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hochparterre 12|2009
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 12|2009
zur Zeitschrift: hochparterre

Hase in Bronze

Die gebaute Aussicht

Mit einem luftigen Einfamilienhaus über Vevey hebt das junge Büro Made in aus Genf ab und setzt zum Karrieresprung an.

8. Dezember 2009 - Werner Huber
Wie ein Brückenträger schiesst der Fachwerkbalken ins Land hinaus — gerade so, als wolle er kein Quäntchen der prächtigen Aussicht über das Lavaux und den Genfersee verpassen und jeden Sonnenstrahl bis aufs Letzte auskosten. Wir stehen in Chardonne, einem Winzerdorf auf halber Höhe zwischen Vevey und dem Mont Pèlerin. Die Aussicht stand zuoberst auf der Prioritätenliste der Bauherrschaft. Zudem wünschte sie sich viel Garten auf dem schmalen Hanggrundstück.

Die Konstruktion

Der Skelettkasten des Hauses besteht aus zwei 21 Meter langen Vierendeelträgern, die zusammen mit den Querprofilen einen Fachwerkkasten bilden. Die Bodenplatte ist eine Verbundkonstruktion aus Stahlblech und Beton, Trapezblech spannt die Dachfläche auf. Mit Ausnahme der geschlossenen Rückwand sind alle vertikalen Öffnungen grossflächig verglast. Die horizontalen Flächen hingegen sind aussen reflektierend ausgebildet: Eine dünne Wasserschicht macht das Dach zur Spiegelfläche, eine aluminiumbedampfte Kunststofffolie haftet an der Untersicht. Die Stahlkonstruktion liegt auf der rückseitigen Betonmauer auf und führt die Querkräfte in den Boden ab. Vorne stützt sich das Haus mit zwei dünnen Ärmchen zaghaft auf dem Terrain ab — scheinbar jederzeit bereit wegzuspringen, um sich ein anderes Plätzchen am sonnigen Rebhang zu suchen.

Ein betoniertes Kellergeschoss unter dem vorderen Teil des Hauses verbindet die gespreizten Arme miteinander. Die vier Felder der in den Ecken biegesteif verbundenen Fachwerkträger definieren vier Kammern im Stahlskelett und damit die vier Haupträume des Hauses.

Am Gebäudekopf liegt das dreiseitig verglaste Wohnzimmer. Daran schliessen Küche und Esszimmer an, gefolgt vom Eingangsbereich und einem Schlafzimmer mit Bad. Im letzten Viertel gibt es ein weiteres Schlafzimmer, ein Bad und ein Arbeitszimmer. Ein Streifen mit einem Sanitär- und Technikraum bildet den Rücken.
In Natura ist das Haus kleiner, als die Fotos erwarten lassen, doch der Platz im Innern ist intelligent ausgenützt. Raumhaltige Trennwände nehmen Regale, Schränke oder ein Cheminée auf. Alles erinnert ein wenig an ein Flugzeug oder an ein Luftschiff — ein Eindruck, den die Zugangstreppe verstärkt: Wenn niemand zu Hause ist, lässt sie sich wie eine Gangway hochklappen; das Haus bleibt dann unerreichbar.

Es waren jedoch nicht Science-Fiction-Träume oder das Berufsleben des Bauherrn als Swissair-Pilot, die den Architekten beim Entwurf Pate standen. Die Architekten François Charbonnet und Patrick Heiz spitzten einfach die Wünsche der Bauherrschaft zu und setzten sie in ein radikales Projekt um. Die Funktionen, die Form und die Konstruktion des Hauses wurden eins und so stark «eingekocht» wie möglich. Dann fügten die Architekten pragmatisch die Elemente an, die es noch brauchte, etwa die Heizung: Weil sich eine dickere Bodenplatte zu stark abgezeichnet hätte, verzichteten sie auf eine unsichtbare Bodenheizung. Stattdessen setzten sie runde, lamellenförmige Heizkörper, wie wir sie aus älteren Industriegebäuden kennen, vor die Glasfronten. Bei den Lavabos und Duschen griffen die Architekten auf Modelle der Zwanzigerjahre zurück und setzen damit einen Kontrapunkt zum kantigen Haus.

Das Büro

François Charbonnet und Patrick Heiz diplomierten beide 1999 bei Hans Kollhoff an der ETH Zürich. Sind die altertümlichen Lavabos auf den Stahlgestellen kollhoffsche Reminiszenzen? Die Architekten verneinen. Nach dem Diplom schlugen sie ohnehin nicht den Weg des Historismus ein, sondern verdienten ihre Sporen bei Herzog & de Meuron ab. Charbonnet arbeitete dort als Entwerfer, unter anderem am gemeinsamen Projekt mit Rem Koolhaas für den Astor Place in New York. Heiz widmete sich hauptsächlich der Konstruktion, so als Projektleiter bei der Erweiterung des Château Petrus in Bordeaux. Vor sechs Jahren gründeten sie das Büro «Made in» — und zwar in Genf, obwohl die beiden Romands nach dem Studium in Zürich und der Praxis in Basel in der Deutschschweiz besser vernetzt sind. «Unser Deutschschweizer Hintergrund schafft eine gesunde Distanz zur Westschweizer Szene», meint François Charbonnet, schiebt aber nach, dass es eine starke Westschweizer Szene eigentlich gar nicht gebe: «In der Deutschschweiz passiert einfach mehr. Das gibt uns die Gelegenheit, hier etwas zu sagen.»

Von sich reden machten die beiden bislang vor allem mit ihren Wettbewerbsprojekten, die das Spektrum ihres Schaffens zeigen. 2005 machte das junge Büro erstmals ein breites Publikum auf sich aufmerksam, als es in dem vom BSA organisierten Wettbewerb «Genève 2020» den zweiten Preis errang siehe hpw 5 / 05. Der Entwurf für das Château Cheval Blanc im französischen Saint-Émilion von 2006 wirkt wie ein Prototyp des Hauses in Chardonne im grösseren Massstab: Mit Vierendeelträgern entwerfen sie dort einen schwebenden eingeschossigen Stahl-Glas-Bau, der auch Erinnerungen an das Werk Ludwig Mies van der Rohes weckt. Ganz anders der Beitrag im Wettbewerb für eine Wohnüberbauung in Lausanne siehe hpw 4 / 09, wo sie die Zimmer aller Wohnungen kurzerhand entlang der maximal möglichen Mantellinie des Hauses aufreihten. Damit erzeugten sie einen Baublock mit einem Innenhof, dessen Form sich aus der Abwicklung der unterschiedlichen Zimmergrössen ergibt.

Die Bauherrschaft

Das in die Landschaft ragende Haus in den Rebbergen von Chardonne ist nicht das erste Objekt, das Made in realisieren konnte. Es ist aber das erste Gebäude, das die Überlegungen der beiden Architekten im Massstab eins zu eins zeigt. Gute Architektur braucht gute Bauherren — an solch einzigartigen Lagen erst recht. Dass sie bei diesem Entwurf weitgehend freie Hand hatten, ist einem einfachen Umstand zu verdanken: Patrick Heiz ist der Sohn der Bauherren. Sie wollten den beiden jungen Architekten die Möglichkeit bieten, ihre Ideen und ihr Können, das sie in Projekten und Wettbewerben schon zeigen konnten, auch an einem gebauten Objekt zu demonstrieren.

Zuvor wohnten Heidi und Samuel Heiz 35 Jahre lang in einem Bauernhaus. «Wenn schon ein Wechsel, dann richtig», fanden sie. Radikaler könnte der Wechsel kaum sein. Doch die Möbel aus dem alten Haus fanden auch im neuen Platz. Das mag das Puristenauge schmerzen, die Architektur hat keine Berührungsängste. Die Anforderungen, die die Bauherrschaft am Anfang zu Papier brachte, sind erfüllt: Der Garten ist gross, die Aussicht grandios inszeniert. Doch das Haus ist nicht nur ein Schönwetterhaus, wie die Bauherrin versichert: Ebenso faszinierend wie der sonnige Blick sei das Spiel von Wind, Wetter und Nebel.
Die einzigartige Mischung aus Lage und Architektur hat dem Gebäude und dem Schaffen von Made in Auftritte in zahlreichen Publikationen beschert. Der Paukenschlag wurde gehört — auch von der Jury des Wettbewerbs für die Erweiterung des Kunsthauses Basel: Made in ist eines von 24 Teams, die Ende September ihren Entwurf einreichten. Der Juryentscheid lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor, aber allein die Tatsache, dass es sich mit Koryphäen wie Peter Zumthor, Tadao Ando, Zaha Hadid und etlichen anderen messen darf, dürfte die Karriere von François Charbonnet und Patrick Heiz beflügeln.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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