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hochparterre 03|2010
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 03|2010
zur Zeitschrift: hochparterre

Solitär mit grosser Wirkung

Der Zylinder mit dem neuen Personalrestaurant für Nestlé zeigt, wie man eine Architekturikone erweitern kann.

2. März 2010 - Werner Huber
Wie ein Reissverschluss reihen sich die Tabletts auf den Abräumbändern des Personalrestaurants am Nestlé-Hauptsitz in Vevey hintereinander ein. Vier Bänder fliessen zunächst paarweise zusammen, um sich schliesslich zu einem einzigen zu vereinigen und in der Abwäscherei zu verschwinden. Sensoren sorgen dafür, dass die Tabletts nicht kollidieren. Das Herz jedes Modelleisenbahners schlägt hier wohl höher. Fällt ein Band aus, laufen die verbleibenden etwas schneller, damit am Ende die Geschwindigkeit stimmt, wo flinke Hände das Geschirr im Gleichschritt des grünen Bandes in die Abwaschmaschine räumen. 1400 Mittagessen gibt das Restaurant täglich aus, da ist Effizienz auch im letzten Glied der Kette das oberste Gebot. Effizient organisiert ist auch die übrige Infrastruktur des Restaurants: Von der Anlieferung führt ein Korridor der Fassade entlang direkt zu den Lagern, den Küchen, den Liften und Treppen.

Architektur ist auch Logistik

Die Angestellten, die aus den Büros des Hauptsitzes und aus den übrigen Nestlé-Gebäuden in Vevey zur Mittagszeit in den «WellNes Centre» genannten Neubau strömen, kriegen davon nichts mit. Wer Gäste hat, nimmt im bedienten Restaurant «Le Léman » Platz, wo man gediegen tafeln kann. Die meisten jedoch schreiten die elegante Wendeltreppe empor ins Selbstbedienungsrestaurant «La Coupole». Die Treppe ist ein architektonisches Ereignis, zweifellos. Aber auch ein logistisches Element, denn sie bringt die hungrigen Nestlé-Leute mitten ins Herz des Restaurants: zum Selbstbedienungsbuffet — das gar nicht wie ein Selbstbedienungsbuffet aussieht. In einem hohen, mit einer umgestülpten Kuppel gedeckten und von einem Oblichtring belichteten Raum sind Menu- und Getränkeausgaben und Salatbuffets so grosszügig dimensioniert, dass der Ort als wirklicher «Free Flow» funktioniert.

Wer schliesslich mit beladenem Tablett die Kasse passiert, hat die Qual der Platzwahl: direkt am Fenster? Und wenn ja: mit Blick zum Park oder zum See? Oder lieber etwas erhöht mit guter Übersicht? Oder doch besser auf die Schnelle, an einem der hohen Tische? Schlechte Plätze gibt es keine; auf 270 Grad bietet die Glasfront Panoramasicht. Der Beton der kraftvollen Konstruktion, der Holzboden, die dunklen Holzeinbauten, die weisse Decke und weisse Möbel erzeugen eine lichte, angenehme Atmosphäre. Selbst an einem Januartag kommt Ferienstimmung auf, wenn die Sonne weit in den Raum hineinscheint. Die Logistiker waren besorgt, dass den Gästen der Raum so gut gefällt, dass sie zu lange sitzen bleiben. Das wäre für den Betrieb aber fatal: Es käme zum Stau, werden die Plätze pro Mittag doch bis zu dreimal belegt. Darum gibt es den Kaffee nicht hier, sondern im «Le Café» im Erdgeschoss. Dorthin gelangt man nicht über die Wendeltreppe (sie ist den hungrigen Gästen vorbehalten), sondern zwei gerade Treppenläufe führen nach unten. Diese sind — der Logistiker lässt grüssen — von je zwei Abräumbändern flankiert. So finden nicht nur die Angestellten den Weg zum Café, sondern ihre Tabletts auch den Weg in die Abwäscherei.

Der übermächtige Nachbar

Als die Architekten Richter et Dahl Rocha sich an die Arbeit machten, war zunächst der Umbau des bestehenden Restaurants geplant. Dieses lag im Erdgeschoss des «Bâtiment B», das Burckhardt Partner Architekten in den Siebzigerjahren dem Nestlé-Hauptsitz von Jean Tschumi zur Seite gestellt hatten. Doch die hohen Kosten für ein Provisorium während der Umbauzeit unterstützten den Entscheid, einen Neubau zu erstellen und das alte Restaurant in Konferenzräume umzubauen. Als Bauplatz stand das Areal zur Verfügung, auf dem einst Gustave Eiffels Villa gestanden hatte und dessen Hafen noch erhalten ist. Das leicht abfallende Terrain erlaubte es, mit wenig Aufwand die Parkplätze, die bisher fast die ganze Fläche belegten, auf zwei Geschossen zu versorgen. Damit war Platz geschaffen, um den Park am See zu erweitern und darin das Restaurant zu platzieren. Das Raumprogramm ergänzte man um ein Fitnesscenter für Angestellte und ihre Angehörigen, um einige Sitzungszimmer und eine kleine Praxis des Betriebsarztes. Die Lage am See ist prächtig, der Nachbar jedoch übermächtig: Jean Tschumis Nestlé-Hauptsitz von 1960 ist eine Ikone der Schweizer Architektur. Seine drei Gebäudearme greifen in den Raum, an deren Schnittpunkt verbindet die Doppelhelix der Wendeltreppe — benannt nach der berühmten «Escalier Chambord» im gleichnamigen Schloss in Frankreich — die Geschosse. Wie kann man Tschumis Meisterwerk erweitern? Vor 35 Jahren standen schon Burckhardt Partner Architekten vor dieser Frage. Sie setzten an das Ende des langen Y-Armes zwei weitere Gebäudeflügel. Damit wollten sie den offenen, parkartigen Hof schliessen. Das war gut gemeint, aber falsch gedacht, denn die drei Gebäudearme müssen ungehindert in die Landschaft ausgreifen können. Wie also das Ypsilon erweitern? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Doch man kann ihm einen Solitärbau zur Seite stellen. Das hatte Tschumi selbst mit einem Hochhaus einst skizziert. So machten es auch Richter et Dahl Rocha Architectes mit ihrem Neubau: Sein Grundriss ist ein Kreis mit 50 Metern Durchmesser — solitärer geht es nicht.

Doch ganz so richtungslos, wie der Baukörper auf den ersten Blick erscheint, ist er nicht. Schliesslich hat das Grundstück unterschiedliche Qualitäten und darum kragen das Dach und die umlaufende Terrasse nicht rundherum gleich weit aus: Gegen Norden, wo die Küchen und Vorbereitungsräume liegen und die Sonne nicht scheint, ist die Auskragung klein. Gegen Süden jedoch, wo die Fensterfront im Sommer vor der warmen Sonne geschützt werden will, sind Dachvorsprung und Terrasse breiter. Geschickt haben die Architekten diese Differenz in den Stützen aufgenommen: Hinten stehen sie senkrecht, vorne sind sie nach aussen gekippt.

Das Gleichgewicht gefunden

Richter et Dahl Rocha Architectes hatten zwischen 1996 und 2000 bereits Jean Tschumis Architekturikone gründlich saniert. Dabei setzten sie sich ausführlich mit den Eigenheiten seiner Architektur auseinander. Der Geist Tschumis sollte bewahrt, wiederhergestellt oder weitergestrickt werden. Das Ergebnis ist gelungen, Tschumis Geist (wieder) spürbar — und die «Escalier Chambord» samt Linoleumbelag ist gar integral erhalten. Beim Neubau des Restaurants haben die Architekten drei Elemente bei Tschumi entlehnt: die markanten Betonstützen, die den äusseren Dachring und die inverse Kuppel tragen, das auskragende Blechdach und — als Zitat, nicht als Kopie — die Wendeltreppe, diesmal jedoch nicht als Doppelhelix. Doch Projektleiter Kenneth Ross betont: «Unser Ziel war nicht, ein Zeichen zu setzen, sondern wir wollten fortschreiben, integrieren und ergänzen. Das «WellNes Centre» ist nicht der kleine Bruder von Tschumis Gebäude, sondern ein Cousin.»

Eine luftige gläserne Passage stellt die funktionale Verbindung zu Jean Tschumis Gebäude her. Ein Wandbild, das Hans Erni 1960 für die damalige Kantine geschaffen hatte, hängt jetzt im Foyer des Neubaus und erinnert an das längst verschwundene Restaurant, das einst im Attikageschoss eingerichtet war. Der zeitgenössische Kunstbeitrag stammt von Daniel Schläpfer. In den Raum des Restaurants «La Coupole» hat er grosse Kugelkalotten gehängt, die das Nest im Nestlé-Logo symbolisieren und als indirekt beleuchtete Lampenschirme wirken. Bei der Sanierung vor zehn Jahren war der grösste Eingriff der Verbindungsbau zwischen Tschumis «Bâtiment A» und Burckhardts «Bâtiment B». Wo einst ein Schacht mit Treppen und Rampen die beiden Gebäude mit ihren unterschiedlichen Geschosshöhen aneinanderkoppelte, setzten Richter et Dahl Rocha eine lichtdurchflutete Halle mit aufgefächerten Rampen und schönem Blick auf das Hauptgebäude. Die Rampen sind auch nötig, weil bei Nestlé noch immer zweimal täglich Damen mit Chariots durch die Gänge fahren, um Kaffee und Tee zu servieren. Mit dieser neuen attraktiven Verbindung setzten die Architekten einen Gegenpol zur Wendeltreppe.

Allerdings rutschte damit das Schwergewicht des Ensembles definitiv weg von der Doppelhelix-Treppe — umso mehr, als im Erdgeschoss des «Bâtiment B» noch das Personalrestaurant untergebracht war. Das «WellNes Centre» hat die Pole erneut verschoben. Nun hat das ganze Ensemble sein Gleichgewicht gefunden. Das zeigt sich allein daran, dass die «Escalier Chambord», Jean Tschumis Prunkstück, wieder fleissig begangen wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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