Zeitschrift

TEC21 2009|07
Landschaft in 3D
TEC21 2009|07
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Nie gesehene Bilder

Florio Puenter[1] schafft Bilder von Landschaften, wie sie nie ein Mensch gesehen hat. Als Standorte für seine Fotografien wählt er Positionen und Ausschnitte, die vor ihm schon viele Maler oder Fotografen genutzt haben. Er bildet Landschaften ab, wie sie von Plakaten und Postkarten seit Langem bekannt sind. Es sind Motive, deren Häufung ihren Inhalt verbraucht hat bis zu Überdruss und Unsichtbarkeit. Seine Eingriffe verwandeln sie zu Bildern, in denen die im doppelten Sinn verbrauchte Landschaft wieder erscheint, unberührt, grösser, erhabener und ergreifender als in allen ihren früheren Abbildungen.

13. Februar 2009 - Hansjörg Gadient
Das Vorgehen ist einfach. Der Künstler entfernt die Spuren der Zivilisation. Er radiert die Häuser, Bahnen und Strassen aus; auf die Weiden und Äcker pflanzt er Fichten, Arven und Lärchen. Es sind Landschaften des Engadins, die er so in einen Zustand versetzt, wie ihn vielleicht einmal die allerersten Siedler gesehen haben könnten, lange bevor es Medien der Abbildung gab und lange bevor Menschen begannen, die Landschaft als Bild wahrzunehmen. Der Blick schweift von Muottas Muragl (Bild 1) über das Oberengadin; wo sonst die Dörfer von St. Moritz, Silvaplana und Sils dem Auge Anhaltspunkte geben, sind im dichten Wald nur die Seen und der Fluss zu sehen, Seen und ein Fluss, die keine Namen haben, weil es niemanden gibt, der sie benennt. So hat diese Landschaft vor dem Menschen ausgesehen, und so wird sie aussehen, wenn sich – nach langer Zeit von Verfall und natürlicher Sukzession – der Wald wieder alle Standorte zwischen Seeufer und Waldgrenze zurückerobert haben wird. In einer Zeit, wo es wieder keine Menschen geben wird.

Ein Bild zeigt den Blick vom Julierpass hinunter auf St. Moritz: eine Bergkette, zu deren Füssen die Topografie in flachere Formationen übergeht, an der tiefsten Stelle ein See, scheinbar klein wie ein Teich. Es fehlen die Hochhäuser, die Wohnblöcke, die Hotelpaläste. Es fehlt jeder massstäbliche Anhaltspunkt von Bauten. Keine Bahnen schneiden sich in die Berghänge, keine Strassen winden sich durch die Ebene. Sichtbar werden die Konturen der Bergflanken, der langsame Übergang des Waldes in Magerrasen und darüber der nackte Fels. Sichtbar werden die kühle Luft und die Erosion an einem der Hänge. Sichtbar wird die sanfte Wellenbewegung der Hügel. Und das Bild führt über seine Ränder hinweg weiter; die Landschaft setzt sich unendlich weit fort. Es ist ein Bild, das zeitlich und räumlich über alle menschlichen Begrenzungen, Kategorien, Namen und Orte hinausführt.

Ein Bild (Bild 3) zeigt einen kahlen Felsen vor einer kegelförmigen, dicht bewaldeten Bergflanke: Schloss Tarasp ohne Schloss. Wo nichts ist, ist des Bildes Brauchbarkeit.[2] Ein anderes (Bild 2) zeigt eine Flussaue, aus der sich wie eine Insel ein flacher Felsrücken erhebt, von einem Tannenhain besetzt: der Kirchhügel von San Gian bei Celerina, ohne Kirche. Schloss Tarasp und die Kirche San Gian sind uralte Orte der Kultur. Seit Generationen sind diese Landschaften von den Gebäuden besetzt und nicht mehr von ihnen zu trennen. Aber wo die längst zu Bild motiven gewordenen Bauten den Blick nicht mehr binden, wird er frei, die Landschaft zu sehen.

Der Künstler sieht seine Arbeit nicht als Zivilisationskritik. Diese Vermutung läge bei einigen Arbeiten nahe, die zwischen Naturzustand und menschlichem Eingriff changieren. Es gibt ein Panoramabild in vier Teilen, auf dem das ganze Engadin zu sehen ist. Darin sind zwar alle Häuser und Infrastrukturbauten entfernt, aber die Wiesen sind nicht bewaldet. Es ist ein seltsames Bild von einem Zustand, in dem unsichtbare Menschen eine agrarisch geprägte Landschaft mit Weidewirtschaft pflegen. In einem anderen Bild (Bild 5) sieht man den Ort, wo das Dorf Silvaplana stehen würde. Die Häuser sind von den Wiesen entfernt, aber sie spiegeln sich wie ein irrer Traum noch immer im Wasser. Das offene Non-Finito dieser Arbeit zeigt den Prozess der Veränderung einer Landschaft. Zu sehen ist zugleich die Agrarlandschaft und was mit ihr durch Bauten geschehen ist. Das Entfernen der Bauten macht durch das Wieder-Erscheinen der Landschaft den Prozess des Verlustes von Landschaft sichtbar. Die Bilder zeigen aber auch das «Material» Landschaft, mit dem planerisch ganz anders umgegangen werden könnte. Diese Varianten von Puenters Arbeit betonen im Vergleich mit den völlig bewaldeten Panoramen die ergreifende Erhabenheit einer von zivilisatorischen Eingriffen entblössten Natur. Schon der Rauch des Lagerfeuers der ersten Siedler hat begonnen, diese Erhabenheit zu zerstören. Das ist paradox, denn Erhabenheit ist eine menschliche Kategorie, und ohne Betrachter gibt es sie nicht. Puenter macht uns zu paradoxen Betrachtern.

Er beschreibt sein Vorgehen als Korrekturarbeit. Er entferne, was ihn störe, so wie er einen Kratzer auf einem Negativ retuschieren würde. Wenn ihn die Spuren der Zivilisation stören, so folgt er einem inneren, idealen Bild einer Landschaft, deren Reinheit überwältigt. Dabei illustriert der Künstler nicht botanisch korrekt den mutmasslichen Urzustand. Er nimmt sich auch die Freiheit, im Vordergrund Waldstücke einzusetzen, wo es keine geben kann, um einem Bild mehr Tiefe zu geben. Die Bilder sind hochartifiziell, nicht um einen natürlichen Zustand zu zeigen, sondern eine Sehnsucht.

Es ist die ungeheure Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dieser Natur. Genau das aber ist nicht möglich, denn nur ohne den Menschen sieht diese Landschaft so aus. Der Schmerz, der diesen Landschaftsbildern innewohnt, ist die Trauer des Betrachters, dass er so vollständig ausgeschlossen ist. Florio Puenter schafft Bilder von Landschaften, wie sie nie ein Mensch sehen wird.


Anmerkungen
[1] Florio Puenter (1964) ist im Engadin aufgewachsen. Er lebt und arbeitet im St.Moritz und New York. Seit 2000 beschäft igt ihn das Thema der Engadiner Landschaft. Er fotografiert mit einer Grossformatkamera analog und bearbeitet seine Bilder in zeitaufwendigen Verfahren am Computer und analog weiter. Ausstellungen im In- und Ausland.
[2] «Der Speichen dreimal zehn / Auf einer Nabe stehn. / Eben dort, wo sie nicht sind, / Ist des Wagens Brauchbarkeit.» Erste Strophe aus dem 11. Kapitel des Tao-Tê-King des Lao-Tse (Übersetzung von Günther Debon, Stuttgart 1961, S. 35)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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