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TEC21 2009|37-38
Natur inspiriert Technik
TEC21 2009|37-38
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Technische Textilien

Technische Textilien eignen sich besonders gut für bionische Entwicklungen. Eine der bekanntesten ist der Klettverschluss. Für neuere Entwicklungen stehen beispielsweise der Flüssigkeitstransport in Lianen oder die lichttechnischen Eigenschaften des Eisbärenfells Pate.

11. September 2009 - Thomas Stegmaier, Heinrich Planck
Das Prinzip des Klettverschlusses entdeckte der Schweizer George de Mestral 1948: Wenn er mit seinem Hund von der Jagd zurückkam, waren beide voller Kletten. Unter dem Mikroskop erkannte er den Haltemechanismus der Klettfrucht und baute ihn unter Einsatz der damals ganz neuen Polyamidfasern nach.
Die textilen Verfahrenstechniken bieten von Haus aus ein gutes Potenzial für bionische Entwicklungen:
– Analog den Wachstumsprozessen in der Natur mit Atomen und Molekülen als Bausteinen werden in der Textiltechnik ausgehend von kleinen und kleinsten Fasern grössere Systeme geschaffen. Gegenüber den in der Technik oft eingesetzten Prozessen wie der Herstellung grosser Halbzeuge (z.B. Stahlplatten), deren anschliessender Zerkleinerung (z.B. Schneiden, Bohren, Drehen, Fräsen) und dem folgenden Zusammenbau (z. B. Maschinenmontage) sind sie energiearm und materialschonend.
– Faserige und haarige Strukturen sind bei Pflanzen und Tieren in mannigfacher Weise ausgebildet. Haare finden sich an Blattober- und -unterseiten, an Füssen und Köpfen von Insekten, als Dicht- und Gleitelemente zwischen Hartschalen von Insekten, im Gefieder von Vögeln, im Pelz von Tieren und in Fadenform auch bei Spinnennetzen. Sie sind die Basis für viele Funktionen und Mechanismen, die wir bislang nur zum Teil verstanden haben.
– Auch faserverstärkte Materialien gibt es in der Natur in vielen Facetten und Formen. Faserverbundwerkstoffe finden sich in weicher und harter Ausbildung in Knochen, Pflanzenhalmen, Blättern und Oberflächen. Sie bestehen aus organischen und anorganischen Elementen und sind die Grundlage von hochbelastbaren und gleichzeitig leichten und materialarmen Strukturen.

Selbstreinigende Oberflächen

Oberflächen von Pflanzen und auch von einigen Tieren zeigen erstaunliche selbstreinigende Eigenschaften, indem abfliessende Wassertropfen sowohl aufliegenden Schmutz als auch Bakterien und Pilze mitnehmen. Bekannt ist dieses Phänomen als Lotus-Effekt. Für eine funktionierende technische Umsetzung, wie sie beim Lotus-Effekt in den letzten Jahren gelang, sind einige Rahmenbedingungen zu beachten. Sie gehen – wie bei vielen guten bionischen Entwicklungen – weit über eine reine Kopie des natürlichen Vorbildes hinaus:
– Die Natur generiert die Selbstreinigung mit zwei topografischen Hierarchieebenen: Mikrostrukturen im Bereich von 10 bis 50µm und Nanostrukuren im Bereich von 20 bis 200nm. Bei textilen Werkstoffen können diese beiden Hierarchieebenen durch die Einzel­faserdimension und eine nanotechnologische Ausrüstung, die auf den Fasern eine Strukturierung auf der Nanometerebene erzielt, gebildet werden. Zusätzlich unterstützt jedoch eine Makrostruktur im Bereich von 20 bis 200 µm die Selbstreinigung durch die Hierarchieebene der textilen Flächenbildung, beispielsweise beim Weben durch die Bindungstechnik von Kett- und Schussfäden. Selbstreinigende Oberflächen gelingen besonders gut mit Endlosgarnen, den sogenannten Multifilamenten.
– Kombiniert wird die Rauigkeit mit hydrophoben Oberflächen. Entgegen den Oberflächen von Blättern müssen sich die meisten technischen Oberflächen aber auch von Ölen und Fetten reinigen lassen. Somit genügen in der Technik nicht allein Wachse, wie sie die Natur einsetzt, sondern sind vielmehr Beschichtungen notwendig, die ölabweisend wirken. Dies wird in der Technik mit Hilfe von Fluorcarbonen erzielt.
– Die technischen Materialien müssen ausserdem länger halten als viele Materialien in der Natur, die sich erneuern, seien es Pflanzenblätter oder nachwachsende Haare im Pelz von Tieren. Entsprechend ist im Aussenbereich auf UV-resistente Werkstoffe zu achten.
– Auch die Abrasionsbeständigkeit muss in der Technik höheren Anforderungen genügen, zumal bei den technischen Materialien noch keine Selbsterneuerung von Oberflächen wie bei den natürlichen Vorbildern entwickelt werden konnte.

Im Textilbereich sind erste Produkte mit Lotus-Effekt auf dem Markt erhältlich (Abb. 1, 2).[1] Entsprechend dem guten Entwicklungsstand hat das Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV) Denkendorf ein Qualitätszeichen für selbstreinigende Textilien auf der Basis des Lotus-Effektes erstellt, das für Produkte vergeben werden kann, die die strengen Prüfungen erfolgreich bestehen. Eine der Voraussetzungen ist die Reinigung von russ- und ölhaltigem Schmutz, der leicht in die Oberfläche eingerieben wird, allein mit Wasser.

Eines der ersten Produkte, die das Qualitätszeichen tragen dürfen, sind Markisen eines deutschen Herstellers. Sie sind entgegen den bisherigen Geweben nicht mit Spinnfasergarnen, sondern mit Multifilamenten in Kombination mit einer witterungsbeständigen und ausreichend abriebbeständigen, nanostrukturierten Ausrüstung entwickelt. Zurzeit arbeitet das ITV Denkendorf mit der Industrie an der Übertragung der Selbstreinigung auf beschichtete Gewebe (Membranen) für Bauanwendungen, z.B. für die Dächer von Stadien, Flughäfen oder Bahnhöfen.

Flüssigkeitstransport ohne Pumpen

Weitere Entwicklungen betreffen den Transport von Niederviskosen Flüssigkeiten mit faserbasierten Systemen ohne Pumpen. Biologische Vorbilder hierfür sind Bäume und insbesondere Lianen, die in der Lage sind, Wasser über grosse Höhen und weite Entfernungen ohne mechanische Pumpsysteme zu transportieren. Die benötigte Energie wird hierbei letztlich durch die Sonne über den Transpirationssog geliefert. Für eine Umsetzung in textile Materialien sind neben der Tatsache, dass kein aktiver Pumpmechanismus vorliegt, vor allem folgende Eigenschaften von Interesse:
– Das Transportvolumen regelt sich ausschliesslich nach dem Bedarf, d.h. es wird genau so viel Wasser transportiert, wie für den Stoffwechsel der Pflanzen benötigt wird.
– In den Pflanzen ist eine hohe Transportsicherheit durch Vermeidung und Reparatur von Embolien realisiert. Aufgrund des hohen negativen Innendrucks, der in den wasserleitenden Zellen herrscht, besteht die Gefahr, dass bei Verletzungen z.B. durch Astbrüche oder Frostrisse Gasblasen entstehen. Clevere Mechanismen der Pflanzen machen solche Embolien unschädlich, damit der Wasserfaden und somit der Wassertransport nicht unterbrochen werden. Diese Mechanismen sind mit Hilfe von Transportkapillaren realisiert, die in der Länge auf wenige Zentimeter begrenzt sind und das Wasser über Membranschleusen an die nächste Kapillare weitergeben. Gasblasen werden damit eingeschlossen und isoliert, möglicherweise auch zusätzlich durch Diffusionsprozesse eliminiert. Die biologischen Studien werden hierzu in naher Zukunft noch einige Geheimnisse lüften.

Die technische Realisierung ist noch in der Grundlagenforschung. Jedoch sind die Anwendungsmöglichkeiten enorm. Einsatzbereiche für bionisch inspirierte Textilien für den Flüssigkeits(fern)transport sind beispielsweise unterirdische Bewässerungssysteme ohne aktiven Pumpmechanismus mit sparsamer, bedarfsregulierter Wasserabgabe für die Bewässerung von Pflanzen. Am ITV Denkendorf gelingt der Transport mit speziellen Fasermaterialien aktuell über 1.5 m Förderhöhe. In weiteren Grundlagenstudien sind bereits Förderhöhen über 17 m realisiert.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten für dieses neue Prinzip finden sich in Bereichen, in denen grössere Mengen an Flüssigkeit über einen längeren Zeitraum abtransportiert werden müssen. Solche Bereiche sind die Drainage von Bauwerken, medizinische und Bekleidungstextilien sowie Brennstoffzellen.

Trinkwassergewinnung durch Nebelernte

Die Bereitstellung von Trinkwasser ist eine der grossen Herausforderungen der Zukunft. Auch hier liefert die Natur Ideen zur Gewinnung von Wasser aus der Luft, was insbesondere in extremen Wüstengebieten zu finden ist. Aktuell lernt das ITV Denkendorf – in Kooperation mit der Universität Tübingen – vom Wüstenkäfer Onymacris unguicularis (Abb. 3) und vom Dünengras Stipagrostis sabulicola die Details der Nebeltröpfchenabscheidung aus der Luft. Die inzwischen entwickelten Textilstrukturen[2] ermöglichen einen sehr guten Kompromiss aus:
– mechanischer Beständigkeit gegen starke Winde und Stürme
– hoher Luftdurchlässigkeit für einen guten Nebeldurchsatz
– sehr hoher Nebelabscheidung, die über dem 3- bis 4fachen von üblichen Textilnetzen liegt (Abb. 4).

Im Moment laufen Feldversuche in der Wüste Namib sowie auf der Insel Kreta für die Gewinnung von Trinkwasser und die Bewässerung von Kulturpflanzen. Weitere technische Anwendungen sind beispielsweise die Aerosolabscheidung in der Luftfiltration. So ist zum Beispiel die Ölnebelabscheidung der Absaugluft an Werkzeugmaschinen ein gesetztes Ziel dieser Entwicklungsarbeiten.

Transparente Wärmedämmung für Solarkollektoren

Auch für Energiefragen bietet die Natur noch viele Anregungen, insbesondere zur technischen Nutzung der Sonnenenergie. Die derzeit eingesetzten Solarkollektoren für Warmwassergewinnung bestehen aus starren Materialien und sind damit schwer und ortsgebunden. Für die Abdeckung der schwarz-bläulichen Absorber besteht der Wunsch nach einer flexiblen, leichten, bruchsicheren und transparenten Wärmedämmung für das Einfangen des Lichtes. Diese hat die Aufgabe, das Licht durchzuleiten, aber die entstehende Wärme im Absorber zu isolieren und den Wärmefluss nach aussen möglichst gut zu unterbinden.

Dies konnte durch die Übertragung der lichttechnischen Funktionen des Eisbärenfells in ein faserbasiertes technisches Produkt realisiert werden (Abb. 5 und 6). Der Eisbär vereint dabei erstaunliche Funktionen. Trotz seinem opaken Fell, das auf eine (anteilige) Reflexion des Sonnenlichtes hinweist, ist er in der Lage, grosse Anteile des einfallenden Sonnenlichts einzufangen, mittels seiner weissgelblichen Haare an die schwarze Epidermis weiterzuleiten und dort in Wärmeenergie umzuwandeln. Das Fell dient gleichzeitig dazu, die so gewonnene Wärme in der Haut zu isolieren und zurückzuhalten. Das gelingt so gut, dass der Eisbär für eine Infrarotkamera nahezu unsichtbar ist.

Das nach diesem Vorbild entwickelte technische Produkt, das grossindustriell hergestellt werden kann, basiert auf textilen Abstandsstrukturen, das heisst Textilien aus zwei Textil­lagen, die über vergleichsweise steife Fäden auf Abstand gehalten werden.[3] Bewährt haben sich inbesondere Abstandstextilien, die zusätzlich mit transparenten (Abb. 6) bzw. eingefärbten Beschichtungen aus Silikonkautschuk versehen werden. Dieses technische System ist für einfallendes Licht im sichtbaren Spektrum transparent, sperrt jedoch UV-Licht aus und reduziert durch seinen Aufbau den Wärmeverlust durch Konvektion stark. Einem Wärme­verlust durch Emission des langwelligen Lichtes kann durch geeignete Beschichtung entgegengewirkt werden. Die technische Anforderung zur Selbstreinigung kann mit einer Oberflächenvergütung des Silikonkautschuks erfüllt werden.

Faserverstärkte Werkstoffe

Die bionische Arbeit in der Faserverbundtechnik umfasst die Umsetzung von natürlichen, gewichtsoptimierten Strukturen wie Knochen oder Pflanzenhalmen (Abb. 7) in hochsteife bzw. hochfeste Bauteile. In der Natur sind die Fasern optimal in den Hauptbelastungsrichtungen orientiert. Hier werden nur so viele Fasern eingelagert, wie benötigt werden. Die Forschungen am ITV Denkendorf gehen dahin, kostengünstige textile Techniken zu entwickeln, die es ebenfalls ermöglichen, Verstärkungsfasern gezielt entlang den Kraftflussrichtungen einzubringen, beispielsweise zur Herstellung von biege-, knick- und torsionsbeanspruchten Faserverbundwerkstoffen. Trotz höheren Herstellkosten bietet diese Werkstoffgruppe gegenüber Metall, Holz oder Stahlbeton mannigfache Vorteile für die Bauindustrie und die Architektur. Besonders hervorzuheben sind die Korrosions- und Frostbeständigkeit, die Beständigkeit gegen biologischen Befall (Algen, Pilze) sowie der geringe energetische Aufwand für die Herstellung. Selbst in betonähnlichen Werkstoffen können Fasern mit grossem Vorteil auch für dünnwandige Bauteile eingesetzt werden: Ein faserverstärkter Verbund mit dem Namen Vubonite besteht aus einer keramischen, betonähnlichen Matrix, die sehr feinkörnig ist und spezielle Additive hat, die nicht alkalisch auf die Fasern (Glas oder Basalt) wirken. Vubonite widersteht im Brandfall einer Temperatur von bis zu 1000 °C, während die Stahlbewehrung von regulärem Beton unter diesen Bedingungen ihre Zugfestigkeit verlieren würde.

In laufenden Entwicklungen am ITV Denkendorf werden Erkenntnisse des Netzwerkpartners Plant Biomechanics Group der Universität Freiburg über den Aufbau von Pflanzenhalmen technisch genutzt und Faserverbundprofile mit optimierter gewichtsbezogener Biegesteifigkeit bzw. Biegefestigkeit und hoher dynamischer Belastbarkeit und Dämpfung hergestellt.4 Mit der Flechtpultrusionsanlage (siehe Kasten S. XX) sind dünnwandige, geflechtverstärkte Hohlprofile mit thermo-/duroplastischer Matrix bzw. erste Muster von «technischen» Pflanzenhalmen herstellbar (Abb. 8).


[Thomas Stegmaier, Dr.-Ing., Institut für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf, Deutschland
Heinrich Planck, Prof. Dr.-Ing., Institut für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf, Deutschland
Das ITV Denkendorf ist Mitbegründer des baden-württembergischen Kompetenznetzes «Biomimetik – Pflanzen und Tiere als Ideengeber für technische Produkte» und Mitglied im bundesweiten Netzwerk BIOKON e.V. sowie dem internationalen Pendant BIOKON international]

Anmerkungen:
[01] Stegmaier, T.; Arnim, V. v.; Linke, M.; Sarsour, J.; Scherrieble, A.; Schneider, P.; Planck, H.: Bionische Entwicklungen – Möglichkeiten und Herausforderungen. Tagungs-CD, Avantex, Frankfurt, 16–18. Juni 2009
[02] Sarsour, J; Stegmaier, T.; Linke, M.; Planck, H.: Bionische Entwicklung textiler Materialien, um Wasser aus Nebel zu gewinnen. Tagungs-CD, TechTextil Symposium, Frankfurt, 16.–18. Juni 2009
[03] Stegmaier, T.; Linke, M.; Planck, H.: Bionics in Textiles: flexible and translucent thermal insulations for solar thermal applications. Buchbeitrag in Biomimetics II: fabrication and applications. Philosophical Transactions of the Royal Society, Royal Society Publishing, ISSN 1364-503X, 2009, S. 1749–1758
[04] Speck, T.; Harder, D.; Milwich, M.; Speck, O.; Stegmaier, T.: Die Natur als Innovationsquelle. Buchbeitrag in «Technische Textilien», Deutscher Fachverlag, ISBN 3-87150-892-6, 2006

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

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