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TEC21 2008|46
Umgangskultur
TEC21 2008|46
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Qualitätssicherung von Ingenieurleistungen

Ingenieurinnen und Ingenieure sind heute besser ausgebildet denn je, sie können auf mehr Wissen und eine bessere Technik zurückgreifen als ihre Vorgänger – und dennoch steigt die Zahl der Schadenfälle. Die Autoren führen dieses beunruhigende Phänomen auf das Fehlen einer guten Umgangskultur zurück: Fachleute haben kaum noch die Möglichkeit, aktiv in Projekt abläufe einzugreifen, weil die Qualität ihrer Leistungen zunehmend nur an technischen Aspekten gemessen wird. Auf eine undankbare Rolle als Problemlöser reduziert, können sie ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht mehr wahrnehmen. Bessere Arbeitsbedingungen tun not.

Die Qualität von Ingenieurleistungen spielt eine wichtige gesellschaftspolitische Rolle. Entwurf, Bemessung, Ausführung, Instandhaltung und Rückbau von Anlagen – sei es in den Sektoren Industrie, Infrastruktur oder Wohnen – bestimmen die gebaute Umwelt und bilden gleichsam das Rückgrat der Gesellschaft. Hinzu kommt, dass Ingenieurleistungen oft mit beträchtlichen Risiken verbunden sind: Sie beeinflussen nicht nur die Wirtschaftlichkeit des einzelnen Bauwerks und die Qualität der gebauten Umwelt, sondern ganz direkt auch die Sicherheit von Personen.

Wie viel die Gesellschaft in die Sicherheit von Bauwerken zu investieren bereit ist, bestimmt sie selbst. Weil ein höheres Sicherheitsniveau mit höheren Kosten einhergeht, ist die Sicherheit der gebauten Umwelt unmittelbar mit der Wirtschaftlichkeit und der Qualität der Ingenieurleistungen verbunden. Diese haben somit einen massgebenden Einfluss auf die Lebensqualität einer Gesellschaft.

Mehr Schäden trotz höherem Wissensstand

Sowohl in der Schweiz als auch in vielen anderen Ländern, mit denen wir uns gerne vergleichen, wurde in den letzten Jahren intensiv über die Sicherstellung der Qualität von Ingenieurleistungen debattiert. Der Grund für diese Diskussion ist eine auf den ersten Blick erstaunliche Beobachtung: Obwohl die «best practice» dank einer Zunahme des technischen Wissens, der Fähigkeit und der Erfahrung der Beteiligten sowie dank der Einführung von umfassenden und standardisierten Prozessen zur Qualitätssicherung (etwa ISO 9000) verbessert werden konnte, steigt die Zahl der Schadenfälle – und damit auch die Kosten. Konkret bedeutet das: Trotz höheren Investitionen ist es nicht gelungen, die Sicherheit der Bauwerke zu steigern. Die Präferenz der Gesellschaft, in die Sicherheit zu investieren, konnte nicht gebührend berücksichtigt werden.

Eine nachhaltige, positive Entwicklung unserer Gesellschaft hängt weiterhin in erheblichem Masse von unserer Fähigkeit ab, beschränkte Ressourcen gezielt einzusetzen. Dies gilt nicht zuletzt auch für Investitionen in die Erstellung und den Betrieb von Bauten beziehungsweise in die Instandhaltung der gebauten Umwelt. Eine solche Zuteilung ist auf der Basis von Risikobewertungen – oder allgemein von Kosten-Nutzen-Analysen – möglich; die tatsächlich erreichte Effizienz hängt jedoch von der Qualität der Ingenieurleistungen ab, in die wir investieren.

Die grosse und drängende Frage ist deshalb: Wie können wir die Qualität von Ingenieurleistungen verbessern? Um eine Antwort zu finden, müssen wir uns mit dem Begriff der «besten Praxis» im Ingenieurwesen auseinandersetzen.

Der Begriff „Best Practice“ im Ingenieurwesen

Traditionell werden Ingenieurleistungen als technische Leistungen verstanden. Aus diesem Grund sind die Bemühungen, die die Berufsgruppe der Ingenieure zur Sicherstellung und Erhöhung der Qualität unternimmt, auf technische Aspekte fokussiert. «Best practice» ist in Normen, Standards und anderen Regelwerken – zum Beispiel Swisscodes und Eurocodes – festgelegt und dokumentiert. Diese Normenwerke wurden in der Regel auf der Basis langjähriger Erfahrung und fundierten technischen Wissens von Ingenieurvereinen und technischen Ausschüssen entwickelt, und sie haben sich in der Praxis auch gut etabliert. Dennoch darf nicht vergessen gehen, dass Ingenieurleistungen von Menschen erbracht werden und dass die Qualität dieser Leistungen daher nicht nur technische Aspekte beinhaltet. Dies ist ein wesentlicher Punkt, den es unbedingt zu berücksichtigen gilt, um die Qualität sicherzustellen. Wir müssen nicht nur die technischen Lösungen selbst, sondern auch ihre Entwicklung und Implementierung untersuchen. Mit anderen Worten: Nicht nur das Ergebnis einer Aktivität, sondern auch die Prozesse, die zu diesem Ergebnis geführt haben, müssen betrachtet werden. In diesem Sinne muss auch der Begriff «best practice» erweitert werden.

Die Qualität von Ingenieurleistungen kann als Produkt der Faktoren Mittel, Möglichkeiten und Motive angesehen werden. Die Mittel sind qualifizierte menschliche Ressourcen – Ingenieurinnen und Ingenieure, die die bestehenden technischen Möglichkeiten beherrschen, Kenntnisse haben und auf Wissen zurückgreifen können. Die Möglichkeiten werden durch adäquate organisatorische Massnahmen gewährleistet, indem den einzelnen Ingenieurinnen und Ingenieuren die Möglichkeit gegeben wird, gute Leistungen zu erbringen. Das Motiv für das Erbringen qualitativ hochstehender Dienstleistungen schliesslich ist in vielen Studien untersucht worden. Alle nennen als wichtigste Voraussetzung, dass den Ingenieurinnen und Ingenieuren die Möglichkeit zugestanden wird, Qualität zu erarbeiten und sie zu beeinflussen, Wissen anzuhäufen und zu teilen, Verantwortung zu übernehmen.

Respekt, Kollegialität und Offenheit als Voraussetzung

Gehen wir von der Annahme aus, dass das Potenzial organisatorischer Massnahmen und einer optimalen, von Qualitätssicherungsprozessen wie ISO-unterstützten Führung bereits ausgeschöpft ist. Nehmen wir weiter an, dass die Fragestellungen bezüglich der Mittel inklusive der Rekrutierung, der Wissensansammlung, der Schulung, der Ausbildung und der Wissensteilung im selben standardisierten Rahmen abgesichert sind. Dann repräsentiert das Motiv die komplexe Interaktion zwischen allen anderen Faktoren, welche die Qualität beeinflussen. Diese Interaktion können wir auch als Umgangskultur bezeichnen – und es versteht sich von selbst, dass sie äusserst schwer zu standardisieren ist.

Viele Aspekte, die die Umgangskultur beeinflussen, hängen mit den beiden oben erwähnten Faktoren Möglichkeiten und Mittel zusammen. Sie betreffen das Zusammenwirken von Auftraggebern, Architekten, Ingenieuren und Unternehmern. Unbestritten ist, dass eine gute Umgangskultur nur dann nachhaltig gewährleistet werden kann, wenn es eine respektvolle, kollegiale und offene Arbeitskultur unter allen am Projekt Beteiligten gibt: Die Verantwortung der Ingenieure und das Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten beeinflussen die Qualität der Arbeit massgebend. In dieser Hinsicht können Ingenieurleistungen mit den Dienstleistungen von Ärzten und Rechtsanwälten verglichen werden. So gesehen leuchtet es ein, dass die Verantwortung der einzelnen Ingenieurin, des einzelnen Ingenieurs sehr gross ist. Daher ist es folgerichtig, das Problem der Qualitätssicherung aus ihrer Perspektive zu betrachten. Auch für die nichttechnischen Aspekte der Ingenieurleistungen muss «best practice» umfassend definiert, dokumentiert und umgesetzt werden, um das Qualitäts- und Verantwortungsbewusstsein zu schärfen.

Theoretische Erkenntinsse in der Praxis berücksichtigen

Die Ingenieure müssen also Arbeitsbedingungen definieren und durchsetzen, die es ihnen ermöglichen, Verantwortung zu übernehmen und sich in die Prozesse aktiv einzubringen. Dies kann mittels einer expliziten Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Ingenieurgeschehen, die eine vollständige und logische Definition der Leistungen festlegt und auch Fragestellungen enthält, die die Sicherstellung der Qualität der Leistung betreffen – zum Beispiel, wie eine effiziente Nutzung von Erfahrung und bestem Wissen sichergestellt wird, inwiefern externe und interne Erfahrungen genutzt werden, wie mit Problemen im Prozessablauf umgegangen wird und wie diese zu bewältigen sind.

Diese Verhaltensregeln mögen vielleicht banal erscheinen, betrachten die Ingenieure solche Regeln doch bereits als Teil der bestehenden «best practice». Die Frage aber bleibt: Wenn alle Beteiligten sich über solche Regeln einigen können, warum fällt es uns immer noch derart schwer, eine gute Umgangskultur sicherzustellen?

Das Problem liegt wohl darin, dass die am Projekt Beteiligten sich oft nur in der Theorie einigen – doch der Berufsalltag ist vom Ideal leider weit entfernt. Ingenieurinnen und Ingenieure kämpfen mit veränderlichen Projektdefinitionen, mit knappen Abgabeterminen, mit Anforderungen an die Wirtschaftlichkeit und mit vielen weiteren, teilweise widersprüchlichen Randbedingungen. Obwohl die Leitung der Projekte Qualität fordert, wird dies nicht eindeutig kommuniziert: Allzu oft wird der Erfolg am Zeitbedarf und am kurzfristigen wirtschaftlichen Ertrag gemessen. Die Qualitätssicherung ist zu wenig in die Struktur der Geschäftsführung integriert und wird anderen – externen und internen – Personen überlassen, die nicht direkt in das tägliche Geschäft involviert sind. Unter diesen Bedingungen fallen Ingenieurinnen und Ingenieure zu oft in die Rolle des «Feuerlöschers» zurück. Dieser Umstand ist äusserst problematisch, denn er belastet die Umgangskultur – und damit einen der Haupteinflüsse auf die Qualität der Ingenieurleistung.

Fachleute, Schulen und Verbände müssen aktiv werden

Hier besteht also Verbesserungsbedarf. Ingenieurinnen und Ingenieure müssen auf Arbeitsbedingungen beharren, die mit ihrer Rolle in der Gesellschaft und mit ihrer Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen in Übereinstimmung stehen. Die Qualität von Ingenieurleistungen muss im Vordergrund stehen und durch Wissen, Innovation und Sorgfalt gewährleistet sein. Selbstverständlich müssen auch Kosten und Termine optimiert werden, aber immer mit dem klaren Ziel, die Qualität zu fördern. Das ist sowohl für die Auftraggeber als auch für die Ingenieure wichtig; der wirtschaftliche Gewinn darf nicht das einzige Motiv der Ingenieurleistung sein.

Die Auseinandersetzung mit der Umgangskultur bei Ingenieurleistungen und die Verbesserung dieser Umgangskultur ist ein Schritt in die richtige Richtung. Auftraggeber, Fachvereine, Hochschulen und Universitäten sind in die Debatte einzubeziehen. Insbesondere Fachvereine wie der SIA müssen vernünftige, fachgerechte Arbeitsbedingungen definieren, die jeden einzelnen Teil der Ingenieurleistungen umfassen – die Ausschreibung, die Projektierung, die Kriterien für die Projektauswahl und die Ausführung. Nach dem Abschluss des Projektes ist eine Wissens- und Erfahrungssammlung zu erstellen, damit der notwendige Wissenstransfer erfolgen kann. Bereits in der Ingenieurausbildung müssen Themen wie Verantwortung, fachlich korrektes Verhalten und alle Aspekte der «best practice» prominent vertreten sein.

Und nicht zuletzt muss betont werden: Der Ruf des Ingenieurberufs steht und fällt mit der Selbstachtung der Ingenieure. Diese wiederum widerspiegelt die Verantwortung, die wir bei der Festlegung, der Umsetzung und der Sicherung unserer Arbeitsbedingungen übernehmen. «Best practice» und Umgangskultur zu definieren und zu kommunizieren, dient in diesem Sinne nicht lediglich dazu, die Qualität von Ingenieurleistungen zu verbessern; es ist auch eine unabdingbare Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung unseres Berufes. Denn wenn wir die besten guten Leute für unseren Beruf gewinnen möchten, dürfen wir das Schlüsselkriterium – den guten Ruf des Ingenieurstands – nicht vernachlässigen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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