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anthos 2009/1
Landschaftsarchitektur und Kunst
anthos 2009/1
zur Zeitschrift: anthos
Herausgeber:in: BSLA

Drei Kinderleichen zum Frühstück

Die polarisierende Kraft von Kunst im öffentlichen Raum.

26. Februar 2009 - Dorothea Strauss
Es ist schon starker Tobak. Da geht man seinen gewohnten Weg entlang, schaut wie jeden Morgen mir nichts, dir nichts in die Baumwipfel des ältesten Baumes seiner Stadt und entdeckt dort plötzlich drei Kinder, die sich anscheinend gemeinsam erhängt haben. – Nein: Die Szene ereignet sich nicht in «CSI New York» nachts im Fernsehen zwischen 21 und 22 Uhr, bei Chips und Bier auf dem Sofa, sondern ganz wirklich und hundsgemein auf dem Weg zum Bäcker. Und dies auch nicht in Amerika, wo doch sowieso alles viel schlimmer ist, nein, in Mailand.

So geschehen vor rund fünf Jahren auf der zentralen Piazza XXIV Maggio unweit des Lokalviertels Navigli. Glücklicherweise waren es keine wirklichen Kinder, sondern drei lebensgrosse Kinderfiguren aus Wachs, die der italienische Künstler Maurizio Cattelan auf Einladung der Stiftung Nicola Trussardi dort installiert hatte. Allerdings sollte Cattelans Arbeit nur drei Tage lang hängen (im wahren Wortsinn). – Sie löste eine so hitzige Debatte aus, dass ein 42-jähriger Mailänder Bürger schliesslich auf den Baum stieg und die Figuren «befreite». Er selbst stürzte dabei sieben Meter in die Tiefe und verletzte sich. Ironie des Schicksals, aus einer Metapher für Schmerz und Grausamkeit wurde wirkliches Leid. Die Kommentare kamen von rechts und links und fielen entsprechend polemisch aus. Der «Vandale» wurde von der kunst- und kulturaffinen Szene verteufelt, andere lobten seinen beherzten Einsatz. Der Mailänder Bürgermeister reagierte gelassen und kommentierte, dass Cattelans Kinderfiguren Ausdruck einer antikonformistischen Kultur seien, die zur Debatte anrege.

Das Projekt von Maurizio Cattelan, das ursprünglich auf die kurze Dauer von einem Monat angelegt war, ist ein Lehrstück für die Debatte über Kunst im öffentlichen Raum. Es zeigt, dass es vor allem Aggressionen und Konflikte sind, die kontroverse und somit aber auch sehr fruchtbare Diskussionen auslösen. Und wenn auch die meisten Projekte – vor allem jene, die auf längere Zeit ausgerichtet sind – nur selten so inhaltlich quälend zugespitzt sind, ist das Thema doch fast immer ein Garant für Streit. Oder, positiv gesprochen, für eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage: Was verträgt der öffentliche Raum?

Diskussionen darüber, was Kunst alles darf oder auch nicht, welche Qualitätskriterien von Gegenwartskunst nachvollziehbar sind und wem der öffentliche Raum nun eigentlich gehört, können in diesem scheinbar ungeschützten Freiraum unverhohlen stattfinden. Dabei weiss natürlich jeder, dass es diesen «freien» Raum in den Städten gar nicht gibt, denn unsere «Public Private Partnership-Gesellschaft» überhäuft uns mit riesigen Douglas-Werbungen, sexistischen H&M-Tête-à-têtes, Banken-Megapostern und vielem mehr. Doch hier müssen alle stillhalten, denn dies dient ja dem so genannten Wohle unserer Gesellschaft, sprich: damit kann vieles bezahlt werden. Und einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Oder auch: Die Hand, die einen füttert, beisst man nicht. Was liegt da näher, als sich unverblümt auf die Kunst zu stürzen, denn diese, so scheint man sich sicher zu sein, steigert nicht einmal das Bruttosozialprodukt, sondern kostet nur. Endlich kann man seiner aufgestauten Wut hinsichtlich der Vereinnahmung des öffentlichen Raumes Luft machen. Die Ohnmacht, die man angesichts eines voll durchorganisierten und oft fremdbestimmten Lebens erfährt, weicht einem heroischen Kämpfergeist für eine vermeintlich freie Welt.

Dass Kunst polarisiert, ist eine ihrer Stärken. Kunst kann vereinen, genauso wie sie Unvereinbarkeiten nicht etwa schafft, sondern vielmehr sichtbar macht. Sie legt den Finger auf die Wunde und bringt Unausgesprochenes und Konfliktgeladenes ans Licht. Weiter hilft da nur eine gezielt lancierte und begleitete Vermittlungs-, Diskussions- und Streitkultur, und diese unterscheidet sich stark danach, ob sie im geschlossenen oder im öffentlichen Raum stattfindet.

Eine Institution bietet Schutz und, im übertragenen Sinn, einen geheiligten Ort. Sie schafft einen Rahmen für die Konventionen unterschiedlicher Absprachen zwischen dem Kunstwerk und seinen Betrachtern und Betrachterinnen. Wer über die Schwelle einer Kunstinstitution tritt, weiss in aller Regel auch, warum. Wer sich entscheidet, dort hinzugehen, kennt die Spielregeln und akzeptiert sie. Und nur noch selten lösen institutionelle Ausstellungen so heftige Reaktionen aus wie im letzten Jahr der Hungerstreik eines Südtiroler Politikers wegen dem gekreuzigten Frosch von Martin Kippenberger.

Der öffentliche Raum hingegen bildet – vor allem was diese Absprachen betrifft – einen geradezu «gesetzesfreien » Raum. Hier darf selbst in bürgerlichen Kreisen noch ungezähmt gezetert, gewütet und sogar zerstört werden, ohne dass dies grössere Konsequenzen mit sich ziehen würde. Denn wenn man auch sonst so vieles im öffentlichen Raum akzeptieren muss, kann man im Zusammenhang mit Kunst endlich ehrlich seine Meinung sagen. Und diese ist, wen wundert’s, rebellisch. Das heisst erst einmal dagegen.

Doch es braucht nicht immer gleich drei Kinderleichen. – Ob man nun an den Kubus des amerikanischen Künstlers Sol LeWitt denkt, der in einer nicht enden wollenden Odyssee an diversen Orten in der Schweiz abgewiesen wurde, ob an die Pavillonskulptur von Max Bill in Zürich, für deren Realisierung erst weltweit kompetente Stimmen gesammelt werden mussten, oder an das humorvolle Brunnenobjekt von Roman Signer in St. Gallen, das lange Zeit ein Hassobjekt war: Wird Kunst im öffentlichen Raum platziert, geraten die Gemüter in Bewegung.

Und diese aufbrausenden Bürgerstimmen ängstigen Politikerinnen und Politiker, denn Kunst ausserhalb der Institutionen berührt die Achillessehne einer Stadtverwaltung: Sie lässt sich nicht auf eindeutige Kausalzusammenhänge herunterbrechen und auch nicht so leicht nach volkswirtschaftlichen Kriterien erklären. Kunst bedeutet für viele immer noch Luxus einer Elite, die es sich nach landläufiger Meinung leisten kann, einen individuellen Geschmack vor die Bedürfnisse des so genannten Gemeinwohls zu stellen.

Das bedeutet also, dass die Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum die einmalige Chance bietet, tatsächlich – also unverblümt! – ins Gespräch zu kommen. Das Ausbrechen von Ängsten, Aggressionen und Antipathien schafft die Möglichkeit, nicht nur Neues kennen zu lernen, sondern auch, sich selbst neu zu entdecken. Klischees und Grauzonen können überprüft und festgefahrene Haltungen aufgegeben werden. Die aus einer solchen Diskussion entstehenden Konflikte haben das Potenzial, eine aufmerksame Gesellschaft zu fördern, individuelle Haltungen gelten zu lassen, um damit einen besonderen Gemeinschaftssinn zu unterstützen, einen, der sich dadurch auszeichnet, vor möglichen Kontroversen nicht zurückzuschrecken. Städte tun gut daran, wenn sie solche Spannungen nicht nur aushalten, sondern sogar mittragen, indem sie ganz gezielt diese Prozesse selbstbewusst, doch nicht elitär befürworten und unterstützen.

Kunst im öffentlichen Raum ist nicht mehr bloss Denkmal oder Monument, sondern ihre Erscheinungsformen reichen von einem Brunnenobjekt, einem Spraybild auf der Häuserwand über eine Unterschriftensammlung für eine «kunstfreie Innenstadt» bis hin zu einem Hörstück auf dem iPod: Kunst im öffentlichen Raum reagiert auf die zunehmende Ästhetisierung unseres Alltags, auf das versatzstückartige Puzzle unserer Existenz und auf unsere medialisierte Welt. Aus dieser Welt speist sie sich und wirkt ihrerseits auf sie zurück: Unwiderruflich schreibt sich die Kunst in einen gesellschaftlichen Diskurs ein. Solche Prozesse brauchen Moderation, Kunst im öffentlichen Raum braucht Moderation, denn sie entsteht aus komplexen Zusammenhängen, die besprochen werden wollen.

Den «Vandalen» aus Mailand könnte man zusammen mit dem Künstler, dem Bürgermeister und den Initianten dazu einladen, ein Gespräch zu führen, vielleicht sogar noch nicht einmal öffentlich. Das Gespräch könnte moderiert, aufgezeichnet, gemeinsam redigiert und der Tageszeitung beigelegt oder aber als Wurfsendung an alle Haushalte verschickt werden, zum Beispiel. Es gibt viele verschiedene Formen der Moderation, die unterstützen können, dass wir im Gespräch bleiben.

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Für den Beitrag verantwortlich: anthos

Ansprechpartner:in für diese Seite: Daniel Haidd.haid[at]fischerprint.ch

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