Zeitschrift

TEC21 2009|37-38
Natur inspiriert Technik
TEC21 2009|37-38
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Bionische Innovationen

Die verstärkte Suche nach innovativen und nachhaltigen Technikkonzepten hat in den letzten zehn Jahren zu einem grossen Aufschwung der Bionik sowohl im Forschungs- als auch im Anwendungsbereich geführt. Vielversprechend sind unter anderem Entwicklungen in den Bereichen Ober- & Grenzflächen, Leichtbau & Materialien sowie Architektur & Design, von denen die wichtigsten im Folgenden vorgestellt werden.

11. September 2009 - Thomas Speck, Olga Speck
Der Begriff Bionik setzt sich aus den Worten Biologie und Technik zusammen und steht für das kreative Übertragen von Wissen und Anregungen aus der Biologie in die Technik. Dieser Prozess verläuft ausgehend vom biologischen Vorbild in der Regel über mehrere Abstraktions- und Modifikationsschritte: Analyse des biologischen Vorbilds – Prinzipverständnis – Abstraktion – technische Umsetzung (Konzeption, Demonstrator, Prototyp) – Markteinführung.[1,2]

Dabei ist Bionik eine sehr transdisziplinäre Wissenschaft, in der Naturwissenschafter mit Ingenieuren, Architekten und Designern zusammenarbeiten. Bei bionischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten lassen sich zwei prinzipielle Vorgehensweisen unterscheiden: Beim Bottom-up-Prozess (Biology Push) steht die für eine technische Umsetzung interessante Entdeckung aus der Biologie am Anfang des Projekts. Beim Top-down-Prozess (Technology Pull) ist die Fragestellung nach einer gezielten bionischen Verbesserung von Seiten der Technik bzw. Industrie der Ausgangspunkt. Heute werden in der Bionik meist sieben Teilbereiche unterschieden [1,2,6]:
1. Fluiddynamik, Schwimmen & Fliegen
2. Biomechatronik & Robotik
3. Optimierung 4. Leichtbau & Materialien
5. Oberflächen & Grenzflächen
6. Kommunikation & Sensorik
7. Architektur & Design.

Während es sich bei den ersten drei Bereichen um «traditionelle» Themen der Bionik handelt, haben sich in den letzten Jahren vor allem auch die übrigen Bereiche als sehr innovative und anwendungsrelevante Gebiete für die bionische Forschung und Entwicklung erwiesen.[2–4]

Molekulare und Energiebionik

Aufgrund der sehr dynamischen Struktur der bionischen Forschungslandschaft sind die Übergänge zwischen den Teilbereichen fliessend, und es bilden sich immer wieder neue Forschungsrichtungen heraus. Zu nennen sind hier beispielsweise die Energie- und die molekulare Bionik, die sich gerade in den letzen beiden Jahren als Vielversprechend erwiesen haben und in vielfältiger Weise mit den sieben etablierten Teilbereichen vernetzt sind. Molekulare Bionik beschäftigt sich mit der Übertragung molekularer Strukturen und Funktionsweisen aus der Biologie in bionische Materialien, wobei eng mit der makromolekularen Chemie und Physik Zusammengearbeitet wird. Die Energiebionik erforscht die Möglichkeiten zur Übertragung der Prinzipien des hocheffizienten Energiehaushalts biologischer Vorbilder in technische Anwendungen. Hierbei erstreckt sich die Spannweite von bionischen Energiekonzepten für Gebäude bis zur molekularen Umsetzung in energieautonome Materialien.

Selbstreparierende Systeme

Im Bereich Leichtbau & Materialien haben sich in den letzten Jahren unter anderem die sogenannten «Selbst-X-Materialien» als Entwicklungen mit hohem Innovations- und Anwendungspotenzial erwiesen. Darunter fasst man Materialien zusammen, die ähnlich wie ihre biologischen Vorbilder selbstständig auf veränderliche Umwelteinflüsse reagieren können, d. h. selbstadaptiv sind oder über andere biologisch inspirierte Eigenschaften verfügen wie Selbstreinigung, Selbstreparatur, Selbsterneuerung, Selbstreplikation, Wachstum durch Selbstorganisation oder über eine autonome Energieversorgung. Ein aktuelles Forschungsfeld ist die Entwicklung selbstreparierender technischer Materialien nach dem Vorbild der Natur.[5] In der Plant Biomechanics Group (PBMG) Freiburg werden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Projektpartnern zwei Forschungsprojekte zu diesem Thema bearbeitet. Das erste Projekt beschäftigt sich mit der Entwicklung bionischer Selbstreparaturkonzepte nach dem Vorbild wundversiegelnder pflanzlicher Latex- und Harzsysteme für Polymerwerkstoffe, die in (mechanisch hochbelasteten) Dichtungen und Schwingungsdämpfern eingesetzt werden sollen. Die Idee ist, dass ähnlich wie beim biologischen Vorbild bei der Entstehung von Mikrorissen zwei chemische Komponenten, die in Mikrokapseln oder -röhren im Material eingebettet sind, im Bereich des Risses freigesetzt werden und polymerisieren. Hierdurch wird eine weitere Rissausbreitung unterbunden und der Riss repariert (Abb. 4).

Das zweite, in Kooperation mit der Empa Dübendorf und dem Freiburger Materialforschungs­zentrum durchgeführte Projekt hat die Entwicklung selbstreparierender bionischer Membranen für pneumatische Systeme (z. B. Tensairity-Strukturen, vgl. «Fliegen mit Forellen und Drachen», S. 34ff.) zum Thema. Vorbild sind hierbei zelluläre Selbstreparatursysteme, wie sie bei vielen Pflanzen nach inneren Spannungsrissen durch Wachstumsprozesse oder nach äusseren Verletzungen aktiviert werden. Hierbei quellen aufgrund des Innendrucks Zellen in die Risse und versiegeln diese (Abb. 1). In späteren Phasen der Selbstreparatur, wie sie bei Lianen der Gattung Aristolochia exemplarisch beobachtet werden können, teilen sich die Reparaturzellen, kleiden den Riss vollständig aus und können letztlich sogar dickwandig werden und verholzen und somit zusätzlich zur Rissversiegelung die mechanischen Eigenschaften des reparierten Gewebes wiederherstellen. Basierend auf den biologischen Vorbildern wurde durch geschlossenporige Schäume, die unter Überdruck auspolymerisiert werden, eine bionische, selbstreparierende Beschichtung entwickelt und patentiert, die den Luftausstrom bei Verletzungen bis 5 mm Durchmesser um 2 bis 3 Grössenordnungen verlangsamen kann.[5] Ziel der aktuellen Forschungen ist es, eine vollständige Abdichtung und die Wiederherstellung der mechanischen Eigenschaften der Membran durch den bionischen Selbstreparaturschaum zu erreichen.

«Hierarchische» Materialien

Vielversprechende Entwicklungen im Bereich Leichtbau & Materialien laufen auch im Bereich der «hierarchischen» Materialien. Als Vorbilder dafür nutzt man biologische Materia­lien, die typischerweise auf mehreren hierarchischen Grössenskalen, die von der molekularen Ebene bis zum makroskopischen Aufbau reichen, strukturiert und funktionalisiert sind. Spezifische Funktionen können entweder auf einer einzelnen Hierarchiebene oder mehrere Ebenen übergreifend erreicht werden. Mit der hierarchischen Materialstrukturierung wie zum Beispiel der Entwicklung bionischer Materialien, bei denen die verschiedenen Komponenten durch allmähliche strukturelle und mechanische Übergänge verbunden sind, befassen sich auch mehrere aktuelle Projekte in der PBMG Freiburg. Dabei geht es um die Entwicklung struktur- und gewichts­optimierter, verzweigter und unverzweigter bionischer Faserverbunde mit allmählichem Steifigkeitsübergang zwischen Fasern und Matrix, die in Kooperation mit verschiedenen Projektpartnern durchgeführt wird (Abb. 2) (vgl. «Technische Textilien», S. 26ff.). Ziel ist es, dauerhaft hoch belastbare, stark dämpfende bionische Materialien mit einem gutmütigen Bruchverhalten zu entwickeln.

Haft- und Antihaft-Oberflächen

Im Bereich Grenz- und Oberflächen sind neben den für bionische Materialien wichtigen inneren Grenzflächen vor allem auch die äusseren Oberflächen und deren Funktionalisierung nach dem Vorbild der Natur ein interessanter Forschungsbereich. Zwei der wichtigsten Entwicklungen der modernen Bionik stammen aus diesem Themenbereich: die nach dem Vorbild von Pflanzenblättern entwickelten selbstreinigenden Oberflächen (Lotus-Effekt, vgl. TEC21 38/2003) und die der Schuppenstruktur der Haihaut nachempfundenen reibungsvermindernden Oberflächen (Riblettstrukturen, vgl. äusseres Titelbild).[4,6] Obwohl beide bioni­schen Entwicklungen bereits in den 1980er- bzw. 1990er-Jahren begonnen wurden, wird auch heute noch intensiv zu dieser Thematik geforscht, wobei vor allem die Übertragung auf verschiedene technische Materialien im Vordergrund steht (vgl. «Technische Textilien», S 26ff.).

Weitere Forschungsrichtungen im Bereich Grenzflächen- und Oberflächen beschäftigen sich mit der Entwicklung biologisch inspirierter Haft- und Antihaftstrukturen. Vorbilder für reversible bionische Haftstrukturen sind die Anhaftungssysteme der Füsse von Geckos (vgl. inneres Titelbild), Baumfröschen, Spinnen und Insekten. Für permanente bionische Haft­systeme werden die Haftstrukturen von Pflanzen (z. B. Haftpads des Wilden Weins [Abb. 3], Haftwurzeln von Efeu) als biologische Vorbilder genutzt.[4, 6] Für bionische Antihaftoberflächen wird vor allem die Interaktion zwischen Insekten und Pflanzenoberflächen, auf denen Insekten schlecht oder gar nicht laufen können, untersucht. Weitere aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Antifouling-Beschichtungen nach dem Vorbild der Haut von Meereslebewesen, die einen Bewuchs von Schiffen mit Seepocken und anderen Meereslebewesen verhindern[6], und die Entwicklung von Oberflächen, die unter Wasser langfristig eine Luftschicht halten können, wie man sie z. B. bei Wasserspinnen und Schwimmfarnen findet. Solche Strukturen können beispielsweise als reibungsvermindernde Oberflächen bei Schiffsrümpfen oder für die Herstellung trocken bleibender Badekleidung eingesetzt werden [4, 6].

Biegsame Flächentragwerke

Unter den oben aufgeführten, aktuell sehr intensiv bearbeiteten Teilbereichen der Bionik nimmt die Architektur eine gewisse Sonderstellung ein. Sie kann nicht nur von originär architekturbionischen Entwicklungen wie biegsamen Flächentragwerken (siehe unten) oder bionischen Lüftungssystemen profitieren, sondern zudem viele Entwicklungen aus anderen Teilbereichen der Bionik wie Leichtbau & Materialien, Oberflächen & Grenz­flächen, Optimierung sowie Sensor- und Energiebionik nutzen. Diese liefern vielfältige innovative Ideen und Produkte, die im Bauwesen zum Einsatz kommen können. Ein weiterer Vorteil, den der Einsatz der Bionik im Bauwesen bietet, ist die Tatsache, dass Gebäude in der Regel Unikate darstellen. In diesen können bionische Entwicklungen sozusagen auf der Ebene eines Prototyps, aber dennoch mit voller Kundennutzung umgesetzt und im Dauer­betrieb untersucht werden.

Ein aktuelles bionisches Forschungsprojekt im Bereich Architektur befasst sich mit biegsamen Flächentragwerken. Durchgeführt wird das Projekt vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen der Universität Stuttgart in Kooperation mit der PBMG Freiburg. Biologische Bewegungsmechanismen – vor allem bei Pflanzen und wirbellosen Tieren – beruhen häufig auf der Nachgiebigkeit ihrer Komponenten und zeichnen sich durch Robustheit, d. h. geringe Störungsanfälligkeit des Systems, energieeffiziente Kinematik und spar­samen Umgang mit Materialien aus. Im Forschungsprojekt soll ausgehend von der Identifikation und der Analyse der biologischen Vorbilder (z. B. sich entfaltende oder einfaltende Blüten- und Blattstrukturen) die Umsetzung in eine architektonische Lösung durchgeführt werden. Ziel des Vorhabens ist es, wandelbare Konstruktionen mit adaptiver Steifigkeit für Architektur und Bauwesen zu entwickeln, deren bionische Kinematik auf der reversiblen Verformung ihrer in der Steifigkeit anpassungsfähigen Komponenten auf der Basis neu­artiger Verbundwerkstoffe beruht. Vorteil dieser Konstruktionsweise gegenüber konventionellen Systemen ist die Vielfalt der statisch stabilen Verformungszustände, wodurch sie sich flexibler an verschiedene Nutzungsbedingungen anpassen können und neue bionische Ansätze für Fassadenverschattungen und Überdachungen liefern.[7]


[Thomas Speck, Prof. Dr., Lehrstuhl für Botanik: Funktionelle Morphologie und Bionik, Plant Biomechanics Group (PBMG), Botanischer Garten der Universität Freiburg, Deutschland, Sprecher des Kompetenznetzes Biomimetik und Vicepresident BIOKON international, Wissenschaftliches Mitglied im Freiburger Materialforschungszentrum (FMF)
Olga Speck, Dr., Managerin des Kompetenznetzes Biomimetik, Plant Biomechanics Group (PBMG), Botanischer Garten der Universität Freiburg, Deutschland]

Anmerkungen:
[01] Speck, T., und Speck, O.: Bionik – Innovative Wege zu neuen Materialien und Technologien, 2008. – MB-Revue-Maschinenbau: Das Schweizer Industriemagazin, Jahreshauptausgabe 2008, S. 104–108 [02] Speck, T., und Speck, O.: Process sequences in biomimetic research, 2008. – In: Brebbia, C.A. (ed.), Design and Nature IV, p. 3–11. WIT Press, Southampton
[03] Fratzl, P.: Biomimetic materials research – What can we really learn from Nature’s structural materials? 2007. – J. Roy. Soc. Interface, 4, p. 637–642
[04] Bhushan, B. (ed.): Biomimetics I: functional biosurfaces and Biomimetics II: fabrication and application, 2009. – Phil. Trans. R. Soc. Lond. A, 367, 1443–1813
[05] Speck, T., Luchsinger, R., Busch, S., Rüggeberg, M., und Speck, O.: Self-healing processes in nature and engineering: self-repairing biomimetic membranes for pneumatic structures, 2006 – In: Brebbia, C.A. (ed.), Design and Nature III, p. 105–114. WIT Press, Southampton
[06] Spektrum Bionik – Vorbild Natur in Leben und Technik. Wissen Media Verlag (Bertelsmann), Gütersloh
[07] Lienhard, J., Poppinga, S., Schleicher, S., Masselter, T., Speck, T., und Knippers, J.: Abstraction of plant movements for deployable structures, 2009. – Thiebaut, B. (ed.), Proceedings of the 6th International Plant Biomechanics Conference Cayenne, in press

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