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TEC21 2009|13
Non-Finito
TEC21 2009|13
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Mobile kreative Nischen

Städtische Dichte erzeugt Kreativität. Das enge Nebeneinander von Kleinstunternehmen fördert spontane Zusammenarbeiten und ungeplante Lösungen. Aber eine lebendige Stadt verändert sich und baut. Das hebt die Preise und zerstört die Nischen der Kreativwirtschaft . In Zürich sollen Container kurze Pausen in diesem Zyklus nutzen, damit die Stadt nie aufhört, kreativ zu sein.

27. März 2009 - Andreas Hofer
Der Rückzug der Industrie aus den Kernstädten bestimmt seit den 1980er-Jahren die Stadtentwicklung in den westlichen Industrieländern. Plötzlich wurden riesige Gebiete zu Brachen, und es stellte sich die Frage nach ihrer künftigen Nutzung und einer planerischen Strategie. Neue Instrumente, städtebauliche Projekte, Gestaltungspläne und das Festlegen von Dichte und Nutzungen in kooperativen Prozessen lösten starre Zonenpläne und Bauvorschriften ab und brachten Dynamik in die Städte. Die Umnutzung von zentrumsnahen Industriearealen war in den meisten Fällen erfolgreich und trug wesentlich zur «Renaissance des Urbanen» bei. Seit einigen Jahren wächst zum Beispiel die Bevölkerung der Stadt Zürich nach vier Jahrzehnten der Schrumpfung wieder, und letztes Jahr feierte Winterthur den Aufstieg zur Grossstadt mit mehr als hunderttausend Einwohnern.

Deindustrialisierung und kreative Milieus

Schon während des langfristigen planerischen Prozesses wurden die Industrieareale aber als neuer Freiraum genutzt. Da in den grösseren Schweizer Städten seit Jahrzehnten eine scharfe Konkurrenz des zahlungskräftigen Dienstleistungssektors gegenüber weniger lukrativen Wohn-, Gewerbe- und kulturellen Nutzungen herrscht, ergriffen urbane Pioniere, wo immer dies möglich war, die Chance, frei werdende Industrieareale zu nutzen. Galerien und Kunsthallen, Theater- und Tanzensembles, Clubs und Bars, junge Architektur- und Gestaltungsbüros, Webdesigner und Programmierer – es gibt heute kaum eine Firma oder Institution in diesen Bereichen, die nicht als Zwischennutzung auf einem Industrieareal gegründet worden wäre.

Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft war mehr als ein Tausch von blauen Werkstattkitteln gegen Anzug und Krawatte und ein Umzug aus der Industriehalle ins Grossraumbüro; er schuf eine neue kreative Klasse.[1] Ehemalige Industrieareale waren ihr Brutplatz. 1980 forderte die Jugendbewegung noch kulturelle Freiräume und stiess damit zunächst auf Unverständnis. Heute sind Graffiti, Technoclubs und alternative Theater- und Kunsträume selbstverständliche Bilder in jeder Standortmarketingbroschüre. Die neue Klasse veränderte die Städte. Doch es geht nicht nur um Bilder. Eine Dienstleistungsstadt, die international erfolgreich sein will, braucht ein breites kulturelles Milieu. Dieses produziert Orte, Themen und Dienstleistugen für die differenzierten Freizeitbedürfnisse der urbanen Eliten, liefert Ideen für Branding und Werbung und schafft Produkte in der Mode-, Lifestyleund Softwareindustrie.

Dass die Bedeutung des kreativen Milieus von Forschung, Wirtschaftsförderung und Planung entdeckt worden ist, markiert ihr Ankommen im normalen wirtschaftlichen Raum. Richard Florida, der das kreative Milieu zum entscheidenden Standortfaktor für den Erfolg von Städten erklärt hat und den Begriff für einen grossen Teil des Dienstleistungssektors braucht, schätzt seinen Anteil an der Gesamtwirtschaft auf bis zu 30 %. Für Zürich hat der Stadtgeograf Philipp Klaus den Begriff KIK (kreative innovative Kleinstunternehmen) ge prägt.[2] Er zählt zur Kreativwirtschaft neben Musik, Theater, Film und Kunst, Werbung, Journalismus, Marketing, Grafik und Architektur. Gemäss dieser Definition entspricht der kreative Sektor 8 % aller Arbeitsplätze. Da viele davon direkt von der Finanzdienstleistungsbranche und der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt abhängig sind, ist die Kreativwirtschaft, zumindest kurzfristig, keine Rettung aus einer Finanzkrise. Für die Lebensqualität in der Stadt und für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung hat sie aber grosse Bedeutung.

Nischen werden knapp

Die Wertschöpfung der Kreativwirtschaft pro Arbeitsplatz ist allerdings weniger gross als die der Finanzwirtschaft. In einer Bankenstadt wie Zürich entsteht daraus ein Platzproblem: Was als Zwischennutzung auf frei werdenden Industriearealen gewachsen ist und sie für neue Nutzungen geöffnet hat, erleidet gegenwärtig das typische Schicksal der Pioniere. Der überraschende und schnelle Erfolg der Industriearealumnutzung in Zürich West und Zürich Nord zerstört die Nischen. Grosse Hallen, die Rauheit und Offenheit der industriellen Architektur und die tiefen Mietpreise für Zwischennutzungen weichen Mischnutzungen in teuren Neubauten. Dieser Zyklus der Arealverwertung ist sozusagen normal für Städte im Kapitalismus. Speziell ist in Zürich aber die Geschwindigkeit, mit der Brachen auf Stadtgebiet verschwinden. Auch Räume, die in den letzten Jahren als Ventile dienten (Altstetten oder die Nachbargemeinde Schlieren), sind bereits Gegenstand umfassender Umstrukturierungen, andere wie Leutschenbach und Gebiete entlang der Sihl in Zürich Süd werden voraussichtlich übergangslos neu überbaut. Während die Industrie und Teile des Gewerbes in der Agglomeration Ersatz finden, würde eine Verpflanzung der Kreativwirtschaft aus der Kernstadt hinaus die Kommunikationsnetze und damit das Nervensystem der kleinteiligen, hoch kommunikativen Cluster zerstören. Wird die Blüte der Kreativwirtschaft am Mangel von temporär verfügbaren Räumen und an zu hohen Preisen scheitern und das zaghaft gewachsene Interesse daran Episode bleiben?[3]

Zwischen 2006 und 2008 erforschte das Projekt zone*imaginaire Zwischennutzungen der Kreativwirtschaft und ihre Bedürfnisse in verschiedenen Schweizer Städten.[4] Unternehmen wurden befragt, die Planungsgeschichte verschiedener Areale rekonstruiert, die Beispiele mit Erfahrungen im Ausland und dem internationalen Stand der Forschung zum Thema verglichen. zone*imaginaire postuliert, dass die Zwischennutzung von Industriebrachen nicht nur eine Übergangslösung ist, bis definitive Konzepte umgesetzt sind, sondern heute einen grundlegenden Faktor der Dynamik einer Stadt darstellt. Gerade die zeitliche Beschränkung führt zu einer Verdichtung städtischer Prozesse. Es entsteht eine Laborsituation, in der die räumlichen, zeitlichen, sozialen und finanziellen Besonderheiten optimale Bedingungen für Innovation schaffen.

Mobile Immobilien

Im Rahmen von zone*imaginaire entwickelte das Planungsbüro NRS-team aus Cham die Idee, das knapper werdende Angebot an Zwischennutzungsflächen mit temporären Bauten zu verdichten und zu ergänzen. NRS-team forscht seit längerer Zeit an modularen Strukturen und hat Gebäude aus Holz für Ausstellungen und Messen, Kindergärten und Wohnungen realisiert. Ein anderer Projektpartner von zone*imaginaire ist die Versicherungsgesellschaft Swiss Life, die im Zürcher Binzquartier mehrere Liegenschaften und Landreserven besitzt. Mit einem ehemaligen Lagerhaus hat sie bereits Erfahrungen mit Zwischen- und Umnutzungen gemacht: In die minimal umgebauten, riesigen Lagerhallen des «Supertanker» zogen zunächst kleinere Betriebe aus dem kreativen Milieu. Danach ergänzte ein zweigeschossiger Aufbau aus Holz das Raumprogramm um kleinteiligere Atelier- und Büroflächen.[5] Die auf innovative Projekte spezialisierte Immobilienfirma, die den «Supertanker» entwickelt und vermietet hat, und das NRS-team erhielten Ende 2007 von Swiss Life den Auftrag, ein modulares Bausystem zu realisieren, das als Zwischennutzung für Kleinbetriebe im kreativen Sektor auf Brachen eingesetzt werden kann. Für die Machbarkeitsstudie in Form einer Pilotsiedlung stellte Swiss Life ein verwildertes Areal in der Binz zur Verfügung. Schnell stiess das Projekt auf die beiden Grundprobleme, mit denen jede Baute auf Zeit zu kämpfen hat und an der viele Designerentwürfe mobiler Module gescheitert sind: Wie lässt sich eine temporäre Struktur in ein rechtliches System einbetten, für das Häuser immobil und dauerhaft sind? Und wie kann die erhebliche Anfangsinvestition im begrenzten zeitlichen Rahmen abgeschrieben werden? Mit einer Markteinschätzung wurden die Parameter des Projekts festgelegt. Sein Grundmodul ist ein abschliessbarer, geheizter, ans Internet angeschlossener Raum von 25 m², der weniger als 500 Franken pro Monat kostet. Die Module müssen zu grösseren Einheiten kombinierbar sein. Es braucht eine minimale sanitäre Infrastruktur. Es zeigte sich, dass die engen Kostenlimiten nur mit industriell hergestellten Containern erreichbar sind. Holzsysteme sind zu teuer und müssen bei Umplatzierungen mit grossem Aufwand teilweise zerlegt und neu zusammengefügt werden.

Baurechtlich ist die Containersiedlung ein normales Gebäude. Sie ist zonenkonform, hält Abstände und Freiraumziffer ein, ist an die städtischen Ver- und Entsorgungsnetze angeschlossen, wurde ausgesteckt, öffentlich ausgeschrieben und vom Stadtrat Ende 2008 bewilligt. Die Container sind auf ihrer Eingangsseite verglast und haben auf der Rückseite ein Fenster. Dreistöckige Stapel mit jeweils 40 Containern bilden die Grundeinheit. Das Projekt kann in Etappen bis auf maximal 200 Einheiten ausgebaut werden. Die Container stehen auf vor Ort gegossenen Betonfundamenten. Laubengänge aus herkömmlichen Baugerüstelementen erschliessen die Obergeschosse und beschatten die Südfassade. Der Innenausbau besteht aus rohen, gespachtelten Gipsplatten an Wänden und Decken sowie einer zementgebundenen Werkstoffplatte am Boden. In jedem Stapel gibt es einen Sanitärcontainer mit WC und Dusche. Um die Stapel herum darf nach dem Bau die Pioniervegetation wieder wuchern. Die Mietfläche beträgt insgesamt 5400 m².

Als kritisch erwiesen sich die Energievorschriften, die Vorschriften zum barrierefreien Bauen und der Brandschutz. Nach einem Jahr intensiver Entwicklungsarbeit erfüllt nun das Containerdorf die geltenden Gesetze auch in dieser Hinsicht. Die Container sind konventionell isoliert und mit Einzelluftwärmepumpen geheizt. Die hohen Wärmedämmstandards führen zu einer guten Schalldämmung zwischen den Einheiten und auch im Sommer zu einem angenehmen Raumklima.

Für die Wirtschaftlichkeit des Projekts ist entscheidend, dass es bei der definitiven Überbauung seines jetzigen Standorts disloziert und an weiteren Orten wieder aufgebaut werden kann, bis die technische Lebensdauer der Container erreicht ist. Kommunen und grosse Immobilienfirmen können die langfristige Verfügbarkeit von geeigneten Standorten gewährleisten. Mit der Zwischennutzung durch ein Containerdorf würden sie ihre Erträge in Entwicklungsgebieten optimieren und zusätzliches Raumangebot für die Kreativwirtschaft schaffen. Bei einem Umzug wird jeder Container auf einen Lastwagen verladen, die Betonfundamente werden ebenfalls wiederverwendet.

Neben der Lösung von technischen und finanziellen Problemen hängt der Erfolg des Projekts davon ab, ob es zu einem «Ort» mit einer kreativen Atmosphäre wird. Das Containerdorf in der Binz braucht eine Identität, damit Gemeinschaftlichkeit wachsen kann. Sie soll durch ergänzende Angebote im Gastro- und Kulturbereich entstehen. Das Projekt erhielt den Namen «Basislager», eine Website[6] und eine Theaterregisseurin als Kuratorin. Zusammen mit einem Frühstück auf dem Baugelände reichte das, um es in der Zürcher Kulturszene bekannt zu machen. Die Nachfrage nach einem Platz im Basislager nahm stetig zu. Die ersten beiden Lose mit zusammen 78 Einheiten sind vermietet. Bereits ist auch das Interesse von anderen Liegenschaftenbesitzern geweckt.

Wenn es im Betrieb funktioniert, wird das Basislager vielleicht etwas zum alten Traum der Moderne beitragen, die Immobilie ein bisschen mobiler zu machen. Auf jeden Fall schafft es willkommenen Raum in einer Stadt, in welcher der Platz für Kreativität notorisch knapp ist.


Anmerkungen
[01] Richard Florida: The Rise of the Creative Class. New York 2002
[02] Philipp Klaus: Stadt, Kultur, Innovation. Kulturwirtschaft und kreative innovative Kleinstunternehmen in der Stadt Zürich. Zürich 2006
[03] Eine Sammlung von Zwischennutzungsprojekten findet sich auf: www.zwischennutzung.net
[04] zone*imaginaire ist ein gemeinsames Projekt von verschiedenen Hochschulen, privaten Planungsfirmen, grossen Grundeigentümern und Kommunen. Es wurde vom KTI, Förderagentur für Innovation des Bundes, unterstützt (vgl. am Bau Beteiligte). www.zone-imaginaire.ch
[05] www.supertanker.ch
[06] www.basis-lager.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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