Zeitschrift

TEC21 2010|13
Ticino „città diffusa“
TEC21 2010|13
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Eine città Ticino mit öffentlichem Verkehr

Im Tessin – oder besser: in den Talsenken um Bellinzona, Locarno, Lugano Mendrisio und Chiasso – wächst die Überbauung ungeordnet zu einer Agglomeration zusammen. Hier arbeiten und wohnen über 85 % der Bevölkerung.
Die meisten bewegen sich mit dem Auto. Beim öffentlichen Verkehr besteht grosser Nachholbedarf. «Città Ticino» heisst das Raumentwicklungskonzept des Kantons, mit dem Siedlungs- und Verkehrsentwicklung koordiniert werden sollen. Die Liste von Projekten im öffentlichen Verkehr ist lang. Die neuen Knotenpunkte bieten sich an für die Verdichtung der «Città diffusa».

26. März 2010 - Riccardo de Gottardi
Die Revision des kantonalen Richtplans von 2005 bis 2009 bot die Gelegenheit, die Raumentwicklung im Tessin zu überdenken und zu diskutieren. Città Ticino ist das Leitprinzip, das sich aus dieser Auseinandersetzung herauskristallisiert hat. Es ist die Vision einer integrierten und leistungsstarken territorialen Struktur. In diesem fragmentierten Gebiet geht es darum, ein vernetztes System von Siedlungsräumen mit hoher Lebensqualität zu etablieren, die miteinander durch ein attraktives und effizientes Verkehrsnetz verbunden sind.

Den Anschluss finden

Das Tessin sieht sich in zweierlei Hinsicht mit einer bedeutenden Herausforderung konfrontiert: Auf der nationalen und internationalen Ebene will es seine Rolle als strategischer Standort im Herzen der Alpen wieder stärken. Denn Randgebiete drohen in den von Globalisierung und Metropolenbildung veränderten Kräfteverhältnissen unterzugehen. Es ist deshalb von zentraler Bedeutung, dass das Tessin sowohl stärker in das Netz der Schweizer Agglomerationen eingebunden als auch in die Dynamik des Wirtschaftsraums der Lombardei integriert wird. In der Lombardei, die den Kanton im Süden umgibt, leben in einem Radius von 50 km von der Grenze 6 Mio. Menschen. Um sich dieses Potenzial bewusst zu machen, genügt es, sich zu vergegenwärtigen, dass die Distanzen zwischen Tessin und der Mailänder Metropole viel kürzer sind als die zu Zürich oder Luzern.

Auf lokaler Ebene will das Konzept Città Ticino den Zusammenhalt zwischen den Agglomerationen stärken. Ziel ist eine Struktur von leistungsstarken, polyzentrischen und funktional integrierten Siedlungen. Eine bedeutende Rolle spielen drei Gebiete: das Bellinzonese mit den drei Tälern Leventina-Riviera, Blenio und Misox, das Locarnese mit dem Maggiatal und das Luganese mit dem Mendrisiotto. Die führenden Orte sind dabei Lugano als Zentrum von nationaler Bedeutung sowie Bellinzona, Locarno und Chiasso-Mendrisio als Zentren von kantonaler Bedeutung (Abb. 1).

Schweizer Meister beim Motorisierungsgrad

Das Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung vollzieht sich auf 15 % der Gesamtfläche des Kantons, in den Talsenken von Biasca bis Locarno respektive vom Ceneri bis Chiasso. In diesen Gebieten konzentrieren sich 90 % der Arbeitsplätze und 85 % der Wohnbevölkerung. Der Druck auf die Infrastrukturen und die Transportmittel ist gross. Mit 603 Personenwagen pro 1000 Einwohner (Stand 2009) weist das Tessin den höchsten Motorisierungsgrad in der Schweiz auf. In den letzten zwei Dekaden hat sich die Belastung an den zentralen Punkten des Autobahn- und des Kantonsstrassennetzes mehr als verdoppelt. Vor allem in den Agglomerationen haben sich die Verkehrsbedingungen verschlechtert. Die Staus während der Stosszeiten dehnen sich laufend aus. Die grossen Verkehrsvolumen verursachen unter den spezifischen geografischen und klimatischen Bedingungen am Alpensüdrand eine viel stärkere Luftverschmutzung als im Rest der Schweiz. Das Problem ist ungelöst, und die Entwicklungsperspektiven zeigen einen weiteren Anstieg der Mobilität um 15–30 % bis 2030 an.

Nachhalt iges Verkehrssystem entwickeln

Der Umgang mit der Mobilität ist damit eine zentrale Frage, auf die die Città Ticino konkrete Antworten finden muss: Attraktivität, Effizienz und Sicherheit sind in Einklang zu bringen mit Rücksicht auf die Umwelt und mit den Bedürfnissen aller Kantonsgebiete und Bevölkerungsgruppen. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrs konzentriert sich prioritär in und zwischen den Agglomerationen. In den Tälern geht es darum, eine Basiserschliessung zu gewährleisten. Der Verkehrsstrategie und konkreten Verkehrsprojekten kommt damit eine grundlegende Rolle zu. Generell geht es darum, die sinnvolle gegenseitige Ergänzung der verschiedenen Verkehrsarten Privatauto, Bahn, Bus, Velo und als Fussgänger je nach ihren Eigenschaften und nach dem Kontext zu fördern. Dazu muss vor allem das lange vernachlässigte und unattraktiv gewordene öffentliche Verkehrsnetz ausgebaut werden. Die Fortschritte der vergangenen Jahre sind bereits beachtlich: 1997 wurde der Tarifverbund Tessin und Misox für Abonnemente eingeführt, die städtischen Transportsysteme in den Agglomerationen Locarno (1996), Lugano (2002) und Mendrisio-Chiasso (2004) wurden weiterentwickelt.

Im regionalen S-Bahn-Netz Tessin-Lombardei (Treni Regionali Ticino Lombardia, TILO) verkehren die Züge seit 2005 im Halbstundentakt. 2007 und 2008 wurde das alte Rollmaterial durch neue «Flirt»-Kompositionen ersetzt. Schliesslich sei noch auf den Ausbau der Bahnlinie Ponte Tresa–Lugano 2007 verwiesen.

ÖV-Projekte und urbane Verdichtung

Zur Verbesserung der Situation im öffentlichen Verkehr wird ab 2011 der flächendeckende Tarifverbund für das ganze Fahrausweissortiment im ganzen Kanton eingeführt. Ende 2013 soll die neue Eisenbahnverbindung von Mendrisio über die Grenze nach Varese und zum Flughafen Mailand-Malpensa in Betrieb genommen werden (Ferrovia Mendrisio–Varese, FMV, Abb. 1 und 6). Die Arbeiten an der Neubaustrecke Mendrisio–Varese sind seit 2008 im Gang, sie werden vom Bund mitfinanziert. Der Regionalverkehr (TILO), der seit der Erweiterung nach Como 2008 bereits grenzüberschreitend verkehrt, wird dann auch die Agglomeration Varese bedienen und damit einen Markt von rund 600 000 Einwohnern erschliessen. Der Flughafen Malpensa wird von Lugano aus in einer Stunde erreichbar sein. Ausserdem kann in Varese-Gallarate ein Anschluss an die Simplon-Linie geschaffen werden, wodurch die französische Schweiz vom Tessin aus mit beträchtlicher Zeitersparnis zu erreichen sein wird. Mit dem fortschreitenden Ausbau der S-Bahn (TILO) werden laufend Bahnhöfe modernisiert oder neu gebaut, so in Chiasso, Mendrisio, Lugano, San Antonino, Minusio, Stabio und Castione. Diese Projekte bieten Gelegenheiten zu städtebaulichen Aufwertungsprojekten, verdichtetem Bauen und zur Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen (vgl. auch vorangehenden Artikel). In Castione am Eingang zum Misox, wo der nördliche Endbahnhof der S-Bahn entsteht, hat die Gemeinde eine Revision der Ortsplanung begonnen.

Die Neat als Motor und Gelegenheit

Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels 2017 werden sich die Reisezeiten von Bellinzona nach Zürich von heute 2:15 Stunden auf 1:30 Stunden verkürzen. 2019 wird voraussichtlich der Basistunnel durch den Monte Ceneri in Betrieb genommen, der die Reisezeit zwischen Bellinzona und Lugano von 25 auf 12 Minuten verkürzen und die Distanz zwischen Lugano und Zürich von 2:45 Stunden auf 1:40 Stunden reduzieren wird. Der Ceneri-Tunnel kann vom Regionalverkehr mitbenützt werden und spielt für dessen Entwicklung eine zentrale Rolle: Die Reisezeiten fast aller Regionalverbindungen werden sich drastisch verkürzen – die Città Ticino wird dann über eine Art Metro verfügen.

Das Tessin bereitet sich somit auf ein Jahrzehnt bedeutender Veränderungen auf dem Gebiet des Verkehrsmanagements und der Siedlungsentwicklung vor. Die Projekte bergen beträchtliche Potenziale, müssen aber trotzdem mit Offenheit und Klugheit angegangen werden. Aber auch die ungelösten oder unsicheren Fragen müssen angegangen werden, darunter die noch unattraktiven Verbindungen nach Mailand, die noch offenen Fragen der Zufahrten zu den beiden Basistunnels, die Verlagerung des Schwerverkehrs von der Strasse auf die Schiene und der Anschluss des Locarnese an das Autobahnnetz.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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