Zeitschrift

TEC21 2010|13
Ticino „città diffusa“
TEC21 2010|13
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Architektur auf der Suche nach der Stadt

Wie hat sich das Tessiner Architekturschaffen entwickelt, seit es Mitte der 1970er-Jahre weltberühmt wurde? Alberto Caruso, Chefredaktor der Tessiner Architekturzeitschrift «archi», verfolgt das Geschehen seit Jahren aus der Nähe. Aus Anlass der Übernahme von «archi» durch den Verlag von «TEC21» erzählt er die Geschichte einer Architektur, die sich nach Stadt sehnt.

26. März 2010 - Alberto Caruso
Die Ausstellung «Tendenzen – neuere Architektur im Tessin» von 1975 in Zürich erscheint im historischen Rückblick wie die Momentaufnahme eines besonderen Augenblicks in der Generationenfolge der Architekturschaffenden. Mit den nachfolgenden Generationen hat sich die Tessiner Architekturszene nach 1975 langsam verändert, mit einer offensichtlichen Aktualisierung der Architektursprache, aber auch mit dem Reiferwerden einiger theoretischer Bezüge.

Der Erfolg der späten Moderne

Um die einzigartigen Verhältnisse im Tessin zu erklären, ist es vielleicht nötig, sich den wichtigsten Grund für die internationale Resonanz in Erinnerung zu rufen, die seine Architektur in den 1970er-Jahren hatte. Es war die in der Nachkriegszeit praktizierte radikale Interpretation der Moderne in dieser Region, die von Erneuerungen der Moderne bis dahin isoliert geblieben war. Die späte Moderne wurde hier erst entdeckt, als Länder wie Italien oder Deutschland eine Phase der Rückbesinnung auf die Bautradition durchlebten. Und sie wurde mythologisiert als Gelegenheit zur kulturellen Befreiung aus der (auch ökonomischen) Rückständigkeit der Zwischenkriegszeit.

So wie die moderne Bewegung kein einstimmiger Chor war, sondern ein komplexes und widersprüchliches Zusammenspiel von Figuren und Strömungen, die in verschiedenen Umgebungen wirkten, so übernahm auch die moderne Tessiner Architektur diese Polyphonie der Bezüge – von Wright zu Terragni, von Le Corbusier zu Mies, von Kahn zu den Kaliforniern. Es war eine Moderne ohne avantgardistische Phase, die quasi reif geboren wurde. Sie war gespeist von einer starken Hinwendung zur gesellschaftlichen Dimension des Bauens und traf auf eine bereits weit entwickelte und verbreitete technische Kultur. Sie hatte unmittelbar und über die Grenzen des Tessins hinaus Erfolg. In vielen Regionen Europas nahmen sie alle diejenigen Kritiker und Architekturschaffenden dankbar auf, die sich gegen eine Rückwendung zur Vergangenheit aussprachen und überzeugt waren, dass das Erneuerungspotenzial der Moderne noch keineswegs ausgeschöpft sei.

Die «Tessiner Architektur» existiert, ungeachtet der Vielfalt von Positionen und Architektursprachen ihrer Protagonisten. Sie war 1975 als solche erkennbar und ist es heute sogar noch deutlicher, und zwar vor allem durch ihre ungewöhnlich starke Bezugnahme auf die Geografie und die Geschichte des Orts, der mit einem Projekt verändert werden soll.

Bezugnahme auf den Ort

Zwei Bauwerke stehen exemplarisch für diese starke Bezugnahme auf den Ort. Hinter beiden Projekten steht sie als Motiv und verbindet – insbesondere über die expressiven Mittel – zwei Architekten, die sonst weit voneinander entfernt sind: «La Ferriera» von Livio Vacchini in Locarno von 2003 und die «Piazzale alla Valle» von Mario Botta in Mendrisio von 1998 (Abb. 2 und 3). Botta interveniert auf einer leeren Restfläche an der Rückseite des altenS tadtkerns, bebaut die Ränder des Grundstücks und schafft so ein eigenständiges Stück Stadt, das sich um einen hofartigen Platz von starker expressiver Intensität herumgruppiert. Die Hinterseite der Stadt wird damit zur Vorderseite eines neuen städtischen Orts; die Stadt wird durch Rekonstruktion erneuert.

Vacchini dagegen rekonstruiert einen rechtwinkligen Block des «Piano Rusca», des am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfenen modernen Teils von Locarno mit seinem Muster von Strassenblöcken, die im Lauf der Zeit – in ungenügender Dichte – bebaut wurden. Der bis an die Baulinien überbaute Perimeter ist das Fragment einer grossen europäischen Stadt, Repräsentant eines virtuellen Locarno, und realisiert so die visionäre ursprüngliche Planung. Zwei verschiedene Städte – Botta denkt an die Räume der Mittelmeerstadt, Vacchini an die mitteleuropäische Stadt von Camillo Sitte –, aber ein gemeinsames Bewusstsein dafür, dass unsere heutige Gesellschaft in Räumen lebt, welche dichte soziale Beziehungen begünstigen.

Bauen in der „Città diffusa“

Diese Werke setzen – beide in einem strukturierten städtischen Kontext – das urbane Element in der Tessiner Architektur um, das sich schon 1975 angekündigt hat. Doch das Tessin ist nicht mehr, was es damals war. Heute sind die kleinen Orte in den Talsolen zu chaotisch überbauten Gebieten zusammengewachsen (vgl. Cover S.15 und Abb. im folgenden Artikel). Wird diese Entwicklung nicht koordiniert und korrigiert, dann wird die Tessiner Landschaft in den Talsenken bald aussehen wie die Ausläufer der Agglomeration Mailand um Como und Varese herum. Beim Vorsatz, korrigierend einzugreifen, prallen jedoch zwei politisch- kulturelle Visionen aufeinander. Die einen befürworten die Ausbildung einer grenzüberschreitenden «Regione Insubrica» im Dreieck Como-Varese-Lugano als starke Wirtschaftsregion.

Die andern verfechten das Konzept einer «Città Ticino» mit einer auf Exzellenz setzenden Wirtschaft, die die einmalige Lage zwischen Zürich und Mailand nutzt, mit Bellinzona als führender Stadt in einer ausgedehnten alpinen Region. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) wird ab 2017 die Fahrzeiten enorm verkürzen, sodass der Abstand von Arbeits- und Wohnort praktisch keine Rolle mehr spielen wird. Das bedeutet, dass die Landschaft in der Region, wenn sie nicht mit einer klaren und gemeinsamen Vision entwickelt wird, zum Objekt einer allein vom Markt diktierten Verwandlung wird. Hier liegt der grösste Unterschied zwischen der architektonischen Kultur von 1975 und der von heute: Ihr Kontext – das Gebiet, in dem das Metier ausgeübt wird – hat sich verändert.

Die Architekturschaffenden gehören allerdings nicht zu den Protagonisten in dieser Debatte. Viele von ihnen arbeiten in der sogenannten «città diffusa». Hier projektieren sie Einfamilienhäuser und leben im Widerspruch zwischen den ökonomischen Bedingungen, die sie dazu zwingen, sich mit dem in Kleinparzellen zersplitterten Grundbesitz zu beschäftigen, und dem Bewusstsein, dass eigentlich Projekte in grösserem Massstab nötig wären, um die ungeordnete Bebauungsstruktur ohne öffentliche Räume verändern zu können. Der Sinn für die «Situation», das sorgfältige Bezugnehmen der Projekte auf ihre Umgebung, macht seit je den Charakter der Tessiner Architektur aus. Doch für diejenigen, die die gesellschaftliche Dimension ihres Berufs ernst nehmen wollen, reicht dies heute nicht mehr. Hier liegt die grosse Herausforderung der nahen Zukunft: den gänzlich neuen (1975 nicht vorhersehbaren) räumlichen Bedingungen mit adäquaten technisch-kulturellen Instrumenten entgegenzutreten.

Beschäftigung mit den Siedlungsräumen nötig

Aurelio Galfetti hat diese Herausforderung zum Grundmotiv seiner Lehre an der Akademie für Architektur in Mendrisio gemacht. Er arbeitet an der Ausbildung des «architetto del territorio». Wer sich der Realität verweigere und der «città diffusa» mit Modellen begegnen wolle, die von der traditionellen vorindustriellen Stadt abgeleitet sind, werde als Verlierer dastehen, meint er. Man müsse vielmehr die Gründe studieren, wieso eine derart antisoziale und volkswirtschaftlich teure Wohnform wie das Einfamilienhaus so beliebt sei. Dann müsse man in die Mechanismen ihrer Entstehung eingreifen und die Orte identifizieren, wo verdichtetes Bauen und die Schaffung öffentlicher Räume möglich und sinnvoll sind (vgl. dazu folgenden Artikel, Anm. d. Red.). Es ist ein Aufruf dazu, eine Phase breiter Forschung einzuläuten über Instrumente zur Vermessung und Analyse auf der Ebene von Typologie und Morphologie der Projekte und über Verkehrsinfrastrukturen, die heute eine grundlegende Wirkung für die Entstehung neuer Siedlungen entfalten. Dieser neue Typ von Architekturschaffendem beschäftigt sich nicht mehr nur mit Grundriss, Ansicht und Schnitt, sondern ist auch Experte für den Raum im grösseren Massstab und wird zum Regisseur eines interdisziplinären Teams, das komplexe Vorhaben zur Verbesserung bestehender Siedlungsräume und generell im urbanisierten Gebiet umsetzen kann. Am Ende eines arbeitsintensiven Wegs bleibt als Ziel am Horizont die Stadt mit ihrer Dichte an räumlich-funktionalen Bezügen. Doch ist es unmöglich, einzelne Ausschnitte daraus allein mit faszinierenden Entwürfen wie den 1975 in Zürich präsentierten grossmassstäblichen Wettbewerbsprojekten zu realisieren. Die neuen Bedingungen erfordern einen beruflichen Qualitätssprung. Viele Architekturschaffende der jüngsten Generationen reagieren darauf, indem sie den Massstab der Bezüge eines Projekts zu seiner Umgebung ausweiten. Sie beziehen die konstitutiven Elemente der Projekte aus der grossen, von Schneebergen begrenzten Landschaft, aus der Topografie, der Geografie und der Siedlungsgeschichte in ihrer Gesamtheit. Den Massstab auszuweiten, ist bei einer ungeordneten Siedlungsstruktur ein unumgängliches Verfahren, um der Architektur starke Anhaltspunkte zu liefern. Es muss die kritische Distanz ergänzen, die nötig ist, um Rücksicht auf die unmittelbare Umgebung zu nehmen. Mit dem Festlegen räumlicher Koordinaten vermeidet man das Risiko, eine Stadt als Summe von tausend kleinen Projekten zu bauen, die zwar auf ihre unmittelbare Umgebung abgestimmt, aber ohne Gesamtkonzept sind.

Formale Neuerungen

Auch die Architektursprache wird aktualisiert, indem Anleihen bei der Architektur in der Deutschschweiz, auf der iberischen Halbinsel oder bei verschiedenen internationalen Strömungen gemacht werden. Oft deformiert sich die Gebäudehülle, sie entrinnt der einst obligaten rechtwinkligen Ausrichtung und sucht formale Motive in der jeweiligen Aufgabe. Auch die Fensteröffnungen werden mit neuer kompositorischer Freiheit dimensioniert und angeordnet. Diese Neuerungen setzen ein Konzept voraus, das die Gebäudehülle eher als Teil des öffentlichen Raums versteht denn als charakteristischen Ausdruck des Gebäudes. Das offenbart erneut den Wunsch nach einer dauernd präsenten Urbanität, der aber oft unbefriedigt bleibt.

Die Bezugnahme auf die Stadt, auf grössere Massstäbe und komplexere Zusammenhänge treibt die jüngsten Werke der Tessiner Architektur generell an. Sie kollidiert aber offensichtlich mit den begrenzten Dimensionen der Ortschaften und mit politisch-kulturellen Bedingungen, die keine angemessenen professionellen Möglichkeiten bieten. Es ist jedoch ein positiver Konflikt, der in dieser Region voller Talente wichtige Vorbedingungen für eine Erneuerung der Disziplin schaffen kann.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: