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TEC21 2009|25
Naturnaher Waldbau
TEC21 2009|25
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Von der Natur lernen

Seit den 1940er-Jahren wird in der Schweiz die Entwicklung von Wäldern, in die der Mensch nicht eingreift, beobachtet. Die Forschung in Naturwaldreservaten liefert wichtige Erkenntnisse für den Naturschutz. Sie ermöglicht zudem, die Waldbewirtschaftung zu optimieren und Simulationsmodelle für künftige Waldentwicklungen zu verbessern.

19. Juni 2009 - Harald Bugmann, Peter Brang
Bereits im 19. Jahrhundert stellte man in der heutigen Tschechischen Republik Urwaldreste unter Schutz, um die Entwicklung des Waldes unter natürlichen Bedingungen, d. h. in Abwesenheit von menschlichen Eingriffen, beobachten zu können. Dies geschah anfangs aus einer naturkundlichen Neugier; man war sich der Einzigartigkeit dieser Wälder bewusst. Später kam die Einsicht hinzu, dass die Bewirtschaftung von Wäldern sich sinnvoller weise an natürlichen Prozessen orientieren sollte, d. h., dass man möglichst mit der Natur und nicht gegen die Natur wirtschaftet.

In der Schweiz wurde die Errichtung und Erforschung von Waldreservaten, in denen keine Bewirtschaftung erfolgt, seit den 1940er-Jahren durch Hans Leibundgut, Professor an der ETH Zürich, vorangetrieben. Im Jahr 1948 wurde das Reservat «Moos» bei Birmensdorf vertraglich gesichert, und im Lauf der Zeit dehnte Leibundgut die Forschungstätigkeit auf ein schweizweites Netzwerk von 37 Reservaten aus. Die bekanntesten davon sind der Bödmerenwald im Kanton Schwyz, das Reservat im von Charles Ferdinand Ramuz literarisch verewigten Talkessel von Derborence[1], der berühmte Aletschwald am Rand des Aletschgletschers und der Blockschutt-Fichtenwald Scatlè bei Breil/Brigels.

Der Aufbau eines schweizerischen Waldreservatnetzwerks erfolgte in enger internationaler Zusammenarbeit. Leibundgut und seine Fachkollegen setzten sich auch für die Erforschung der verbleibenden Urwaldreste in Osteuropa – etwa in den Westkarpaten, in Slowenien und Polen – ein. Der Besuch dieser Urwälder ist auch heute noch sehr lohnend und hinterlässt unvergessliche Eindrücke.

Vielfältige Forschungsziele

Die heutige Waldreservatspolitik der Schweiz steht im Einklang mit den internatio nalen Bemühungen (siehe Kasten). Sie hat zum Ziel, einen Teil der Waldfl äche zu schützen, damit natürliche Prozesse sich entfalten und bedrohte Tier- und Pfl anzen arten ein Refugium erhalten. Während Bäume in forstlich genutzten Wäldern in der Regel im Alter von 80 bis 150 Jahren geerntet werden, erreichen einige von ihnen im Naturwald ein sehr viel höheres Alter. 300 Jahre alte Bäume sind in einem Urwald keine Seltenheit. Die Bäume erreichen auch grössere Dimensionen. Und nach ihrem Absterben verbleiben sie als Totholz im Wald, was wertvolle Lebensräume für spezielle Arten schafft.

In einem Teil der Waldreservate erforschen die Eidgenössische Forschungsanstalt WSL, die ETH Zürich und das Bundesamt für Umwelt (Bafu) den Zustand und die Entwicklung des Waldes (Abb. 1). Eine wichtige Mo tivation dieser Forschung ist es, Unterschiede zwischen bewirtschafteten Wäldern und Waldreservaten nachzuweisen, was unter anderem der Wirkungskontrolle der Waldreservatspolitik des Bundes dient.

Auch ein besseres Verständnis der Dynamik von waldbaulich unbeeinfl ussten Be ständen ist von besonderem Interesse, weil kostenlos ablaufende natürliche Prozesse in der Waldbewirtschaftung möglichst weitgehend genutzt werden sollten. Dazu zählt unter anderem die natürliche Walderneuerung. Zudem liefert die Reservatsforschung wichtige Grundlagen, um die zukünftige Entwicklung von Wäldern unter der vom Menschen verursachten globalen Klimaveränderung mit Simulationsmodellen abschätzen zu können.

Bis zu sechs Inventuren

Basie rend auf sorgfältigen Beobachtungen und ers ten Erhebungsresultaten entwickelten Leibund gut und andere Wissenschafter schematische Darstellungen der Entwicklungsdynamik verschiedener Waldtypen. Sie teilten die Waldentwicklung ein in aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen wie die Jungwald-, die Optimal- und Alterungsphase des Waldes. Diese Vorstellungen der Waldentwicklung fanden eine weite Verbreitung in den Forstwis senschaften. In der neueren Forschung werden sie anhand der konsolidierten Daten aus den schweizerischen Waldreservaten und anderen Quellen sowie unter Einbezug der jetzt verfügbaren Zeitreihen kritisch überprüft. In einigen Reservaten liegen seit 1956 nun bereits fünf oder sogar sechs Ergebnisse von Inventuren vor. Bei jeder Inventur werden alle Bäume im Reservat nach einem genau vorgeschriebenen Protokoll vermessen: Der Stammdurchmesser auf 1.3 m über Boden, die Vitalität der Bäume und andere Grössen werden aufgenommen; bei einem Teil der Bäume wird auch die Höhe gemessen. Die Inventuren fi nden je nach Baumarten, Höhenlage und Entwicklungsgeschwindigkeit der Wälder alle fünf bis zwölf Jahre statt.

Natürliche Störungen berücksichtigen

Die vor ein paar Jahren angelaufenen systematischen Auswertungen der Daten der Schweizer Waldreservate zeigen, dass die ursprüng lichen Vorstellungen davon, wie sich unbewirtschaftete Wälder entwickeln, verfeinert und teils sogar revidiert werden müssen. So ist aus heutiger Sicht insbesondere klar, dass die Rolle von natürlichen Störungen (z. B. Insektenbefall, Windwürfe) explizit in die Betrachtung mit einbezogen werden muss, da solche Störungen aus ökologischer Sicht nicht wirklich stören, sondern ein Teil der natürlichen Dynamik der Wälder sind.

Aufgrund erster Auswertungen der vorliegenden Daten können wir zum Beispiel sagen, dass in den meisten Reservaten im Mittelland im Verbreitungsgebiet der Buche die Dominanz der Buche zunimmt. Da die Buche eine dichte Krone hat und sehr viel Schatten wirft, kommen viele andere Baumarten unter Druck, weshalb die Baumartenvielfalt langsam zurückgeht. Im bewirtschafteten Wald kommt hingegen wegen der Holznutzung immer wieder Licht in die Bestände, was auch lichtbedürftigeren Arten das Überleben sichert. Manchmal möchte man das Wachstum von lichtbedürftigen Baumarten wie Kirschbaum, Ahorn oder Eiche bewusst fördern. Wird nun der Natur freien Lauf gelassen, so kommt die Buche während einer gewissen Zeit verstärkt zur Dominanz. Dafür nimmt in Waldreservaten die Menge an Totholz und damit die Diversität an vielen Insekten-, Vogel- und Pilzarten, die auf abgestorbenes Holz angewiesen sind, stark zu. Längerfristig, d. h., wenn die derzeit heranwachsende und älter werdende Buchengeneration abgelöst wird, dürfte die Baumartendiversität wieder zunehmen, ganz besonders nach Störungsereignissen wie Windwurf. Sollen die Auswirkungen der Unterschutzstellung eines Waldes beurteilt werden, so muss man also genau hinschauen: Was für eine Artengruppe positiv ist, kann für eine andere Gruppe negativ sein.

Den Datenschatz pflegen und nutzen

Seit 2006 ist die Waldreservatsforschung der Schweiz[2] ein Gemeinschaftsprojekt der WSL, der ETH Zürich und des Bafu. Die Methoden wurden über ar beitet, das Reservatsnetzwerk überprüft und ergänzt. Neu werden auch sogenannte «Habitatstrukturen» aufgenommen, z. B. die Anzahl der Spechtlöcher pro Baum oder das Vorhandensein von toten Kronenteilen; damit soll es noch stärker als bisher möglich sein, Aussagen zum Naturschutzwert der Waldreservate zu machen. Ausserdem wird auch Totholz detaillierter erfasst. Erhoben wird schliesslich auch die Verjüngung, d. h. Bäume mit einem Stammdurchmesser von weniger als 4 cm. Dies ist besonders wichtig, da die Zusammensetzung der Verjüngung ein wichtiger Indikator für die in Zukunft zu erwartende Waldentwicklung ist.

Den Datenschatz, mit dem wir heute arbeiten können, verdanken wir der kontinuierlichen Arbeit von mehreren Generationen von Wissenschaftern sowie unzähligen Mitarbeitenden, welche die Daten über Jahrzehnte in einer immensen Fleissarbeit sehr zuverlässig erhoben haben. Der Wert der Datenzeitreihen nimmt mit jeder Inventur zu. Wir sind bestrebt, diesen Datenschatz zu pfl egen und zu erweitern sowie für neue Frage stellungen nutzbar zu machen. Neben der wissenschaftlichen Erforschung im Rahmen von Doktorarbeiten ist gegenwärtig eine Buchpublikation in Vorbereitung.


Anmerkungen
[01] Das literarische Werk «Derborence» des Westschweizer Schrift stellers Charles Ferdinand Ramuz erschien 1934. Es handelt vom Bergsturz südlich des Diablerets-Massivs in den Walliser Bergen. Dieser ereignete sich 1714, verschüttete zahlreiche Alphütten und forderte mehrere Menschenleben. 1956 wurde auf der Urwaldfläche beim Lac de Derborence, der durch einen weiteren Bergsturz 1749 gestaut wurde, ein Waldreservat eingerichtet.
[02] Weitere Informationen: www.waldreservate.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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