Zeitschrift

Steeldoc 03/09
Schule und Bildung
Steeldoc 03/09
zur Zeitschrift: Steeldoc
Herausgeber:in: Stahlbau Zentrum Schweiz

Manifest der Kühnheit

Schulanlage Leutschenbach, Zürich

Das Schulhaus Leutschenbach gehört zu den ambitioniertesten neuen Stahlbauten der Schweiz. Als eine der grössten Schulanlagen Zürichs ist das Gebäude sowohl typologisch, als auch aufgrund seiner besonderen Tragstruktur ein gelungenes Experiment.

4. Dezember 2009 - Cordula Rau
Im ehemaligen Industriequartier erhebt sich der Bau in mitten einer Grünanlage. Im Hintergrund die Kehricht anlage der Stadt Zürich und rundum noch weitgehend unbebaute Flächen, inszeniert sich das Schulhaus durch seine betont selbstbewusste Haltung. Von weitem fällt das Gebäude durch die überwiegend transparente Erscheinung und die prägnante Stahlkonstruktion auf, die sich aussen sichtbar ablesen lässt. Es setzt dadurch in der heterogenen Umgebung einen herausragenden Kontrapunkt. Gleichzeitig bildet es den perfekten Auftakt für das aufstrebende Entwicklungsgebiet. Kommt man näher, beeindruckt der Stahlbau durch aussergewöhnliche Proportion und Präsenz.

Das Schulhaus wirkt wie ein architektonisches Manifest. Um den kleinstmöglichen Fussabdruck zu hinterlassen, sind Unterrichtsräume, Turnhalle und Aula, die üblicherweise nebeneinander angeordnet sind, übereinander gestapelt. Zuoberst thront auf dem 33 Meter hohen Haus repräsentativ die Turnhalle. Zu diesem nachhaltigen Kunstgriff, durch den die umliegende Grünfläche weitgehend unberührt bleiben konnte, führte der Wunsch nach einem grossen öffentlichen Schulpark mit ausgedehnten Spiel- und Pausenplätzen. Die vermeintliche Auf hebung der Grenzen durch das rundum verglaste Erdgeschoss unterstützt zusätzlich den fliessenden Übergang zwischen Innen- und Aussenraum.

Der minimierte Fussabdruck wurde im Gebäude intelligent für die Organisation genutzt. Der Entwurf sieht keine endlos langen Flure und schmalen Verkehrswege im klassischen Sinne vor, dagegen breit angelegte, die Kommunikation fördernde Treppenanlagen. Diese münden jeweils in grosszügige Gemeinschaftszonen vor den Klassenräumen. Akustisch sind diese Zonen so konzipiert, dass man dort genauso unterrichten wie auch Gruppenarbeiten durchführen kann.

Inszeniertes Gebäudekonzept

Der Kubus mit einer Grundfläche von rund 30 auf 50 Metern umfasst neben dem Kindergarten und 22 Klassenzimmern auch Spezialräume wie Labors, Werk- oder Computerräume und die Dreifachturnhalle. Vom niedrigen Eingangsgeschoss mit Cafeteria und Schülerklub entwickelt sich ein virtuos inszenierter Spannungsbogen über die Klassenzimmerebenen bis hinauf in die vierte Etage mit Aula, Bibliothek und Lehrerzimmer. Betritt man das oberste Geschoss über die bewusst schmal gehaltene, zweiläufige Treppe, überwältigt der sieben Meter hohe, stützenfreie Raum der Turnhalle mit seinem atemberaubenden Panoramaausblick umso mehr. Innovativ am Schulhaus ist nebst dem Tragwerk und der Materialwahl vor allem die räumliche Konzeption. Auf drei Etagen ordnen sich die Klassenzimmer rund um das zentrale Treppenhaus an. Anstelle von geschlossenen Trennwänden unterteilen transluzente Profilbauglasscheiben die Räume. Sie lassen das Tageslicht hindurch strömen bis tief ins Innere des Gebäudes. Das Tragwerk bilden hohe, umlaufende Fachwerkträger, die sich mit dem architektonisch-räumlichen Konzept zu einer Einheit verbinden.

Signifikante Struktur

Die komplexe Struktur des Tragwerks konnte nur als Stahlkonstruktion ausgeführt werden, da hierdurch Gewicht und aufgrund der Vorfertigung Zeit eingespart wurde. Das Tragwerk besteht aus einem System von aufeinander gestellten und abgehängten Fachwerken. Zwei drei Geschosse überspannende Fachwerkverbände sind im Erdgeschoss auf nur sechs dreibeinige, raumhohe Stützen aufgelagert. Sie tragen zwei Fachwerkverbände in Gegenrichtung. Auf ihnen ruht die Turnhalle. Der gesamte Unterrichtstrakt hängt an den auskragenden Fachwerken des vierten Obergeschosses und bildet dadurch im Erdgeschoss ein mehr als zehn Meter auskragendes Dach. So wirken Erdgeschoss und das vierte Obergeschoss von aussen stützenfrei.

Das Fachwerk aus Stahl ändert sich von einem Funktionsbereich des Schulgebäudes zum nächsten. Es verbindet die verschiedenen Bereiche statisch und architektonisch zu einer lebendigen, vielschichtig gestalteten Einheit. Für das Gemeinschaftsgeschoss entsteht somit grösste Durchlässigkeit. Die Schultreppen enden in einer grosszügigen Halle, zu der sich Bibliothek und Aula seitlich öffnen. Das Lehrerzimmer erhält eine unmittelbare Verbindung zur Bibliothek. Im Schulhaus gibt es keine massiven Wände, nur die Geschossdecken sind zur Aussteifung in Beton ausgeführt. Es bedeutete eine zusätzliche statische und haustechnische Herausforderung, dass sie sämtliche Installationen aufnehmen.

Sichtbezug ohne Einschränkung

Im Innenraum schaffen Industrieglaswände semitransparente, ineinander fliessende Übergänge und separieren die Zimmer akustisch. Eine nahezu aufgelöste Glashaut trennt die Räume vom Aussenraum ab. Sowohl die Innenwände aus Profilit-Glas, als auch die Isoliergläser der Aussenfassade werden rahmenlos in Decken- bzw. Bodenschlitzen versenkt.

Transparente Glasschwerter zur Aufnahme der Windlasten fördern den uneingeschränkten Ausblick in die Natur. In der Turnhalle sind die Schwerter auf Grund erhöhter Verletzungsgefahr beim Turnen nur in den oberen zwei Dritteln der Fassade angeordnet. Ein umlaufender Stahlträger fängt die ankommenden Windlasten aus den Schwertern auf.

Hoch belasteter Stahlbau

Die Tragstruktur des Gebäudes ist eine Stapelung von Fachwerkverbänden. Ein erster Fachwerkverband umfasst die ersten drei Geschosse mit den Klassenzimmern, ein zweiter die Turnhalle. Die beiden querliegenden Fachwerkscheiben im vierten Geschoss übernehmen eine zentrale Funktion. Die gesamte Turn hallenkonstruktion liegt auf diesen zwei Fachwerken auf, an ihnen sind gleichzeitig die umlaufen den Fachwerke der unteren Geschosse aufgehängt. Die hoch belasteten Fachwerkstäbe der gesamten Tragstruktur sind Hohlprofile aus geschweisstem Blechen unterschiedlicher Stärke, abhängig von Position und Statik. Im obersten Geschoss wurden für die Querbinder warmgewalzte, nahtlose Hohlprofile verwendet.

Im Werk in transportabler Grösse vorgefertigt, mussten die riesigen Fachwerkträger auf der Baustelle nur noch verbunden werden. Bei den Fachwerkkörpern der unteren drei Geschosse sowie der Turnhalle wurde die Fassade innerhalb des Tragwerks gelegt. Insbesondere beim unteren Fachwerkkörper mussten Wärmebrücken zwischen den innen- und aussenliegenden Fachwerkteilen vermieden werden. Ein Vorteil des aussenliegenden Fachwerks waren hingegen verminderte Brandschutzanforderungen. Eine Sprinkleranlage und ein dämmschichtbildendes Anstrichsystem für das Fachwerk stellen den Brandschutz des Gebäudes sicher. Die lichtgraue Farbe für die Stahlbauteile ist bewusst an den Ton der Betondecken angeglichen. Die Konstruktion wirkt dadurch umso einheitlicher.

Lastabtragung über Bohrpfähle

Der ganze Fachwerkkörper leitet die Kräfte über die sechs dreibeinigen Stahlstützen im Erdgeschoss in das Fundament ein. Der schlechte Baugrund erforderte eine Pfahlfundation, um die Lasten der Stahlkonstruktion abzufangen. Die Fundation des im Erdgeschoss auf den sechs Punkten gestützten Bauwerkes erfolgt über rund 30 Meter lange Bohrpfähle.

Aus gestalterischen Überlegungen und auch wegen ihres geringeren Gewichts sind die Geschossdecken in Leichtbeton mit variabler Höhe konzipiert. Sowohl für die Pfahlbankette, als auch für die Bodenplatte, die Untergeschosswände und Deckenplatten wurde Recyclingbeton verwendet.

Auszeichnung Prix Acier 2009

Die Stärke dieses Beitrages liegt im innovativen Ansatz der Stapelung von unterschiedlichen Nutzungseinheiten und damit verbunden im anspruchsvollen Umgang mit der Gebäudestatik. Die gesamte Tragstruktur bleibt überall sicht- und erlebbar, der Verlauf der Kräfte wird deutlich offen gelegt. Form und Tragwerk bilden eine Einheit, wobei der Aufwand in Konstruktion und Ausführung eher im Sinne eines Experimentes zu sehen ist. Die Jury des Schweizer Stahlbaupreises hat diesen Bau aufgrund seines ungewohnten, expressiven und kohärenten Konzeptes und der herausragenden Qualität der Ausführung mit dem Prix Acier 2009 ausgezeichnet.

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Für den Beitrag verantwortlich: Steeldoc

Ansprechpartner:in für diese Seite: Evelyn C. Frischinfo[at]szs.ch

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