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TEC21 2008|46
Umgangskultur
TEC21 2008|46
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Erfolg oder Schadenfall - Vier Szenarien

Eine gute Umgangskultur innerhalb eines Ingenieurbüros kostet Zeit und setzt eine hohe gegenseitige Wertschätzung unter den Mitarbeitenden voraus. Doch der Aufwand lohnt sich. Eine funktionierende, nicht auf formalisierte Abläufe beschränkte Kommunikation trägt dazu bei, Fehler zu vermeiden. Vier fiktive Szenarien zeigen beispielhaft, wie sich eine einfache Alltagssituation zur Katastrophe oder zum Erfolg entwickeln kann. So haarsträubend manche Geschichte tönen mag – nicht selten übertrifft die Realität die Fiktion.

10. November 2008 - Andreas Galmarini
«Sollte ein Planfehler passieren, wirkt die Kopfwaschung durch den Polier oder den Eisenleger eindringlicher auf den Schuldigen als durch den Vorgesetzten. Irren ist menschlich. Doch Aufrichtigkeit im Eingestehen des Fehlers und Energie bei dessen Korrektur zeugen von Haltung und Charakter. Das Urteil über einen Menschen kann sogar gestärkt aus einem passierten Irrtum hervorgehen», sagte der Schweizer Ingenieur Emil Schubiger 1964 zu Fachhochschulabsolventen in seinem Vortrag «Kompetenz und Verantwortung» und gab ihnen so einen Einblick in seine Auffassung von Umgangskultur.

Formalisierte und informelle Vorgehensweisen

«Umgang» wird in unserem Zusammenhang als «Beziehung mit jemandem» und «Hantieren oder Beschäftigen mit etwas» definiert. «Kultur» kann als «gängige Praxis» oder «Tradition» verstanden werden. Die Umgangskultur im Ingenieurbüro beschreibt demnach die Beziehungen der Mitarbeiter untereinander und mit Drittpersonen, aber auch die Art und Weise, wie sie sich mit ihren Aufgaben beschäftigen.

Ein formeller Grundstein der Umgangskultur eines Büros findet sich häufig im Firmenleitbild. Prozessdefinitionen, Businessintegritätsmanagement und QS-System gehören ebenfalls zu den Dokumenten, die Beziehungen, Kommunikation und Arbeitsabläufe oder Teilbereiche davon regeln. Häufig beinhalten auch Verträge mit Kunden, Subunternehmen oder Arge- Partnern Teile, die Abläufe und Kommunikation beeinflussen. Die Organisation einer Firma – und die damit festgelegten Kompetenzen und Verantwortlichkeiten – strukturieren die Beziehungen und Abläufe und beeinflussen damit die Umgangskultur.

Ein informeller Umgang findet in den Netzwerken der Mitarbeitenden statt. Diese Netzwerke bestehen sowohl aus internen als auch aus externen persönlichen Kontakten; ihre Ausrichtung, Tiefe und Nutzung ist Teil der Umgangskultur in einem Büro.

Gute Vorbilder sind unerlässlich

Die International Federation of Consulting Engineers (FIDIC) skizziert in ihrem Code of Ethics Wertvorstellungen, die auf Verantwortung gegenüber Gesellschaft und Berufsstand, auf Kompetenz, Integrität, Unparteilichkeit, Fairness und Unbestechlichkeit basieren. Ob zum Beispiel die Geschwindigkeit oder die Qualität der Arbeit höher gewichtet wird, verändert die Arbeitseinstellung grundlegend. Doch auch das hehrste Leitbild bewirkt wenig, wenn es nicht gelebt wird.

Dazu gehört erstens das Vorleben dieser Werte durch die leitenden Mitarbeiter, zweitens das Schaffen von Rahmenbedingungen, die es den anderen ermöglichen, diesen Werten nachzuleben, und drittens Ausbildung und Kontrolle, damit sie dies auch tun. Gleiches gilt für Qualitätssicherungssysteme und ähnliche Dokumente: Wenn der Chef die Kosten der Qualitätssicherungsmassnahmen in der Offertstellung nicht berücksichtigt, fehlen dem Projektleiter die Mittel, diese umzusetzen; und wenn der Projektleiter seine Berichte nie kritisch überprüfen lässt, wird es der Praktikant mit seinen Berechnungen wahrscheinlich auch nicht tun.

Qualitätssicherung und Kommunikation - Vier Szenarien

Wie sehr Qualitätssicherung und nichtformelle Komponenten der Umgangskultur zusammenhängen, soll folgendes Beispiel illustrieren: Ein frisch ausgebildeter Ingenieur wird von seinem Projektleiter aufgefordert, eine Stützenstatik zu erstellen, diese von einem zweiten Ingenieur prüfen und die Prüfung auf dem entsprechenden Formular quittieren zu lassen – wie dies im QS-Handbuch verlangt sei.

Szenario 1: Der junge Ingenieur legt spätabends seine Querschnittsnachweise zusammen mit dem ausgedruckten QS-Formular auf das Pult seines Kollegen, den er von der gemeinsamen Studienzeit kennt und der schon nach Hause gegangen ist. Zwei Tage später liegen die Berechnungen wieder auf dem Pult des jungen Ingenieurs mit der Bemerkung, dass ein Rundungsfehler passiert sei und es 53 statt 52 Armierungseisen brauche. Die Ausführung mündet in einen grossen Schadensfall.

Szenario 2: Nachdem der junge Ingenieur seine Berechnungen fertig gemacht hat, fragt er seinen Projektleiter, welchem älteren Kollegen er seine Berechnung zur Prüfung geben dürfe. Der Projektleiter antwortet, dass ein erfahrener Ingenieur im oberen Stock nicht gut ausgelastet sei und daher Zeit für die Prüfung hätte.

Dieser Ingenieur, der sich in seiner langjährigen Karriere vor allem mit Geotechnik und Baugrubenabschlüssen beschäftigt hat, nimmt sich der Prüfaufgabe an und verlangt als Erstes die relevanten Pläne. Er stellt fest, dass die in der Berechnung angenommene Stützenhöhe nicht mit derjenigen in den Plänen übereinstimmt, und bestellt den Verfasser zu einer Bereinigungsbesprechung. Im Gespräch stellt sich zudem heraus, dass die Berechnungen auf einem überholten Planungsstand basieren und dass sich in der Zwischenzeit auch die Lasteinzugsfläche vergrössert hat, sodass eine Verdoppelung der Anzahl Armierungseisen nötig ist. Während der Ausführung wird die Weichheit des Tragwerks bemerkt.

Dass nachträglich noch ein Windverband ergänzt werden muss, sorgt für eine gewisse Irritation der am Bau Beteiligten.Szenario 3: Der junge Ingenieur stellt ein Berechnungsmodell der Stütze auf. Da er sich etwas unsicher fühlt, bittet er seinen «Götti» – einen erfahrenen Hochbauer, der ihm beim ersten Arbeitstag zugewiesen wurde – um einen Termin. Dabei wird klar, dass zur Sicherung der Gesamtstabilität ein Windverband nötig ist. Zurück im Büro, passt der junge Ingenieur seine Berechnungen dem neuen Konzept an und gelangt an den Projektleiter, um die Windverbände in die Pläne einfliessen zu lassen. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sich das Projekt auch sonst weiterentwickelt hat und die Berechnungen nochmals anzupassen sind. Die abschliessende Prüfung durch den «Götti» führt zu kleineren Anpassungen der konstruktiven Durchbildung der Stützenanschlüsse an die Berechnungsannahmen. Die Ausführung und die Inbetriebnahme des Bauwerks verlaufen problemlos.

Szenario 4: Nachdem der junge Ingenieur ein Berechnungsmodell für die Stütze aufgestellt hat, gelangt er damit zum älteren leitenden Ingenieur, mit dem er am Firmensporttag im Team war und dabei zufällig erfahren hat, dass dieser während des Wettbewerbs für die Konzeptentwicklung mit dem Architekten verantwortlich war. Der ältere Ingenieur sieht sich die Modellbildung an, weist ihn als Erstes auf das Fehlen eines Windverbandes im Modell hin und erläutert das Wettbewerbskonzept. Im anschliessenden Gespräch wird die Möglichkeit erörtert, Stützen als Rahmenstiele auszubilden, um die Gesamtstabilität zu gewährleisten und auf Windverbände verzichten zu können. Der ältere Ingenieur meint, dass der Fokus im Wettbewerb nicht auf diesem Aspekt gelegen habe, aber dass sich eine solche Lösung hier anbieten würde. Nach einer kurzen Diskussion über die Vor- und Nachteile kommt das Gespräch auf die Unterschiede in der konstruktiven Durchbildung, und der ältere Ingenieur erwähnt, dass der Konstrukteur im unteren Stock besonders stark bei der Detaillierung solcher Anschlüsse sei. Der junge Ingenieur fragt beim Projektleiter nach, mit welcher Lösung er weiterfahren soll, was zu einer gemeinsamen Sitzung beim Architekten führt. Dieser freut sich, trotz den etwas höheren Baukosten den Windverband loswerden zu können, weil dieser einen Durchgang verunmöglicht und die Nutzung beeinträchtigt hätte. Nach dem Anpassen der Statik, sensibilisiert durch das Gespräch, überprüft der junge Ingenieur die Pläne der Stützenanschlüsse. Mithilfe des empfohlenen Konstrukteurs können Details, die schwierig auszuführen scheinen, schnell optimiert werden. Die abschliessende Prüfung durch den Projektleiter fördert einen Flüchtigkeitsfehler in den Berechnungen zutage, was eine geringfügige Anpassung der Anzahl Armierungseisen zur Folge hat. Die Ausführung verläuft plangemäss, und im täglichen Betrieb freut man sich über den nützlichen Durchgang.J

Jeder Einzelne trägt Verantwortung

Diese etwas überspitzten Szenarien sollen aufzeigen, dass formelle Regelungen nicht ausreichen, um Qualität zu garantieren, und dass gute Umgangskultur einer Firma auch etwas kostet – indem zum Beispiel den teuersten, erfahrenen Mitarbeitern die Zeit zur Verfügung gestellt wird, sich junger Mitarbeiter anzunehmen, und indem der Aufbau von Netzwerken gezielt gefördert wird. Dem könnte man entgegnen, dass Regelungen und Prozesse nur präzise genug definiert werden müssten, um Fehler zu vermeiden. Doch Handbücher sollten schlank und einfach gehalten sein, um gebrauchstauglich zu bleiben; und ein guter, angenehmer, nicht ins letzte Detail geregelter Umgang trägt wesentlich zur Arbeitsfreude und damit zum Leistungswillen bei. Mit diesen Szenarien soll auch gezeigt werden, dass jeder einzelne Mitarbeiter die Verantwortung trägt, sich bei Unsicherheiten Hilfe zu holen und seine Aufgabe nicht nur dem Buchstaben getreu, sondern möglichst auch sinngemäss zu erfüllen. Dies kann gefördert werden durch gute Vorbilder, durch eine Informationspolitik, die nicht auf einem reinen «need to know»-Konzept basiert, und durch das Bilden von Projektteams mit entsprechendem Teamgeist. Wichtig ist aber auch, dass die erwähnte Verantwortung durch die leitenden Mitarbeiter tatsächlich übertragen wird; «Bauchweh-Meldungen» von Mitarbeitern ist mit fachlicher Unterstützung zu begegnen. Auch die Wichtigkeit der mündlichen Kommunikation kommt in diesen Szenarien zutage: Das alleinige Absenden schriftlicher Information ist meist nicht genug, nur in einem Gespräch können der Kontext und der Sinn «zwischen den Zeilen» diskutiert, gemeinsame Ziele vereinbart und die korrekte Interpretation der Information kontrolliert werden. Um mit Bernard Shaw zu schliessen: «The danger of communication is assuming that it has taken place.»

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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