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TEC21 2009|39
Schicht für Schicht
TEC21 2009|39
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Neu geordnet, wiederbelebt

Der Bellevueplatz im Zentrum von Zürich liegt an einer städtebaulichen Schlüsselstelle zwischen See und Limmat. Seinen Namen hat er vom ehemaligen «Grandhotel Bellevue», 1856–1858 erbaut von Leonhard Zeugheer.
Im Laufe der Jahre war der Solitärbau durch Alterung und Umbauten stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Martin Spühler und seine Mitarbeiter haben ihn in siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wieder in Wert gesetzt.

25. September 2009 - Hansjörg Gadient
Ursprünglich als Hotel erstellt, wurde das Gebäude bereits 1921 zum Geschäftshaus mit Kino umgebaut. Alterung, An- und Einbauten, Teilabrisse und Transformationen hatten ihm über die Jahre jedoch so zugesetzt, dass sich die Bauherrschaft gezwungen sah, den Werterhalt mit mehr als einer Pinselrenovation langfristig zu sichern. Die Bauherrschaft vergab den Auftrag für eine Machbarkeitsstudie an Martin Spühler Architekten aus Zürich. Dabei standen von einem Neubau über ein Entkernen bis zu einer Revitalisierung des historischen Bestandes alle Möglichkeiten zur Debatte. In enger Zusammenarbeit mit der Städtischen Denkmalpflege entschied man sich für Letzteres – ein Neubau an so prominenter Lage wäre für die Stadt nur mit einer bedeutenden öffentlichen Nutzung zu rechtfertigen gewesen.

Belebungsstrategie

Zusammen mit einer - so Projektleiter Peter Trachsler - ebenso entscheidungsfreudigen wie begeisterungsfähigen Projektsteuerungsgruppe aus Auftraggeberin und Planern entwickelten die Architekten eine Strategie der Revitalisierung, die sich auf vier Haupteingriffe konzentrierte: die Wiederherstellung der Arkade auf der Limmatseite, den Einbau eines neuen Treppenhauses, den Ausbau des Dachgeschosses zu Wohnungen und, als eher kleinen, aber symbolträchtigen Eingriff, die Wiederherstellung der zweiläufigen Treppenanlage am Eingang Limmatquai 1 (Abb. 1). Die Interventionen sollten sich der Substanz unterordnen und mit ihr zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Die besondere Schwierigkeit bestand in der Heterogenität des Baus, die es verunmöglichte, der komplexen Aufgabe mit fixen Rezepten zu begegnen. Der Bestand sei völlig «unberechenbar» gewesen, Pläne lückenhaft, Sondierungen im vermieteten Zustand kaum möglich. Gut erhaltene und reizvolle Jugendstildetails standen neben einer teilweise desolaten Bausubstanz. Die Abrisse und Einbauten der 1960er- und 1970er-Jahre hatten viel zerstört, und die gesamte Haustechnik war veraltet. Den heutigen Brand- und Schallschutzstandards entsprach das alte Bellevue längst nicht mehr. Orts- und problembezogen wurden in Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege Lösungen gefunden, die von Konservierung über Restaurierung und Renovierung bis zu Ergänzung und Neubau reichten. Neben den Ausbauten im Inneren wurde auch die Fassade denkmalgerecht saniert.

Als «Operation am offenen Herzen» bezeichnet Sylvia Kirsten, die Vertreterin der Bauherrschaft, das 50-Millionen-Vorhaben – auf einer Verkehrsinsel, möchte man ergänzen. Der Bau blieb während des gesamten Eingriffes teilweise vermietet. Die auf allen Seiten von stark befahrenen Strassen begrenzte Baustelle bot keinerlei Flächen für Lager oder Installa tionen. Und es ging um mehr als einen neuen Innenausbau: Unter anderem mussten die bestehenden Pfahlfundationen mit 230 Stahlbetonpfählen ergänzt, die Bodenplatte abgesenkt und eine Seewasserzuleitung für Heizung und Kühlung von der Limmat her erstellt werden.

Plakativ und versöhnlich?

Ein Beispiel für den Umgang im Inneren ist die Treppe beim Eingang Limmatquai. Einer der brachialeren Umbauten hatte eine Hälfte des symmetrischen Treppenhauses entfernt. Wieder aufbauen? Oder mit dem Verlust spielerisch umgehen? Erste Konzepte schlugen eine Spiegelwand vor, die den alten Teil bildnerisch zum Ganzen ergänzen würde. Oder ein Wiederaufbau des zweiten Laufs mit einem Materialwechsel, um das Neue zu zeigen?

Zur Ausführung gelangte eine dem bestehenden Teil entsprechende Rekonstruktion in den gleichen Materialien, Marmor und Stuck. Auf den ersten Blick ist alles «beim Alten», auf den zweiten zeigen die fehlenden Gebrauchsspuren der neuen Hälfte ihre heutige Entstehungszeit. Ein zweites Beispiel: Die bestehenden Schmiedeeisengitter eines Treppenabsatzes hätten einer neuen Wand weichen müssen. Sie wurden nicht abgebrochen, sondern in die Wand integriert: Künftige Generationen werden sie vielleicht beim nächsten Umbau finden. Auch grössere Eingriffe in die Substanz waren nötig. Die Belle Epoque legte Treppen vor allem nach repräsentativen Gesichtspunkten an, gross und breit in den unteren Geschossen, schmal und irgendwo verstreut in den oberen. Heute bestimmen funktionale Liftanlagen und kurze Fluchtwege das Layout. Eine weitere wichtige Intervention betraf daher das Errichten eines neuen, durchgängigen Treppenhauses. Das Studium der historischen Pläne zeigte, dass die Fassade zum Bellevueplatz ursrprünglich eine starke Mittelbetonung aufwies. Historisch folgerichtig und erschliessungstechnisch günstig wurde hier der neue Zugang zum Gebäude angeordnet.

Auch die neue Haustechnik stellte die Planenden aufgrund der beschränkten Platzverhältnisse vor einige Herausforderungen; an vielen Stellen waren Eingriffe in das Tragwerk nötig, um sie zu integrieren. Mittels Seewasser wird der sanierte Bau nun gekühlt und beheizt. Nirgends treten diese Neuerungen aufdringlich in Erscheinung. So wie aussen konnte der Bau auch innen seine Gestalt und seine Würde wahren.

Für das bisher als Abstellraum genutzte Dachgeschoss dagegen waren neue Ideen gefragt; hier sollten Wohnungen entstehen. Keine leichte Aufgabe, waren doch die einzigen vorhandenen Fenster die kleinen Öffnungen im Kniestock und die spärlichen Dachfenster des ehemaligen Estrichs. Grosse Öffnungen zu schaffen, kam nicht in Frage. Die Lösung war massgeschneidert. Die Architekten kamen von der ersten Vorstellung, auf der riesigen Fläche sechs Wohnungen zu schaffen, ab und schlugen drei – mit 280 bis 370 m² aussergewöhnlich grosszügige – Einheiten vor. So konnten sie jeder Wohnung einen zweigeschossigen Turm und einen privaten Aussenraum zuordnen. Dank dem Entgegenkommen der Denkmalpflege entstanden in der Dachschräge auf der Westseite zwei Terrassen; man kann sie als «Belohnung» für die dem öffentlichen Raum zurückgegebene Loggia im Erdgeschoss verstehen. Die dritte Wohnung erhielt eine innen liegende intime Dachterrasse. Das Defizit der niedrigen, kleinen Fenster kompensieren die grossflächigen Öffnungen zu diesen Terrassen und die anstelle der alten Dachluken eingesetzten «Lichtkanonen». Die als Raumkontinuum ausgebildeten Grundrisse mit ihren weiten Sichtbezügen entschädigen für die teilweise recht niedrigen Decken. Die Materialisierung entspricht Lage und Fläche der Wohnungen – ohne zu protzen. Die Mieten der Wohnungen von monatlich 20 000 Franken haben in der Tagespresse zu Schlagzeilen geführt. Heute sind alle drei vergeben; das Konzept ist aufgegangen – auch im Ganzen. Der Bauherrschaft steht wieder eine hochwertige Immobilie zur Verfügung, und der Stadt ist ihr geschätzter Solitär erhalten geblieben. Neu gefasst und geschliffen leuchtet er in dem, was man gewöhnlich als «den alten Glanz» bezeichnet. Es ist aber ein neuer Glanz: der eines zeitgemässen, sorgfältigen und sensiblen Umgangs mit einem historischen Stück Stadt.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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