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TEC21 2008|48
Etablierte Richtwerte?
TEC21 2008|48
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Gebrauchsgrenzen hinterfragen

Die in den SIA-Tragwerksnormen empfohlenen Richtwerte für die Gebrauchstauglichkeit sind bedingt verbindlich. Sie können und müssen teilweise objektspezifisch angepasst werden. Die notwendige Beurteilung verlangt den Planern viel individuelles, objektbezogenes Abwägen ab und erfordert viel Erfahrung.

26. November 2008 - Joseph Schwartz, Paul Lüchinger
Das Tragwerk stellt ein Subsystem des Gesamtbauwerks dar. Sein Konzept wird im Rahmen des Entwurfs als Teil der integralen Planung in Zusammenarbeit mit allen beteiligten Fachleuten entwickelt. Dieses nimmt Bezug auf die gesamtplanerischen, die architektonischen sowie auf die betrieblichen Belange und berücksichtigt gleichermassen die Randbedingungen aus der Umwelt wie die gesetzgeberischen Rahmenbedingungen. Aus diesen Gegebenheiten folgen die grundlegenden Anforderungen an das Tragwerk, die mit verschiedenen Massnahmen erfüllt werden können. Im Falle der Tragwerksbemessung hat sich sowohl in der nationalen als auch der internationalen Normenpraxis seit längerer Zeit die Betrachtung von Grenzzuständen durchgesetzt.1, 2 Als solche werden die Tragsicherheit und die Gebrauchstauglichkeit unterschieden.

Tragsicherheit: Verbindlich

Gegenüber Tragwerksversagen fordert die Gesellschaft allgemein die Sicherheit von Personen im Einflussbereich von Bauwerken. Bauherrschaft, Benutzer und Dritte stützen sich dabei auf einschlägige Rechtsgrundlagen. Den anerkannten Stand der Technik beschreiben entsprechende Regeln zur Tragsicherheit in den Normen – in der Schweiz sind dies die SIANormen. Da an der Tragsicherheit ein öffentlich-rechtliches Interesse besteht, ist sie nicht verhandelbar und das dazugehörige Normenwerk somit verbindlich (siehe Kasten Seite 20).

Gebrauchstauglichkeit: Verhandelbar

Nebst der Tragsicherheit steht die Zweckerfüllung und damit die Gebrauchstauglichkeit eines Bauwerks im Vordergrund des Bauherreninteresses. Sie orientiert sich an Fragen nach der vorgesehenen Nutzung des Tragwerks und den Ansprüchen der Benutzer. An der Gebrauchstauglichkeit besteht ein privatrechtliches Interesse, sie wird demnach in Absprache zwischen Bauherrschaft und Projektierenden geregelt.

Die Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit sind ab Beginn der Projektierung zu diskutieren und im Rahmen der Projektentwicklung laufend neu zu beurteilen. Die Folgen der Entscheide sind im Voraus aufzuzeigen und zwischen dem Besteller und dem Ersteller frühzeitig festzulegen. Dafür dient die Nutzungsvereinbarung als wichtiges vertragliches Instrument mit technischem Inhalt zwischen Bauherrschaft und Projektierenden einerseits und Benutzern (z.B. Mietern) andererseits. Die entsprechenden Regeln der Tragwerksnormen sind ein möglicher Leitfaden in der Diskussion. Sie bezwecken einheitliche Sprachregelungen und kategorisieren Begriffe, Vorgehensweisen und Nachweise.

Objektspezifische Richtwerke

Bauingenieure beurteilen die Gebrauchstauglichkeit bezüglich dreier Aspekte: Funktionstüchtigkeit, Aussehen des Bauwerks und von den Benutzern erwarteter Komfort. Gemessen wird sie anhand von Kriterien wie Schwingungen, Rissbildung und Verformungen, wobei Letzteres zu den am häufigsten diskutierten zählt. Es sind die Verformungen, die beispielsweise das Aussehen oder die Funktionstüchtigkeit des Bauwerks wegen Schäden an Einrichtungen beziehungsweise an nichttragenden Bauteilen beinträchtigen können. Für jedes Kriterium – und unabhängig von den drei Aspekten – werden die Gebrauchsgrenzen für die jeweils verifizierten Bemessungssituationen, die alle vorhersehbaren Bedingungen während der Nutzung und Ausführung eines Bauwerks einschliessen sollen, festgelegt. Die qualitative und die quantitative Entwicklung der Regeln in den Tragwerksnormen des SIA orientiert sich an Erfahrungswerten aus der Praxis – sowohl hinsichtlich Bemessungssituationen als auch bezüglich Bemessungskriterien und deren Grenzen. Darum sollten die Angaben der Gebrauchsgrenzen nur im Sinne von Richtwerten interpretiert werden – sie müssen fallweise hinterfragt und eventuell angepasst werden.

Bei heute geläufigen Spannweiten bei Flachdecken von 7 bis 10 m bedeutet der Wert l/350 beispielsweise 20 bis 30 mm Durchbiegung beziehungsweise etwa 6 ‰ Auflagerdrehwinkel. Eine detaillierte Berücksichtigung der Konstruktion und der Situation erfolgt aber höchstens in allgemeinen Anmerkungen wie: «Wenn Einbauten besonders empfindlich auf Verformungen des Tragwerks reagieren, sind neben oder anstelle von bemessungstechnischen vor allem auch konstruktive Massnahmen gegen Beschädigung vorzusehen.» Die zu erwartenden Durchbiegungen müssen kritisch analysiert und geprüft werden. Wird der Vergleich zwischen verlangten und auftretenden Durchbiegungen ohne Absprache mit allen am Projekt Beteiligten gemacht, kann dies zu Missverständnissen und damit zu grossen Problemen führen.

Vorabklärungen an planerischen Schnittstellen

Aus Erfahrung besteht in der Planung grosser Bedarf an Vorabklärungen sowohl in der Phase der Projektierung als auch während der Vorbereitung der Ausführung. Auswirkungen der zu erwartenden Verformungen auf die Nutzung und auf die nichttragenden Bauteile oder Einbauten müssen beispielsweise während der Projektierung erfragt und geklärt werden. Allenfalls notwendige konstruktive Massnahmen wie Überhöhung oder Anschlüsse an nichttragende Bauteile können dann rechtzeitig geplant werden. Im Rahmen der Ausführungsvorbereitung müssen die Planer zum Beispiel die Einbausequenzen von Tragwerksteilen und nichttragenden Bauteilen analysieren, den Einbau der Beläge ermitteln (Oberfläche horizontal oder der Durchbiegung folgend) oder sicherstellen, dass bei überhöhten Stahlbetondecken auch die Oberfläche überhöht abtaloschiert wird.

Beispiel 1: Glasfassade auf „weichen“ Deckrändern

In einem Laborgebäude in Basel werden die Deckenlasten auf der Vorderseite des Gebäudes zu den Randstützen der vierstöckigen Glasfassade abgetragen. Die Stützenlasten werden im Erdgeschoss von einem weit gespannten, einfeldrigen Stahlfachwerkträger mit beidseitiger Auskragung abgefangen (Bilder 2 und 3) und schliesslich über zwei Stützen in die Untergeschosse abgetragen. Damit ein einheitliches Fassadenbild entsteht, sind der Fachwerkträger wie die Stützen in die Glaskonstruktion eingebunden (Bild 4). Im Vergleich zu den punktgestützten Innenbereichen der Flachdecken stellt die Abfangung eine «weiche» Auflagerung der Deckenränder dar. Die Verformungen im Bereich der Glasfassade beeinflussen deshalb die Konzeptentwicklung des Tragwerks und dessen konstruktive Durchbildung und Ausführung wesentlich. Obwohl die rechnerischen Durchbiegungen des annähernd geschosshohen Fachwerkträgers äusserst gering und die Richtwerte gemäss der SIA-Norm weit unterschritten waren, mussten die Planer während der Projektierung objektspezifische Abklärungen vornehmen. Sie berechneten am Modell, welche Durchbiegungen im quasi-ständigen und welche im häufigen Lastfall entstehen. Um den detaillierten Montagevorgang zu planen, ermittelten sie die zu erwartenden Verformungen vor und nach der Montage der Glasfassade. Aus der Bewegung ergab sich die zeitliche Abfolge für den Einbau der Deckenauflasten (Bodenbeläge) und der Fassadenlasten. Ausserdem mussten sie die Extremwerte der Verformungen infolge seltenen Lastfalls ermitteln, die zu irreversiblen Schäden an der Glasfassade führen. Die Resultate bildeten die Grundlage für die Ausbildung der Anschlüsse der Glasfassade an die Tragstruktur.

Aus der Koordination und Lösungsfindung während der Projektierung entwickelten sich die Vorgaben für die Ausführung – und wiederum neue Fragen: Wie gross ist die initiale Überhöhung des Fachwerkträgers vorzusehen? Wie sind die Betondecken der Obergeschosse zu schalen und zu betonieren? Wie müssen die Oberflächen abtaloschiert werden, horizontal oder der infolge der zunehmenden Betonlasten von Geschoss zu Geschoss abnehmenden Überhöhung folgend? Diesen eher ungewöhnlichen Fragestellungen überlagern sich die eher alltäglichen Problemstellungen, hervorgerufen durch unterschiedliche Anforderungen an die Massgenauigkeiten im Ortbetonbau und im konstruktiven Glasbau.

Diskutiert wurde auch die Lage der Wärmedämmschicht: Der Fachwerkträger ist den Temperatureinwirkungen im Freien, die Betondecken sind dem Innenraumklima ausgesetzt. Ein statisch wirksamer Verbund von Betondecke und Fachwerkträger erzeugt infolge unterschiedlicher Temperaturen von Obergurt (im Gebäudeinnern) und Untergurt (im Freien) Krümmungen im Querschnitt und somit jahreszeitlich schwankende Trägerdurchbiegungen. Da solche zusätzlichen und veränderlichen Durchbiegungen von der Glasfassade nicht aufgenommen werden können, war ein konzeptioneller Entscheid notwendig: Der Träger musste von der Betondecke konstruktiv getrennt und in seiner Längsrichtung beweglich gelagert werden.

Beispiel 2: Weit gespannte Betondecken

Im polygonalen Grundriss des Bürogebäudes in Zürich ist die Hauptnutzung der Geschosse grundsätzlich entlang der Fassaden in die Raumtiefe angeordnet. Die nichttragenden Bürotrennwände sind radial beziehungsweise senkrecht zur Fassade und damit parallel zur Tragrichtung der Decken ausgerichtet. Sie folgen somit der Deckensenkung, müssen aber trotzdem die Deckenverformungen (Bild 5) unbeschadet aufnehmen können. Den möglichen Lösungsansatz beeinflussten neben baulich-konstruktiven Kriterien insbesondere auch hohe Anforderungen an die Schalldämmung zwischen den Büroräumen.

Es mussten konstruktive Massnahmen an Wandkopf und -fuss der Bürotrennwände vorgesehen werden, wobei auch die Deckendurchbiegungen auf ein der Problemstellung adäquates Mass zu begrenzen waren. Als massgebend galten die Verformungen nach dem Versetzen der Wände. Nach SIA-Norm wäre bei Spannweiten von 8 bis 10 m und dem gängigen Richtwert von l/350 eine Deckendurchbiegung von rund 25 mm erlaubt. Diese Gebrauchsgrenze war aber hier unter den gegebenen Umständen unzureichend: Die nichttragenden Trennwände wären belastet worden. Die geplanten Durchbiegungen wurden darum reduziert. Während die Durchbiegungen des geschweissten Stahlfachwerkträgers im ersten Beispiel rechnerisch genau vorausgesagt werden konnten, bestimmten bei den Stahlbetondecken in diesem Beispiel verschiedene, mit Unsicherheiten verbundene Parameter die Genauigkeit der zu erwartenden Durchbiegungen. Insbesondere die Streuung der Baustoffeigenschaften bewirkt Unsicherheiten in den Prognosen. Bei Betonbauten sind die erst nach Jahren abklingenden Langzeitverformungen und das mögliche Rissbild, das unter der massgebenden Belastung eintreten kann, die prägenden Faktoren für die effektiv auftretenden Durchbiegungen. In schlaff bewehrten Betondecken können die Langzeitverformungen im gerissenen Zustand durchaus den drei- bis vierfachen Wert der am homogenen Tragwerk ermittelten Durchbiegungen erreichen. Mit einer einmaligen Überhöhung der Schalungen im Bauzustand können die Auswirkungen dieser Langzeitverformungen in Bezug auf die Funktionstüchtigkeit der Trennwände nicht ausreichend gemildert werden, weil sie per definitionem erst lange Zeit nach dem Einbau der Wände eintreten. Lösungsansätze sind vielmehr in der Verminderung der Rissbildung und der Reduktion der Langzeiteinflüsse zu suchen. Dazu gehören baustofftechnologische und ausführungstechnische Massnahmen wie Betonnachbehandlung oder Ausschalfristen, die auf das verminderte Kriechverhalten des Betons hinzielen. Daneben beeinflussen auch konzeptionelle und bemessungstechnische Massnahmen die Rissbildung günstig.

Eine Vorspannung wirkt sich auf das Verformungsverhalten von Betontragwerken in jedem Fall vorteilhaft aus (Bild 6). Sie erzeugt nach oben gerichtete Umlenkkräfte, die der äusseren Belastung entgegenwirken. Zudem überdrückt sie den Beton, woraus im Endeffekt ein kleineres Rissmoment und wesentlich geringere Durchbiegungen resultieren.

Mehrwert durch Reflektieren

Die Um- und Durchsetzung der Anforderungen hinsichtlich Gebrauchstauglichkeit erfordern eine hohe Bereitschaft zu interaktivem Planen und offenem Kommunizieren zwischen den am Planungs- und am Bauprozess Beteiligten. Die sorgfältige Behandlung der Gebrauchstauglichkeit kann aber auch die Stellung des Bauingenieurs als Treuhänder der Auftraggeber aufwerten. Kontrollierte Durchbiegungen können ganz allgemein als Gütesiegel für die Nutzbarkeit der Gebäude angesehen werden. Geringe Verformungen erhöhen die Flexibilität der Nutzung und indirekt auch den Marktwert des Gebäudes – insbesondere dann, wenn Grundausbau und Mieterausbau nicht von der gleichen Trägerschaft übernommen werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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