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hochparterre 11|2008
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 11|2008
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Fluchtpunkt der Wohnträume

Neue Kleider, alte Aufgabe: Wie geht das Einfamilienhaus damit um? Die sieben Kinder der Postmoderne.

24. November 2008 - Caspar Schärer
Wie schon mehrfach nachgewiesen, ist das Einfamilienhaus unserer Zeit ein ungewolltes Kind aus der Ehe der Villa mit dem Arbeiterhaus («Klein, aber mein»). Es entwickelte sich dennoch prächtig, wurde von den Modernen, Antimodernen und Postmodernen adoptiert, bekam laufend neue Kleider und erfreut sich immer noch bester Gesundheit. Hochparterre begleitete seinen Werdegang in den letzten zwanzig Jahren mit einer gehörigen Portion Misstrauen. Doch auch wir mussten eingestehen, dass das Einfamilienhaus hin und wieder die Baukultur fördert — wenn junge Wölfe das erste Mal rangelassen werden oder wenn die erfahrenen Füchse dies oder jenes ausprobieren und durchexerzieren können. Bis heute blieb das Einfamilienhaus kinderlos, es haben sich jedoch allerhand Seitenlinien mit einer grossen Schar an Cousins und Cousinen herausgebildet. Die sieben wichtigsten stellen wir vor.

Das Karge

Unter den architektonisch relevanten Einfamilienhäusern hat das Karge unzweifelhaft seine Geschwister in den vergangenen zwei Jahrzehnten überragt. Es wurde protestantisch erzogen und sein Götti kennt noch die inzwischen in Würde gealterten Brüder aus der Moderne. Das Karge beruft sich aber auch auf die Sechzigerjahre, als die Fenster grösser und grösser wurden. Als Swiss Box wurde es in der ganzen Welt bekannt, sein Merkmal ist die formale Reduktion und die handwerkliche Präzision. Nach den verwinkelten und oft düsteren Räumen der Achtzigerjahre kam mit dem Kargen die Klarheit im Grundriss zurück. Fotos 1, 3, 4, 5, 12, 13

Das Betonierte

Eine Cousine des Kargen ist das Betonierte. Oft sieht man die beiden nebeneinander durch die Einfamilienhausquartiere spazieren. Tessiner Architekten wie Luigi Snozzi bewahrten das Sichtbetonhaus vor dem Aussterben. Der potenziell mögliche Formenreichtum des Betons wird heute nicht mehr so ausgeschöpft wie es einst Meister Le Corbusier in seinem Spätwerk vormachte. Bevorzugt wird das scharf geschnittene Volumen mit ausgeklügelten Schalungsmustern. Darin äussert sich die enge Verwandtschaft mit dem Kargen. Dank winziger Portionen von Farbpigmenten wird das Betonierte zunehmend bunter. Fotos 1, 3, 7, 13

Das Edle

Lieblingskind der Mutter Villa ist das Edle. Es schreibt die jahrhundertealte Tradition in neuen Gewändern fort. Zurzeit trifft es sich oft mit dem Kargen und dem aus Beton, weil es sich mit ihnen am besten versteht. Das muss wohl an den Bauherrschaften liegen, die bürgerliche Werte nach wie vor als leitende kulturelle Werte verstehen. Die Materialien sind noch ehrlicher und teurer als beim Kargen, Ornament darf neuerdings auch wieder sein. Doch auch für das Edle sind die Grundstücke nicht grösser geworden. Es muss sich auf die Parzellen zwängen, die noch zu haben sind. Darum zählt die Aussicht heute mehr als der grosse Umschwung, für dessen Pflege sowieso keine Zeit mehr da ist. Fotos 11, 13

Das Eklektizistische

Beim Volk ist das Eklektizistische zwar mit Abstand das Beliebteste, im Kreise seiner architektonisch ambitionierten Verwandtschaft wird es jedoch kaum beachtet. Es schmückt sich gerne mit zeitlosen Accessoires wie Erkern, schleppenden Vordächern und Rundbögen. Das Eklektizistische hat aber schwer zu tragen: Auf ihm lastet das zentnerschwere Erbe des Chalets — einem ländlichen Urahn, der es sogar zu Ruhm in der weiten Welt geschafft hat. Trotzdem sorgen junge Architekten mit Witz, Charme und Einfühlungsvermögen für frischen Wind, vor allem in den Bergen, wo das Eklektizistische als Zweitwohnsitz einen zweiten Frühling erlebt. Manchmal trifft es sich heimlich mit dem Kargen auf einer Bergwiese, wo die beiden dann wieder etwas Überraschendes aushecken. Fotos 4, 8, 9, 10

Das Verrückte

Der jüngste Spross der Familie ist das Verrückte. Es unterhält aber freundschaftliche Beziehungen zu älteren Cousins aus den experimentellen Sechzigern und Siebzigern. Das Verrückte ist mit dem Computer und seinen schier unbegrenzten Möglichkeiten aufgewachsen, weiss aber noch nicht so recht, was es mit der Vielfalt anstellen soll. Seine Schöpfer mischen unbeschwert die Hoch- mit der Populärkultur, was das Karge gar nicht gerne sieht. Sie nehmen satte und mitunter grelle Farben, halten sich nicht an den rechteckigen Formenkanon und schütteln die Grundrisse gründlich durch. Die ratlosen Eltern können aber beruhigt sein: Bei aller Ausgefallenheit sind auch hier Schweizer Architekten am Werk, die das Detail und dessen Ausführung ehren. Fotos 7, 8, 14

Das Unauffällige

Fast würde es in der Masse untergehen, doch selbst das Unauffällige bringt immer etwas mit, das stutzig macht. Sei es eine Fassade aus Kupfer, sei es ein Holzhaus in einem steinernen Dorf. Das Unauffällige braucht nicht unbedingt ein Flachdach, um seine Verwandtschaft zu den modernen und nachmodernen Brüdern und Schwestern zu bezeugen. Die älteren unter ihnen rümpfen zwar manchmal die Nase, weil dieses oder jenes Dogma nicht eingehalten worden ist, aber das kümmert das Unauffällige nicht. Es ist dem Ort verpflichtet und der Bescheidenheit, die ehrlicher ist als die oft aufgesetzte Demut des Kargen. Fotos 2, 9, 10

Das Sparsame

Lange Zeit führte das Sparsame ein Schattendasein. In den letzten zwanzig Jahren hat es sich aber kräftig gemausert. Gemeint ist nicht das Geizige, sondern das Energie-Sparsame. Als es noch ganz jung war, erkannte man das Sparsame an der ungelenken Architektur. Inzwischen kann es mit dem Rest der grossen Sippe gar nicht mehr verglichen werden, da es jedes erdenkliche Kleid tragen kann. Passivhäuser, Nullheizenergiehäuser, clevere Elementbauhäuser oder alles kombiniert: Die Notwendigkeit der Sparsamkeit wird nicht mehr bestritten. Darum gehört ihm die Zukunft, ob karg, verrückt oder sonstwie. Fotos 2, 6

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