Zeitschrift

TEC21 2009|11
Natur in der Stadt
TEC21 2009|11
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Mosaik der Lebensräume erhalten und vernetzen»

Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Obwohl nach Angaben des Uno-Umweltprogramms UNEP Städte nur zwei bis drei Prozent der Landfläche beanspruchen, verfügen sie über eine erstaunlich hohe Biodiversität. Sie verbrauchen aber 75 Prozent der weltweiten Ressourcen. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung der Städte für den Schutz der Biodiversität. Wie die Stadt Zürich diese Herausforderung meistern will, erläutert Karin Hindenlang, Leiterin Naturförderung bei Grün Stadt Zürich.

13. März 2009 - Lukas Denzler
TEC21: Stadtnatur wird bis heute oft als Natur zweiter Klasse empfunden. Seit wann ist die Natur in Zürich ein Thema? Karin Hindenlang: Engagierte Menschen haben schon vor vielen Jahren damit angefangen, für spezielle Arten wie Vögel oder Fledermäuse etwas zu tun. Innerhalb der Stadtverwaltung hat man vor etwa 20 Jahren erkannt, dass zwischen Grünflächenbewirtschaftung und Naturschutz Synergien stärker genutzt werden können. Wichtig war natürlich auch die Erkenntnis, dass Grünflächen und Natur für die städtische Lebensqualität sehr wichtig sind. Kinder können beispielsweise in naturnahen Gebieten für ihre Entwicklung wichtige Erfahrungen machen, die in stark überbauten Gebieten nicht möglich sind. Die künftige Herausforderung in Zürich besteht zum einen darin, die bestehenden wertvollen Naturräume zu schützen und diese besser miteinander zu einem funktionalen Grünraum zu vernetzen. Zum anderen gilt es, das kleinräumige Mosaik von vielfältigen Lebensräumen in der Stadt zu erhalten. 1990 wurde das Inventar der kommunalen Natur- und Landschaftsschutzobjekte per Stadtratsbeschluss in Kraft gesetzt, das heute 560 Objekte auf Stadtgebiet umfasst; die 20 wertvollsten Gebiete wurden 2003 formell unter Schutz gestellt, weitere sollen in den nächsten Jahren folgen.

TEC21: Was macht Städte für wild wachsende Pflanzen und wild lebende Tiere so attraktiv? Karin Hindenlang: Städte zeichnen sich durch ein sehr kleinräumiges Mosaik von Lebensräumen aus. Diese Kleinräumigkeit und der Strukturreichtum kommen durch die menschliche Nutzung zustande. Die Kombination von Nutzung, Gestaltung und Ökologie macht die Stadt zu etwas Besonderem. Wärmeliebende und an karge Standorte angepasste Arten finden ebenso Lebensraum wie Wald- oder Feuchtgebietsbewohner. Gebäude, Dächer, Mauern stellen für Vögel, aber auch für andere Tier- und Pflanzenarten einen Ersatz für Felsen dar, so zum Beispiel für Steinmarder, Turm- und Wanderfalken, den Dreifingrigen Steinbrech und die Königskerze.

TEC21: In Zürich leben Alpensegler an Grossmünster und Fraumünster; am Kamin des Heizkraftwerks Josefstrasse brüten Falken (siehe Kasten). Sind das Einzelfälle? Karin Hindenlang: Nein, das sind keine Einzelfälle. Im Inventar der Gebäudebrüter – dazu zählen Mauer- und Alpensegler, Falken, Schwalben und Dohlen – sind über 1000 Gebäude verzeichnet. Die Brutplätze sind bekannt, aber nur ein Bruchteil dieser Gebäude ist auch geschützt. Wenn also ein Umbau realisiert wird, dann können wir oft nur über Beratung oder Sensibilisierung bewirken, dass das Brutangebot erhalten bleibt. Solche Flagship-Arten sind für uns eine grosse Chance, um die Bevölkerung für Naturwerte zu sensibilisieren.

TEC21: Betrachten wir nun auch die etwas weniger spektakulären Arten. Welche Gebiete der Stadt Zürich sind für das Überleben von Tieren und Pflanzen besonders wichtig? Karin Hindenlang: Dazu zählen sicher der Üetliberg, die Allmend Brunau und die Katzenseen, aber auch bewaldete Bachläufe wie etwa das Wehrenbachtobel. Diese Gebiete bezeichnen wir als Kerngebiete. Aber auch die Obstgärten sind wertvoll. Mit dem Projekt «10 000 Obstbäume» wollen wir diese nicht nur erhalten, sondern auch neue pflanzen. Im besiedelten Raum gibt es ungezählte kleine wertvolle Gebiete.

TEC21: Gibt es auch Gebiete, die auf den ersten Blick nicht als besonders wertvoll erscheinen, für die Erhaltung der Biodiversität aber trotzdem bedeutsam sind? Karin Hindenlang: Ja, dazu zählt etwa das SBB-Areal um den Hauptbahnhof. Diese kargen Ruderalflächen sind wichtige Lebensräume für Reptilien und verschiedene Insektenarten. Bedeutsam sind diese Flächen, weil sie längerfristig erhalten bleiben, was bei Industriearealen nicht immer der Fall ist.

TEC21: Was unternimmt Grün Stadt Zürich konkret, um diese wertvollen Gebiete zu schützen? Karin Hindenlang: Über den Richtplan und die Nutzungsplanung versuchen wir, die Interessen des Naturschutzes zu wahren. Auch wenn heute einige wertvolle Objekte geschützt sind, sind wir mit der Situation konfrontiert, dass 90 Prozent der wertvollen Flächen zwar inventarisiert, aber die wenigsten davon auch rechtlich geschützt sind. Zudem sind seit 1990 vor allem in der Bauzone rund 100 wertvolle Objekte oder 45 Hektaren durch Bautätigkeit zerstört oder verändert worden. Das möchten wir in Zukunft ändern. Im «Grünbuch der Stadt Zürich» aus dem Jahre 2006 ist festgehalten, dass die geschützten Flächen um 140 Hektaren auf rund 250 Hektaren zunehmen sollen. Dazu hat sich die Stadt Zürich auch im Rahmen der internationalen Initiative «Biodiversity Countdown 2010» (siehe Kasten S. 25) verpflichtet.

TEC21: Sind die Grundlagen wie Inventare für den Schutz der Biodiversität vorhanden? Karin Hindenlang: Wir wissen recht viel über die in Zürich vorkommenden Tier- und Pflanzenarten und machen regelmässig Inventaraufnahmen. Mit der Biotoptypenkartierung, die 2010 abgeschlossen sein wird, stehen künftig flächendeckende Informationen über die Vegetation in der Stadt zur Verfügung. Der Naturwertindex liefert bereits heute eine Gesamtschau von der Stadt bezüglich ihrer biologischen und naturräumlichen Situation. Er weist jeder Hektare der Stadt Zürich einen bestimmten Wert zu, der aus über 170 000 Teil informationen berechnet wird. Letztes Jahr haben wird diesen Index zum ersten Mal berechnet. Er dient uns als Bewertungs-, Planungs- und Kommunikationsinstrument.

TEC21: Im Naturschutz spielt die Vernetzung von Lebensräumen zur Sicherung genügend grosser Populationen eine wichtige Rolle. Wie sieht es mit der Vernetzung in der Stadt aus? Karin Hindenlang: Zu den wichtigsten Vernetzungsachsen zählen einerseits die grossen Hügelzüge vom Pfannenstil über den Zürichberg hin zum Käfer- und Hönggerberg sowie die Albiskette mit dem Üetliberg. Andererseits sind es die bewaldeten Tobel und Bäche sowie die Limmat und die Sihl. Auch das lang gestreckte SBB-Areal ist wichtig für die Ausbreitung von Pflanzen und Tieren. Diese Korridore sind in der aktuell laufenden Teilrevision des Richtplanes sowie der Bau- und Zonenordnung (BZO) zu berücksichtigen. Aus diesem Grund haben wir die Vernetzungskorridore ausführlich beschrieben (Abb. 1). In diesen Korridoren sind teilweise spezielle Trittsteinbiotope nötig, erst so wird die Ausbreitung von weniger mobilen Arten möglich.

TEC21: Der Münchner Zoologe Josef Reichholf sieht die Artenvielfalt in den Städten insbesondere durch die bauliche Verdichtung bedroht. Er befürchtet, dass beispielsweise in Berlin die Artenvielfalt, nachdem diese vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugenommen hat, infolge der enormen Bautätigkeit bereits wieder zurückgeht. Karin Hindenlang: Die innere Verdichtung ist gegenwärtig sicher eine der grössten Bedrohungen – und zwar nicht nur für die Biodiversität, sondern auch für die Lebensqualität (S. 26 ff.). Deshalb gilt es zum einen, möglichst viele wertvolle Gebiete zu erhalten. Zum anderen versuchen wir, über eine aktive Bauberatung auf die Quantität und Qualität der Grünflächen Einfluss zu nehmen. Schliesslich sind auch im Rahmen der Stadtplanung in Gebieten mit Nachverdichtungspotenzial ausreichend Frei- und Grünräume vorzusehen. Diese Ziele zu erreichen ist vermutlich die grösste Herausforderung für Grün Stadt Zürich in den nächsten Jahren.

TEC21: Ist es schwierig, Städter vom Schutz der Natur zu überzeugen? Karin Hindenlang: Die Bereitschaft, für die Natur etwas zu tun, ist sicher gestiegen. Neben unserem Ziel, das Naturverständnis über Erlebnisse und persönliche Erfahrungen zu fördern, ergibt sich ein neues Handlungsfeld: Wir möchten den Stadtbewohnern auch zeigen, wo sie einen eigenen Beitrag zum Erhalt und zur Förderung der Naturwerte leisten können. Auf den stadteigenen Flächen haben wir schon viel erreicht. Bei Flächen, die nicht im Besitz der Stadt sind, liegt noch ein grosses Potenzial brach. Ich denke da beispielsweise an die Baugenossenschaften. Die naturnahe und zugleich nutzerfreundliche Gestaltung dieser Wohnumgebungen ist ein Gewinn an Lebensqualität. Eine grosse Chance bietet sich nächs tes Jahr mit der internationalen Initiative «Countdown 2010». Wir werden versuchen, möglichst viele Menschen für die Erhaltung und Förderung der Biodiversität zu gewinnen.

TEC21: Zürich wurde kürzlich im Rahmen des Forschungsprojektes BiodiverCity unter die Lupe genommen (S. 18 ff.). Offenbar ergaben die Befragungen auch, dass die Menschen sich Umgebungen wünschen, die oft auch für Tiere und Pflanzen attraktiv sind. Doch die Realität wird dem nicht immer gerecht. Läuft hier in der Planung etwas falsch? Karin Hindenlang: Natürlich läuft nicht immer alles nach Wunsch. Wichtig ist auch hier eine Vielfalt an unterschiedlichen Lebensräumen. Nicht alle Plätze und Grünräume müssen gleich aussehen. Und moderne Pärke sollen ebenfalls möglich sein. Denn auch dort gibt es für die Natur Chancen, wenn etwa ein Teil des Parks aus Kiesflächen besteht. Die Menschen sollen sich mit ihrer Umgebung beschäftigen. Das ist entscheidend. Ein gutes Beispiel ist das Projekt «Natur ums Schulhaus» aus den 1990er-Jahren. Dank diesem Projekt ist es heute selbstverständlich, dass Kinder, Lehrer und Eltern bei der Planung von Schulhausumgebungen mitwirken können. Dabei fliesst das Thema Natur mit ein. Wenn uns das auch in anderen Bereichen gelingt und dies zu einer qualitativ hochstehenden baulichen Entwicklung führt, die insbesondere eine ausreichende Versorgung mit Grünräumen gewährleistet, dann haben wir unser Ziel erreicht.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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