Zeitschrift
TEC21 2009|13
Non-Finito
Zwischensaison
Mit zwei Gästen wurde am 15. Juni 1908 das Hotel Waldhaus in Sils-Maria in Betrieb genommen. Nach 16 Jahren erfuhr es den ersten Umbau. Seither ist – mit Unterbrüchen – die Zwischensaison Bausaison und das Non-Finito der Normalzustand in einem Haus, das für seine Gäste ewig unverändert erscheint.
27. März 2009 - Hansjörg Gadient
Die Geschichte des Grandhotels Waldhaus ist auch eine Geschichte der Umbauten. Komfortansprüche ändern sich; der sich wandelnde Zeitgeschmack führt zu ästhetischer Obsolenz; der technische Fortschritt verändert Infrastrukturen, Arbeitsweisen und -abläufe. Nicht zuletzt sind soziale Vorstellungen und Verhaltensweisen einem permanenten Wandel unterworfen, zum Beispiel die Zimmerwünsche der Gäste: In der Belle Epoque war das erste Obergeschoss als Bel-Etage das vornehmste, man verlangte Zimmer nach Osten und Norden, denn man war vornehm blass. Die Zimmer der oberen Geschosse waren weniger gefragt, zuoberst lagen die Personalzimmer. Heute verlangen die Gäste sonnige Zimmer möglichst hoch oben mit viel Ausblick, mit Balkon, auf der Süd- und der Westseite.
Irisierendes Flirren der Zeit
Die Zeitläufte zwingen die Eigentümer, Schritt zu halten, wenn sie nicht – wie so viele andere – den Anschluss verlieren wollen.[1] Heute betreibt die vierte Generation der Familie[2] das Haus mit seinen 150 Zimmern und seinen fast 10 000 Gäste-Ankünften pro Jahr. Die enge Verbindung mit der Tradition gibt die Haltung und die Strategie vor: eine permanente und diskrete Erneuerung, mit der sich der Bau und seine Einrichtung ähnlich einem Zellorganismus ständig verjüngen und dabei immer demselben Plan folgen. Dass in jeder Zwischensaison eine Baustelle eröffnet wird und Investitionen in Millionenhöhe getätigt werden, merken die Gäste kaum. Sie sollen wiederkommen und sich zu Hause fühlen, sie sollen nicht verschreckt werden durch spektakuläres Design oder prahlerische Neubauten. Das Waldhaus sehe zu ihrer Freude, so Direktor Urs Kienberger, nicht nur noch so aus wie einst, sondern es lebe und funktioniere in vielen Belangen auch noch so.[3] Das Erstaunliche an diesem «wie einst» ist, dass das «Einst» nicht zu bezeichnen ist und – notabene – nie war. Bereits der erste Bau von Karl Koller[4] oszilliert zwischen einem gemässigten Jugendstil mit englischen Einflüssen und dem sich ankündigenden nüchternen Bündner Heimatstil. Die erhaltenen Dekorationen sind oft Kombinationen von Stilen, in denen bauhausartige Nüchternheit und neobarocke Pracht unvermittelt nebeneinander stehen, so zum Beispiel im Plafond des zweiten Speisesaals. Spätere Einbauten bereichern und verwirren das Spiel zusätzlich. Manche Elemente wirken wegen ihrer einfachen Formensprache völlig zeitlos; einige sind stark historisierend, aber kaum je aus der Zeit, die sie vorstellen. Was in dieser Beschreibung als heilloses Durcheinander erscheinen mag, fügt sich zu einem von der Magie des Waldhauses zusammengehaltenen Ganzen. So ist das Hotel nicht nur örtlich dem Alltag entzogen, sondern auch zeitlich. Es herrscht eine Art irisierend flirrendes Zeitkontinuum. Die Zeit scheint stillgestanden, aber niemand kann sagen, wann.
Vergangenheit und Zukunft verweben
In dieses Palimpsest fügen sich organisch auch die Einbauten von Miller und Maranta als Signaturen unserer Zeit. Quintus Miller geht so weit zu sagen, dass wir ohne Erinnerung nicht wahrnehmen könnten.[5] Als konzeptionellen Ansatz im Umgang mit historischer Substanz verfolgen die Architekten im Fall des Waldhauses eine Art von Verweben von Alt und Neu zu einem Dritten. Der explizite Kontrast interessiere sie kaum, weil er Vertrautheit ausschliesse. Hinzu kommt die Absicht, den Entwurf mit einem möglichst reichen semantischen Referenzsystem aufzuladen. So werden die heutigen baulichen Beiträge vielfältig lesbar und bleiben langfristig interessant. Wenn man sich vor Augen hält, wie wir im Unterschied zu unserer Vätergeneration heute bestimmte Zeitepochen lesen und bewerten, kann man diese Erwartung nur bestätigen. Teil der Aufladung mit möglichen Bedeutungen sind auch subtile Verschiebungen oder Brüche. Sie sollen analog dem Brecht’schen Verfremdungseffekt die Wahrnehmung irritieren und das Selbstverständliche dem Übersehenwerden entziehen. Dies kann die gefaltete Form eines Vordaches sein oder ganz einfach ein Farbton, der leicht neben dem Erwarteten liegt.
Zeitlose Zurückhaltung
Ausser diesem Aufladen des Werks mit reichen Lesbarkeiten steht die selbstverständliche Einordnung in den Bestand im Vordergrund. Obschon es kein «Retro-Design» gibt und die Formensprache immer modern ist, fügen sich die jüngeren Schichten in den Bestand ein und tragen zum Teil zum Effekt der zeitlichen Irritation bei. Die neu eingesetzten Brandabschnitt- Türen zum Beispiel könnten sehr ähnlich auch von 1930 stammen oder von 1960. Ein anderes Beispiel ist der neue Vorraum zum Lesezimmer, räumlich das Ende eines Flurs mit bildhaften Aussichtsfenstern auf eine malerische Felswand. Der Raum ist vom Boden bis zur Decke getäfert und verbindet dadurch zwischen den Nachbarräumen. Das neue Täfer ist analog einem historischen in Zonen gegliedert, aber nicht profiliert, sondern ohne Schattenfugen gestossen. Die planen Holzflächen betonen Farbe und Maserung des Holzes; die Aufmerksamkeit wird auf die «Fensterbilder» gelenkt. An einer anderen Stelle entfällt diese gediegene Zurückhaltung. Das Treppenhaus von der vierten in die fünfte Etage ist im Zuge der Umbauten von Personalzimmern zu Gästezimmern entstanden, an einer historisch uninteressanten Stelle. Hier haben Miller & Maranta den Zeitschichten des Waldhauses eine Treppenskulptur implantiert, die spielerisch zwischen Moderne und Dekonstruktivismus oszilliert. Bei manchen Details verweben sich in einem einzigen Objekt Vergangenheit und Gegenwart. Die Lampen der renovierten Flure sollten erhalten bleiben, waren aber technisch überholt, und ihr Licht war zu dunkel. So wurden sie teilweise renoviert und teilweise erneuert. Heute hängen die erhaltenen Glasstäbchen ihrer Ecken neben den ersetzten Glasscheiben und fassen diskret die neuen Leuchtmittel.
Etappierte Grossbaustellen
Meist geht es bei den Umbauten aber nicht um Lampendetails, sondern um Grossbaustellen. In den letzten Jahren haben Miller & Maranta unter anderem den gesamten Bar bereich einschliesslich Office und eines völlig neuen Trakts mit Seminarräumen darunter gebaut. Sie haben die Eingangshalle saniert und ihr wieder den Blick auf den Wald zurückgegeben. Mit Jürg Conzett haben sie die Vorfahrt mit einem Faltwerk aus Beton bekrönt und für das Gepäck einen kecken Vorbau ans Personaltreppenhaus angeschlossen. Sie haben den gesamten Küchentrakt erneuert und dabei das historische Kernstück, die zweigeschossige Halle der Kochbrigade, erhalten. Dass das eine erheblich teurere Lüftungsanlage und andere kostspielige Kompromisse bedingte, haben die Bauherren in Kauf genommen. Rundherum wurde der Bau auf den Rohbau zurückgeführt, unterfangen, an- und umgebaut und anschliessend mit der neuesten Küchenlogistik ausgestattet. Doch nicht nur: Inmitten der neuen Chromstahl-Herrlichkeit steht wieder der hundertjährige Holzofengrill[6], auf dem seit hundert Jahren die Fleischstücke garen.
Jährlich werden etwa zehn Zimmer erneuert, wenn immer möglich solche, die übereinanderliegen, sodass Eingriffe in die Statik und die Leitungen koordiniert werden können. Einige Räume, deren Erhaltungszustand es erlaubt, werden mit originalen Möbeln des Hotels in einen Zustand, der dem historischen von 1908 entspricht, zurückgeführt. Wo grosse Eingriffe nötig sind oder kein erhaltenswerter Bestand vorhanden ist, sind Umbau und Ausstattung modern.
Bergeller und andere Zimmer
Seit 2003 sind Ruinelli Associati Architetti mit dieser Aufgabe betraut. Armando Ruinelli beschreibt seine Entwurfsarbeit als Übersetzung dessen, was er in der Tradition des Hauses sieht, in eine zeitgemässe Formensprache.[7] Er sucht eine innere Verbindung von Alt und Neu, indem er beispielsweise für die nach Entwurf gefertigten Möbel die gleichen Mate rialien und Oberflächen wählt wie diejenigen der historischen im benachbarten Zimmer. So spüren Gäste, die beide Zimmer gemietet haben, eine Verwandtschaft, ohne dass sich das Neue anbiedert. Bei Zimmern, die ganz neu gestaltet werden, leiten Themen die Entwurfsarbeit.
Bei einer Serie ist dies etwa das Bergell, dessen Quarzit im Badezimmer verbaut wird. Die Möbel und Bodenbeläge werden aus dem lokalen Kastanienholz gefertigt, und die Stoffe und Farben erinnern an regionale Traditionen, aber immer in völlig zeitgemässer Art. Beim Umbau der Bäder wird vor allem auf eine optische Beruhigung gezielt, um die Räume grosszügiger wirken zu lassen. Elemente werden zusammengefasst und verschmolzen, Oberflächen vereinheitlicht. Statt eines Glashalters an der Wand dient beispielsweise eine eingefräste Vertiefung im Stein des Waschtischs als Halterung. Immer ist ein optimaler Ausgleich zwischen Ästhetik, Funktionalität und Unterhalt zu suchen. Beim ersten Badezimmer wurde ein 1:1-Modell gebaut, um alle diese Ansprüche zu vereinen. Nicht zuletzt müssen die neuen Materialien der strengen Prüfung durch die Hausdame genügen, die sie mit Ölen, Säuren, Wasser und manch anderem traktiert und auf Beständigkeit und Pflegeleichtigkeit testet. Aber auch die Gestaltung soll möglichst lange aktuell bleiben. Die Architekten pflegen deshalb eine zurückhaltende Sprache und setzen primär auf die Raumwirkung selbst. Das Neue soll nicht als spektakuläres Design in Erscheinung treten, sondern zurückhaltend und atmosphärisch dicht wirken. Aus Sicht der Bauherrschaft muss auch in den neuen Zimmern dieser schwer zu fassende Geist einer zeitentrückten Ruhe in Erscheinung treten.
Zwischensaison
Keinen zusätzlichen Tag schliesst das Hotel für einen Umbau. Das Zeitfenster ist die Zwischensaison mit ihren sechs bis acht Wochen. Jede Massnahme muss beim Eintreffen der Gäste so weit abgeschlossen sein, dass sie nichts Störendes wahrnehmen. Für die Zimmer gilt dies absolut. Jeder Umbau, selbst wenn er wegen Zusammenlegungen oder Leitungsbauten tief in die Bausubstanz eingreift, muss innerhalb dieser kurzen Zeit abgeschlossen sein. Für die grossen Massnahmen in den Gemeinschaftsräumen und im Küchentrakt war dies nicht möglich, sie mussten auf drei Etappen verteilt werden. Wenn man sich 22 Köche, die 300 Essen an einem Abend zubereiten müssen, auf einem Baustellenprovisorium vorstellt, ahnt man, was das heisst. Viele der Umbauten waren mit Eingriffen bis unter die Fundamente, mit Sprengungen des Felsens und Unterfangungen des Altbaus und einer komplett neuen Statik verbunden. In einer Zwischensaison wurde 1991 die gesamte Halle abgerissen und um 5.5 Meter erweitert wieder aufgebaut, einschliesslich aller Ausbauten. Die Gäste kamen an und bemerkten die neuen Vorhänge… Wenn das Hotel die Saison pünktlich eröffnet, ist jede Baustelle abgedichtet und hinter provisorischen Einbauten verborgen; die Mitarbeiter haben hinter den Kulissen improvisiert und halten für die Gäste den Eindruck des immerwährenden Normalzustandes aufrecht. Die Eigentümer schätzen die Mehrkosten, die durch das beschleunigte Bauen und die Provisorien entstehen, auf etwa 20–25 % der Baukosten. Die Gesamtkosten liegen jedes Jahr bei durchschnittlich 3.5 Mio. Franken. Möglich seien solche Umbauten nur mit einer äusserst disziplinierten Planung aller Bauabläufe, so Quintus Miller. Meist erhalten die Handwerker Zeitfenster nicht von Tagen, sondern von Stunden. Für Verzögerungen gibt es keine Toleranz. Armando Ruinelli ergänzt: Möglich seien solche Abläufe nur mit eingespielten Teams von Fachleuten. Mit ihnen – und mit den Bauherren – habe sich eine Kultur des Teamworks entwickelt, die er hoch schätze.
Werte
Es geht um Werte und Haltungen. Nicht Wachstum und Wertvermehrung, so Direktor Felix Dietrich, sondern der Werterhalt stünde bei allen Erneuerungen im Zentrum.[8] Die Gewinne werden regelmässig ins Haus reinvestiert. Über dem Sanierungsprogramm für die künftigen Jahre steht auf der ersten Zeile: «Nicht nur technokratisch investieren, sondern mit Fantasie, Innovation und Voraussicht.»[9] Respekt für das Vorhandene und Wertschätzung stehen hinter dieser Strategie. Die Tradition soll weitergeführt werden, als die «Family Affair», mit der das Haus für sich wirbt; die nächste Generation steht bereit. Regelmässig werden auch lukrativste Kaufangebote von Interessenten und Hotelketten höflich abgelehnt. «Shareholder Value» hat hier eine ganz eigene Bedeutung. Hoch ist nicht nur die Wertschätzung der Tradition und des baulichen Erbes, sondern auch des sozialen. Jeder Gast wird persönlich von einem Direktionsmitglied begrüsst und verabschiedet. Eine Marotte? – Eine Geste. Es gibt Gäste, deren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern bereits regelmässig ins Waldhaus kamen. Aber auch die Wertschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört dazu. Zum 100-Jahr- Jubiläum ist ein Buch[10] entstanden, das von den Lieblingsorten vieler Angestellter im Haus und einiger ihrer Heimatorte erzählt, an die sie immer wieder zurückkehren, in der Zwischensaison, wenn das Waldhaus zur Baustelle wird und sich für die Zukunft rüstet.
Anmerkungen
[01] Nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Krisenzeit erlitt das Haus schwere Einbussen und kämpfte um seinen Erhalt. Erst der Bau des Hallenbades von Otto Glaus 1970 brachte den erneuten Aufschwung
[02] Das Hotel ist im Eigentum einer ausschliesslich aus Familienmitgliedern gebildeten Aktiengesellschaft . Die Direktion besteht aus Felix und Maria Dietrich-Kienberger und Urs Kienberger, den Urenkeln der Gründer, Josef und Amalie Giger-Nigg
[03] Text der Medieninformation zum hundertjährigen Bestehen des Hauses
[04] Über die Baugeschichte des Waldhauses ist eine sehr informative Broschüre erschienen: Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus Sils-Maria. Schweizerische Kunstführer GSK, Bern 2005
[05] Gespräch mit dem Verfasser vom 20. 2. 2009
[06] Das Hotel hat ein reizendes hauseigenes Museum, das der Künstler Giuseppe Reichmuth mit Filmen und mechanischen Skulpturen animiert hat
[07] Gespräch mit dem Verfasser vom 4. 3. 2009
[08] Gespräch mit dem Verfasser vom 5. 3. 2009
[09] Die Besitzerfamilie führt ein Journal im Hinblick auf kommende Um- und Ausbauten. Darin finden sich u. a. Wünsche der Gäste, aber auch der Erneuerungsbedarf, der aus betrieblicher oder bautechnischer Sicht notwendig werden wird. Neben der weiteren Renovation von Gästezimmern stehen in den nächsten Jahren die Renovation des Speisesaals und der Ausbau des Wellness-Bereiches auf dieser Liste
[10] Waldhaus Sils. A Family Aff air since 1908. Ein Grandhotel wird hundert. Zora del Buono und Stefan Pielow, Sils-Maria, 2008
Irisierendes Flirren der Zeit
Die Zeitläufte zwingen die Eigentümer, Schritt zu halten, wenn sie nicht – wie so viele andere – den Anschluss verlieren wollen.[1] Heute betreibt die vierte Generation der Familie[2] das Haus mit seinen 150 Zimmern und seinen fast 10 000 Gäste-Ankünften pro Jahr. Die enge Verbindung mit der Tradition gibt die Haltung und die Strategie vor: eine permanente und diskrete Erneuerung, mit der sich der Bau und seine Einrichtung ähnlich einem Zellorganismus ständig verjüngen und dabei immer demselben Plan folgen. Dass in jeder Zwischensaison eine Baustelle eröffnet wird und Investitionen in Millionenhöhe getätigt werden, merken die Gäste kaum. Sie sollen wiederkommen und sich zu Hause fühlen, sie sollen nicht verschreckt werden durch spektakuläres Design oder prahlerische Neubauten. Das Waldhaus sehe zu ihrer Freude, so Direktor Urs Kienberger, nicht nur noch so aus wie einst, sondern es lebe und funktioniere in vielen Belangen auch noch so.[3] Das Erstaunliche an diesem «wie einst» ist, dass das «Einst» nicht zu bezeichnen ist und – notabene – nie war. Bereits der erste Bau von Karl Koller[4] oszilliert zwischen einem gemässigten Jugendstil mit englischen Einflüssen und dem sich ankündigenden nüchternen Bündner Heimatstil. Die erhaltenen Dekorationen sind oft Kombinationen von Stilen, in denen bauhausartige Nüchternheit und neobarocke Pracht unvermittelt nebeneinander stehen, so zum Beispiel im Plafond des zweiten Speisesaals. Spätere Einbauten bereichern und verwirren das Spiel zusätzlich. Manche Elemente wirken wegen ihrer einfachen Formensprache völlig zeitlos; einige sind stark historisierend, aber kaum je aus der Zeit, die sie vorstellen. Was in dieser Beschreibung als heilloses Durcheinander erscheinen mag, fügt sich zu einem von der Magie des Waldhauses zusammengehaltenen Ganzen. So ist das Hotel nicht nur örtlich dem Alltag entzogen, sondern auch zeitlich. Es herrscht eine Art irisierend flirrendes Zeitkontinuum. Die Zeit scheint stillgestanden, aber niemand kann sagen, wann.
Vergangenheit und Zukunft verweben
In dieses Palimpsest fügen sich organisch auch die Einbauten von Miller und Maranta als Signaturen unserer Zeit. Quintus Miller geht so weit zu sagen, dass wir ohne Erinnerung nicht wahrnehmen könnten.[5] Als konzeptionellen Ansatz im Umgang mit historischer Substanz verfolgen die Architekten im Fall des Waldhauses eine Art von Verweben von Alt und Neu zu einem Dritten. Der explizite Kontrast interessiere sie kaum, weil er Vertrautheit ausschliesse. Hinzu kommt die Absicht, den Entwurf mit einem möglichst reichen semantischen Referenzsystem aufzuladen. So werden die heutigen baulichen Beiträge vielfältig lesbar und bleiben langfristig interessant. Wenn man sich vor Augen hält, wie wir im Unterschied zu unserer Vätergeneration heute bestimmte Zeitepochen lesen und bewerten, kann man diese Erwartung nur bestätigen. Teil der Aufladung mit möglichen Bedeutungen sind auch subtile Verschiebungen oder Brüche. Sie sollen analog dem Brecht’schen Verfremdungseffekt die Wahrnehmung irritieren und das Selbstverständliche dem Übersehenwerden entziehen. Dies kann die gefaltete Form eines Vordaches sein oder ganz einfach ein Farbton, der leicht neben dem Erwarteten liegt.
Zeitlose Zurückhaltung
Ausser diesem Aufladen des Werks mit reichen Lesbarkeiten steht die selbstverständliche Einordnung in den Bestand im Vordergrund. Obschon es kein «Retro-Design» gibt und die Formensprache immer modern ist, fügen sich die jüngeren Schichten in den Bestand ein und tragen zum Teil zum Effekt der zeitlichen Irritation bei. Die neu eingesetzten Brandabschnitt- Türen zum Beispiel könnten sehr ähnlich auch von 1930 stammen oder von 1960. Ein anderes Beispiel ist der neue Vorraum zum Lesezimmer, räumlich das Ende eines Flurs mit bildhaften Aussichtsfenstern auf eine malerische Felswand. Der Raum ist vom Boden bis zur Decke getäfert und verbindet dadurch zwischen den Nachbarräumen. Das neue Täfer ist analog einem historischen in Zonen gegliedert, aber nicht profiliert, sondern ohne Schattenfugen gestossen. Die planen Holzflächen betonen Farbe und Maserung des Holzes; die Aufmerksamkeit wird auf die «Fensterbilder» gelenkt. An einer anderen Stelle entfällt diese gediegene Zurückhaltung. Das Treppenhaus von der vierten in die fünfte Etage ist im Zuge der Umbauten von Personalzimmern zu Gästezimmern entstanden, an einer historisch uninteressanten Stelle. Hier haben Miller & Maranta den Zeitschichten des Waldhauses eine Treppenskulptur implantiert, die spielerisch zwischen Moderne und Dekonstruktivismus oszilliert. Bei manchen Details verweben sich in einem einzigen Objekt Vergangenheit und Gegenwart. Die Lampen der renovierten Flure sollten erhalten bleiben, waren aber technisch überholt, und ihr Licht war zu dunkel. So wurden sie teilweise renoviert und teilweise erneuert. Heute hängen die erhaltenen Glasstäbchen ihrer Ecken neben den ersetzten Glasscheiben und fassen diskret die neuen Leuchtmittel.
Etappierte Grossbaustellen
Meist geht es bei den Umbauten aber nicht um Lampendetails, sondern um Grossbaustellen. In den letzten Jahren haben Miller & Maranta unter anderem den gesamten Bar bereich einschliesslich Office und eines völlig neuen Trakts mit Seminarräumen darunter gebaut. Sie haben die Eingangshalle saniert und ihr wieder den Blick auf den Wald zurückgegeben. Mit Jürg Conzett haben sie die Vorfahrt mit einem Faltwerk aus Beton bekrönt und für das Gepäck einen kecken Vorbau ans Personaltreppenhaus angeschlossen. Sie haben den gesamten Küchentrakt erneuert und dabei das historische Kernstück, die zweigeschossige Halle der Kochbrigade, erhalten. Dass das eine erheblich teurere Lüftungsanlage und andere kostspielige Kompromisse bedingte, haben die Bauherren in Kauf genommen. Rundherum wurde der Bau auf den Rohbau zurückgeführt, unterfangen, an- und umgebaut und anschliessend mit der neuesten Küchenlogistik ausgestattet. Doch nicht nur: Inmitten der neuen Chromstahl-Herrlichkeit steht wieder der hundertjährige Holzofengrill[6], auf dem seit hundert Jahren die Fleischstücke garen.
Jährlich werden etwa zehn Zimmer erneuert, wenn immer möglich solche, die übereinanderliegen, sodass Eingriffe in die Statik und die Leitungen koordiniert werden können. Einige Räume, deren Erhaltungszustand es erlaubt, werden mit originalen Möbeln des Hotels in einen Zustand, der dem historischen von 1908 entspricht, zurückgeführt. Wo grosse Eingriffe nötig sind oder kein erhaltenswerter Bestand vorhanden ist, sind Umbau und Ausstattung modern.
Bergeller und andere Zimmer
Seit 2003 sind Ruinelli Associati Architetti mit dieser Aufgabe betraut. Armando Ruinelli beschreibt seine Entwurfsarbeit als Übersetzung dessen, was er in der Tradition des Hauses sieht, in eine zeitgemässe Formensprache.[7] Er sucht eine innere Verbindung von Alt und Neu, indem er beispielsweise für die nach Entwurf gefertigten Möbel die gleichen Mate rialien und Oberflächen wählt wie diejenigen der historischen im benachbarten Zimmer. So spüren Gäste, die beide Zimmer gemietet haben, eine Verwandtschaft, ohne dass sich das Neue anbiedert. Bei Zimmern, die ganz neu gestaltet werden, leiten Themen die Entwurfsarbeit.
Bei einer Serie ist dies etwa das Bergell, dessen Quarzit im Badezimmer verbaut wird. Die Möbel und Bodenbeläge werden aus dem lokalen Kastanienholz gefertigt, und die Stoffe und Farben erinnern an regionale Traditionen, aber immer in völlig zeitgemässer Art. Beim Umbau der Bäder wird vor allem auf eine optische Beruhigung gezielt, um die Räume grosszügiger wirken zu lassen. Elemente werden zusammengefasst und verschmolzen, Oberflächen vereinheitlicht. Statt eines Glashalters an der Wand dient beispielsweise eine eingefräste Vertiefung im Stein des Waschtischs als Halterung. Immer ist ein optimaler Ausgleich zwischen Ästhetik, Funktionalität und Unterhalt zu suchen. Beim ersten Badezimmer wurde ein 1:1-Modell gebaut, um alle diese Ansprüche zu vereinen. Nicht zuletzt müssen die neuen Materialien der strengen Prüfung durch die Hausdame genügen, die sie mit Ölen, Säuren, Wasser und manch anderem traktiert und auf Beständigkeit und Pflegeleichtigkeit testet. Aber auch die Gestaltung soll möglichst lange aktuell bleiben. Die Architekten pflegen deshalb eine zurückhaltende Sprache und setzen primär auf die Raumwirkung selbst. Das Neue soll nicht als spektakuläres Design in Erscheinung treten, sondern zurückhaltend und atmosphärisch dicht wirken. Aus Sicht der Bauherrschaft muss auch in den neuen Zimmern dieser schwer zu fassende Geist einer zeitentrückten Ruhe in Erscheinung treten.
Zwischensaison
Keinen zusätzlichen Tag schliesst das Hotel für einen Umbau. Das Zeitfenster ist die Zwischensaison mit ihren sechs bis acht Wochen. Jede Massnahme muss beim Eintreffen der Gäste so weit abgeschlossen sein, dass sie nichts Störendes wahrnehmen. Für die Zimmer gilt dies absolut. Jeder Umbau, selbst wenn er wegen Zusammenlegungen oder Leitungsbauten tief in die Bausubstanz eingreift, muss innerhalb dieser kurzen Zeit abgeschlossen sein. Für die grossen Massnahmen in den Gemeinschaftsräumen und im Küchentrakt war dies nicht möglich, sie mussten auf drei Etappen verteilt werden. Wenn man sich 22 Köche, die 300 Essen an einem Abend zubereiten müssen, auf einem Baustellenprovisorium vorstellt, ahnt man, was das heisst. Viele der Umbauten waren mit Eingriffen bis unter die Fundamente, mit Sprengungen des Felsens und Unterfangungen des Altbaus und einer komplett neuen Statik verbunden. In einer Zwischensaison wurde 1991 die gesamte Halle abgerissen und um 5.5 Meter erweitert wieder aufgebaut, einschliesslich aller Ausbauten. Die Gäste kamen an und bemerkten die neuen Vorhänge… Wenn das Hotel die Saison pünktlich eröffnet, ist jede Baustelle abgedichtet und hinter provisorischen Einbauten verborgen; die Mitarbeiter haben hinter den Kulissen improvisiert und halten für die Gäste den Eindruck des immerwährenden Normalzustandes aufrecht. Die Eigentümer schätzen die Mehrkosten, die durch das beschleunigte Bauen und die Provisorien entstehen, auf etwa 20–25 % der Baukosten. Die Gesamtkosten liegen jedes Jahr bei durchschnittlich 3.5 Mio. Franken. Möglich seien solche Umbauten nur mit einer äusserst disziplinierten Planung aller Bauabläufe, so Quintus Miller. Meist erhalten die Handwerker Zeitfenster nicht von Tagen, sondern von Stunden. Für Verzögerungen gibt es keine Toleranz. Armando Ruinelli ergänzt: Möglich seien solche Abläufe nur mit eingespielten Teams von Fachleuten. Mit ihnen – und mit den Bauherren – habe sich eine Kultur des Teamworks entwickelt, die er hoch schätze.
Werte
Es geht um Werte und Haltungen. Nicht Wachstum und Wertvermehrung, so Direktor Felix Dietrich, sondern der Werterhalt stünde bei allen Erneuerungen im Zentrum.[8] Die Gewinne werden regelmässig ins Haus reinvestiert. Über dem Sanierungsprogramm für die künftigen Jahre steht auf der ersten Zeile: «Nicht nur technokratisch investieren, sondern mit Fantasie, Innovation und Voraussicht.»[9] Respekt für das Vorhandene und Wertschätzung stehen hinter dieser Strategie. Die Tradition soll weitergeführt werden, als die «Family Affair», mit der das Haus für sich wirbt; die nächste Generation steht bereit. Regelmässig werden auch lukrativste Kaufangebote von Interessenten und Hotelketten höflich abgelehnt. «Shareholder Value» hat hier eine ganz eigene Bedeutung. Hoch ist nicht nur die Wertschätzung der Tradition und des baulichen Erbes, sondern auch des sozialen. Jeder Gast wird persönlich von einem Direktionsmitglied begrüsst und verabschiedet. Eine Marotte? – Eine Geste. Es gibt Gäste, deren Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern bereits regelmässig ins Waldhaus kamen. Aber auch die Wertschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört dazu. Zum 100-Jahr- Jubiläum ist ein Buch[10] entstanden, das von den Lieblingsorten vieler Angestellter im Haus und einiger ihrer Heimatorte erzählt, an die sie immer wieder zurückkehren, in der Zwischensaison, wenn das Waldhaus zur Baustelle wird und sich für die Zukunft rüstet.
Anmerkungen
[01] Nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Krisenzeit erlitt das Haus schwere Einbussen und kämpfte um seinen Erhalt. Erst der Bau des Hallenbades von Otto Glaus 1970 brachte den erneuten Aufschwung
[02] Das Hotel ist im Eigentum einer ausschliesslich aus Familienmitgliedern gebildeten Aktiengesellschaft . Die Direktion besteht aus Felix und Maria Dietrich-Kienberger und Urs Kienberger, den Urenkeln der Gründer, Josef und Amalie Giger-Nigg
[03] Text der Medieninformation zum hundertjährigen Bestehen des Hauses
[04] Über die Baugeschichte des Waldhauses ist eine sehr informative Broschüre erschienen: Roland Flückiger-Seiler: Hotel Waldhaus Sils-Maria. Schweizerische Kunstführer GSK, Bern 2005
[05] Gespräch mit dem Verfasser vom 20. 2. 2009
[06] Das Hotel hat ein reizendes hauseigenes Museum, das der Künstler Giuseppe Reichmuth mit Filmen und mechanischen Skulpturen animiert hat
[07] Gespräch mit dem Verfasser vom 4. 3. 2009
[08] Gespräch mit dem Verfasser vom 5. 3. 2009
[09] Die Besitzerfamilie führt ein Journal im Hinblick auf kommende Um- und Ausbauten. Darin finden sich u. a. Wünsche der Gäste, aber auch der Erneuerungsbedarf, der aus betrieblicher oder bautechnischer Sicht notwendig werden wird. Neben der weiteren Renovation von Gästezimmern stehen in den nächsten Jahren die Renovation des Speisesaals und der Ausbau des Wellness-Bereiches auf dieser Liste
[10] Waldhaus Sils. A Family Aff air since 1908. Ein Grandhotel wird hundert. Zora del Buono und Stefan Pielow, Sils-Maria, 2008
Für den Beitrag verantwortlich: TEC21
Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Solt