation exzentrischer Signature Architecture, die bedenkenlos weltweit plagiiert wird, und der Überdruss an einer allgegenwärtigen Konsens-Modernität fördern die bisweilen verzweifelt wirkende Orientierungssuche. Doch wie das Beispiel aus Weimar zeigt, ist auf den Genius loci kein Verlass. Er ist, wenn man so will, ein literarisches Produkt, das sich aus persönlicher Anschauung, Erinnerung und eigenem sinnlichen Erleben konstruiert. Ein Genius loci ist nie immer schon da, sondern er wird beschworen und bezeichnet, künstlich, künstlerisch und architektonisch.
Die Beschäftigung mit dem Genius loci ist also ein ganz und gar sensibles und unwägbares Thema. Dies stellte auch der aus dem ehemaligen Architekturforum Tirol hervorgegangene Verein »aut. architektur und tirol « fest, als er im Sommer 2007 hundert Architekten bat, ihren persönlichen Genius loci zu fotografieren und zu kommentieren. Einleitend wiesen die Veranstalter darauf hin, dass immer dann vom Genius loci gesprochen werde, wenn ein Ort »auf eine nicht näher zu beschreibende Weise etwas Anziehendes hat, eine besondere Aura, Atmosphäre, Stimmung, die nicht unbedingt mit Schönheit eines Ortes zu tun haben muss; ein Ort mit einem einzigartigen, ihm innewohnenden Charakter – einer besonderen Ausstrahlung«. Mit dem nicht Beschreibbaren, Atmosphärischen kommt das subjektive Empfinden ins Spiel. Lohnt es sich da überhaupt noch, über den Genius loci in Bezug auf Architektur nachzudenken, zu debattieren? Sind die Diskurse, die sich auf den Genius loci beziehen, nicht zu verschieden, um daraus für die Architektur überhaupt Orientierung ableiten zu können? Ist der Genius loci nicht nur eine individuelle Projektion? Oder eine individuelle Relation zu etwas, das irgendwo vor Ort vorhanden sein soll? Andererseits: Wäre nicht ein Bewusstmachen des individuellen, auch intuitiven Verhaltens zu einem selbst erlebten Ort schon ein Gewinn für die Baukultur? Das Bekenntnis zu subjektivem, sinnlichen Erleben und die Umsetzung in ganz persönliche architektonische Erzählungen, die sich nicht in ein Bild fassen lassen, könnte die Formgebung beflügeln.

Aura, Atmosphäre, Charakter, das waren auch Ende der siebziger Jahre die Stichworte, als Christian Norberg-Schulz von Martin Heideggers Aufsatz »Bauen Wohnen Denken« ausgehend eine Phänomenologie des Raumes versuchte und den Genius loci zum neuen Leitstern der Architekten ausrief. Der Genius loci, so postulierte Norberg, gehe »mit der Identität des Ortes einher«. Seitdem wurde viel über sogenannte Identitäten diskutiert. Dem Genius loci war vor allem in regionalen Bauschulen, allen voran der Tessiner, eine gewisse Nachhaltigkeit beschieden. Mit Aldo Rossi blickte die nachfolgende Generation auf die materielle Geschichte der Stätten und nahm Bezug auf kollektive, kulturelle oder individuelle Erinnerungsbilder.

Aber hat nicht gerade der Kritische Regionalismus und in seinem Fahrwasser der unkritische Provinzialismus dem Gerede vom Genius loci ein schnelles Ende bereitet? Ist der Mythos nicht längst zum marktgängigen Produkt verkommen? Wurde und wird nicht gerade mit der »Identität« als letzter Wahrheit jedes noch so unsinnige
Bauvorhaben zwingend begründet?

Landauf, landab werden die Geister des Ortes beschworen. In der Architektur wie in der Denkmalpflege. Der Genius
loci muss herhalten, um historische Bauplätze neu zu belegen. Mit dem Hinweis auf längst Vergessenes werden entweder vermeintliche Reproduktionen oder Analogien gerechtfertigt.

Seit der Konferenz des Internationalen Denkmalrates ICOMOS im japanischen Nara 1994, die versuchte, den kulturellen Differenzen bezüglich des Bewahrenswerten gerecht zu werden, sind auch hierzulande Strömungen erkennbar, »Authentizität« nicht mehr vorrangig mit materiell Tradiertem zu identifizieren. Der scheidende Bayerische Generalkonservator und spätere Präsident von ICOMOS-International, Michael Petzet, führte 1999 in einem Gespräch mit der Autorin aus: »Authentisch ist nicht nur das Material, sondern ebenso der Entwurf und die Form, dann die Technik, die Nutzung, der historische Ort. Und dann gibt es natürlich noch den authentischen Geist. Der authentische Geist, der fasst Aura und Spur des Denkmals zusammen.«

Vor allem die immer breiter werdende Phalanx der Rekonstruierer argumentiert mit einem ominösen Ortsgeist, der über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte an völlig veränderten Orten überdauere. So mischte sich der ICOMOS-Weltpräsident als Anwalt des Ortsgeistes jüngst ungebührlich in das Wettbewerbsverfahren um die städtebauliche Klärung des Weltkulturerbes Dessau ein, indem er seine Autorität für die Rekonstruktion des Gropius-Meisterhauses einsetzte. Genauso, wie er ein Jahr zuvor en passant mit ein paar gezielt beiläufigen Bemerkungen den Chipperfield-Entwurf für das Entree des Neuen Museums in Berlin torpedierte.

Letztlich geht es bei dieser Art von Geisterbeschwörung nur um Marketingstrategien, das Image einzelner Städte postkartentauglich mit dem Nimbus von Geschichtlichkeit und Permanenz aufzupolieren. Da wird dann auch schon einmal ein störendes, vielstöckiges Schwesternwohnheim aus dem weißen Klassizismustraum herausretuschiert (Frankfurt), der de facto kein patrizisches Umfeld mehr besitzt.

Wenn man sich also auf den Genius loci beruft, tun sich Abgründe divergierender Diskurse auf. Dennoch scheint es kein illegitimes Anliegen, sich den Orten intensiver zu widmen, die durch »Identität, Relation und Geschichte« gekennzeichnet sind, um den weitverbreiteten Nicht-Orten (Marc Audé) genauso zu entgehen wie dem billigen Kitsch.

Auf der Suche nach einem Ansatz, der eine erneute, seriöse Auseinandersetzung mit dem Genius loci rechtfertigt, fielen mir die »Sechs Themen für das nächste Jahrhundert« in die Hand, die der finnische Architekt Juhani Pallasmaa 1994 formulierte. Im Abschnitt vier widmete er sich dem zugegeben schwierigen und vieldeutigen Begriff der Authentizität: »Unabhängig davon, und von dem etwas modischen Klang des Begriffs selbst, möchte ich mich jedoch für die Möglichkeit und Bedeutung der Authentizität in der Architektur stark machen. Authentizität wird oft mit der Vorstellung von künstlerischer Autonomie und Originalität gleichgesetzt.

Ich verstehe unter Authentizität jedoch eher die Eigenschaft des tiefen Verwurzeltseins in den Schichtungen von Kultur. Gefühle und Reaktionen sind in der Welt des Konsums in zunehmendem Maße gesteuert. Wir brauchen daher Werke der Kunst und der Architektur, um die Autonomie der emotionalen Reaktion zu verteidigen. In der Welt des Unauthentischen und der Simulation brauchen wir Inseln der Authentizität, die unsere Reaktionen in autonomer Weise in uns wachsen lassen und es uns ermöglichen, uns mit unseren eigenen Gefühlen zu identifizieren.« Eine solchermaßen verantwortliche, authentische Architektur, die auf einen Ort reagiert und/oder ihn selbst generiert, wäre zweifellos etwas anderes als eine bildliche Entsprechung von etwas bereits Vergangenem und Überlebtem. Noch ein Anliegen Pallasmaas scheint in unseren Kontext zu gehören: die Stille. »Auch große Architektur bewirkt Stille. Das Erfahren eines Gebäudes ist nicht nur eine Frage des Ansehens seiner Räume, Formen und Oberflächen – nein, es ist auch eine Frage des Horchens auf seine charakteristische Stille.«
Wie aber sähe eine zeitgenössische Architektur aus, die sich einem Genius loci verpflichtet fühlt, die Charakter hat, authentisch ist und still? Eine schwierige Frage. Pallasmaa meinte, die Architektur müsse nach dem Lyrischen streben.

Vielleicht reicht es aber, wenn sie statt bildlicher Strategien narrative Verfahren entwickelt, um sinnlich zu fesseln. Wie sähe eine narrative Architektur aus, die nicht geschwätzig ist? Die keinen regionalen Kitsch produziert?

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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