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db deutsche bauzeitung 04|2010
Nachhaltigkeit gestalten
db deutsche bauzeitung 04|2010

Mehrfamilienhaus in Zürich

Leichtgewicht aus Beton

Das Mehrfamilienhaus der Architekten Hess und Maier an der Neptunstrasse ist das erste Mehrfamilienhaus aus einem speziell entwickelten Dämmbeton in Zürich. Ein Pilotobjekt, das zur Vision der 2 000-Watt-Gesellschaft in der Stadt Zürich bestens passt und nebenbei noch eine bravouröse Konstruktion und Entstehungsgeschichte aufweist: Zum einen zeigt es, dass man als Architekt und Projektentwickler durchaus auch Nachbarn im Sinne deren Verständnisses von Nachhaltigkeit aussuchen kann, zum anderen, dass monolithisches und zugleich energieeffizientes Bauen keinen Widerspruch darstellt.

31. März 2010 - Reto Westermann
Nachhaltiges Bauen beschäftigt das Züricher Architektenpaar Annick Hess und Alexander Maier schon lange. Dabei setzen sie nicht einfach, wie heute meist üblich, auf eine möglichst dick isolierte Gebäudehülle, sondern suchen nach maßgeschneiderten Lösungen. Dazu gehört für sie eine möglichst optimale Ausrichtung der Grundrisse mit großen Öffnungen nach Süden und einer eher geschlossenen Fassade gegen Norden, die Verwendung einer kontrollierten Lüftung, um Energieverluste durch ein mögliches Fehlverhalten der Bewohner in der kalten Jahreszeit zu verhindern, oder der Einbau dreifachisolierter Fenster. Ein besonderes Augenmerk legen Hess und Maier aber auf den Fassadenaufbau. »Hochisolierende Dämmungen führen schon bei kleinen Kältebrücken gern zu Problemen«, sagt Alexander Maier. Das Architektenpaar suchte deshalb nach einer anderen Lösung.

Einem Material, das keine spezielle Isolationsschicht erfordert und dadurch auch keine Kältebrücken aufweist, den Feuchtigkeitshaushalt reguliert und dank viel Speichermasse träge auf klimatische Veränderungen reagiert – ähnlich alter Häuser aus Stein oder Lehm.

Schon bald zeichnete sich isolierender Beton als mögliche Option ab. Doch würde er über Jahrzehnte den gestellten Anforderungen genügen? Antwort erhielten sie im Rahmen der Renovierung und Erweiterung des Straßenbahndepots im Züricher Stadtteil Örlikon, 1935 erbaut vom damaligen Stadtbaumeister Hermann Herter. Dieser hatte für das Dach Leichtbeton verwendet. »Dass dieses Material nach 80 Jahren noch so gut in Schuss war, hat uns davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein«, sagt Annick Hess.

Mit dem nun verwendeten, isolierenden Leichtbeton war der moderne Ableger des damaligen Betons bald gefunden, denn er enthält als Zuschlagstoff Glasschaum. Dadurch weist er gute Dämmeigenschaften auf. Nun fehlte dem Paar nur noch ein Bauherr. Durch Zufall stießen sie auf das Inserat für ein Grundstück mit einem kleinen Mehrfamilienhaus in der Neptunstraße in Zürich – eine ruhige Quartierstraße im gefragten Englischviertel. Da das vorhandene Haus das Potenzial des Grundstücks nur zu einem Teil nutzte, kam eine Sanierung nicht in Frage – die Mieten für die drei Wohnungen im Haus wären aufgrund des geforderten Kaufpreises von mehr als 3 Mio. CHF schlicht nicht bezahlbar gewesen.

Aus Architekten werden Bauherren

Annick Hess und Alexander Maier, fasziniert von dem Grundstück, beschlossen trotz knapper Eigenmittel in die Rolle der Bauherrn zu schlüpfen. Ein vorheriges Projekt für ein Mehrfamilienhaus mit Wohnungen und Gewerberäumen überzeugte die Bank. Damit war der Weg frei, die eigenen Vorstellungen eines nachhaltigen Gebäudes realisieren zu können. Neben dem Energiehaushalt und der Materialisierung hatten die Architekten besonders die Kosten im Auge: »Nachhaltigkeit ist nur sinnvoll, wenn sie sich auch bezahlen lässt«, so Maier. Aufgrund des teuren Grundstücks eine Herausforderung: Sollten die Wohnungen bezahlbar sein, mussten die Baukosten niedrig gehalten werden. Maximale Ausnutzung des Grundstücks und Reduktion auf s Wesentliche hieß deshalb die Devise. Die vier Vollgeschosse und das Tiefparterre wurden um ein Attikageschoss in Holzleichtbauweise mit Aluminiumbekleidung ergänzt und ein für das Quartier typisches Hofgebäude erstellt, in dem eine Kindertagesstätte untergebracht ist. Beim Innenausbau setzten die Architekten auf einfache Standardmaterialien: Der geschliffene und lackierte Estrich bildet den fertigen Boden. Die beiden Badezimmer der Wohnungen stehen Rücken an Rücken, so dass ein Installationsschacht reicht, die Sanitärarmaturen sind einfache Standardmodelle und ein Duschvorhang genügte statt einer teuren Duschkabine.

Trumpf mit viel flexiblem Raum

Viel Wert legten die Architekten auf die Größe und die Gestaltung der Wohnungsgrundrisse: Auf 150 m² Fläche pro Geschoss finden sechs Zimmer Platz. Kern der Wohnung ist ein Ensemble aus großem Vorplatz mit Einbauschränken, Küche und den daran angrenzenden Wohn- und Essbereichen. Hier wird gespielt, gekocht, diskutiert und gegessen. Überzeugend sind die vielseitigen Nutzungsmöglichkeiten der Räume. Sie haben nicht die für Familienwohnungen übliche fixe Zuteilung, sondern lassen sich dank ihrer Form und den geschickt angeordneten Türen ganz unterschiedlich möblieren. Gelungen sind auch die diagonalen Sichtbezüge. Je nach Standort blickt man vom einen Ende quer durch alle Räume bis ans andere Ende der Wohnung. Unterstützt wird die räumliche Wirkung durch die nah am Boden sitzenden, meist raumbreiten Fenster und Festverglasungen sowie die nicht alltägliche Farbgebung: Alle Wände und Decken sind in einem hellen Grau gestrichen. Eine »Farbe«, die je nach Art des Lichts zwischen weiß und violett changiert und so im Tagesverlauf variiert. Trotz Kostendruck wurde aber auf Billigmaterialien bewusst verzichtet. »Wo immer möglich, haben wir auf schadstoffarme und diffusionsoffene Materialien gesetzt«, erklärt Annick Hess.

Keine Spritsäufer

Durch die volle Ausnutzung des Grundstücks und den einfachen Ausbau bewegen sich die Mieten zwischen 4 500 und 5 500 CHF. Auf den ersten Blick ein stattlicher Betrag, doch vergleichbar große Neubauwohnungen im Quartier erreichen Mieten von bis zu 8 000 CHF. Auch die Zusammensetzung der Bewohnerschaft war den Architekten ein Anliegen: Sie wollten die Wohnungen nicht einfach an kinderlose Doppelverdienerpaare vermieten. Heute leben in den fünf Wohnungen mehr Kinder als Erwachsene. Auch stehen in der Tiefgarage keine protzigen Geländewagen: »Nachhaltiges Wohnen und ein spritschluckendes Auto vertragen sich nicht«, ist Maier überzeugt. Deshalb schieden bei der Besichtigung diejenigen Bewerber aus, die mit einem großen Geländewagen vorfuhren. Eine Auswahl, die sich Hess und Maier leisten konnten, denn die Wohnungen waren innerhalb einer Woche vermietet.

Schwieriger hingegen gestaltete sich die Suche nach Partnern für die Bauausführung. Mit dem Planungsbüro Ghisleni fanden sie den passenden Partner für die Bauleitung und mit Gartenmann Engineering aus Zürich schließlich einen Bauphysiker für die schwierige energetische Berechnung der Dämmbetonwände. Denn v. a. bei der energetischen Berechnung betraten die Beteiligten Neuland: Die bauphysikalischen Eigenschaften des Spezialbetons unterscheiden sich stark von denen anderer Isolationsmaterialien. So liegt der U-Wert bei gleicher Fassadendicke beispielsweise höher, dafür ist der Wärmedurchgangskoeffizient tief und die Speicherfähigkeit hoch – Eckwerte, die in Einklang mit den gängigen Dämmvorschriften gebracht werden mussten.

Obwohl 45 cm Wanddicke, Standardfenster und eine Gasheizung zum Einhalten der vorgeschriebenen Verbrauchswerte von rund 90 KWh/m²a bereits genügt hätten, entschlossen sich die Architekten, weiter zu gehen. Durch Fenster mit besserer Dämmung und die Wahl einer Luftwärmepumpe, die die etwas wärmere Luft in der Tiefgarage ansaugt und so auch bei kalten Außentemperaturen effizient arbeitet, konnte die Energiebilanz nochmals verbessert werden.

Die Erfahrungen nach zwei Betriebsjahren bestätigen die theoretischen Berechnungen: Das Klima ist im Winter wie im heißen Sommer angenehm. Jede der Wohnungen braucht jährlich für Heizung und Warmwasser nur rund 40 KWh/m² – ein Wert, der sich im Rahmen des Minergie-Standards bewegt. Doch obwohl die Architekten die für das Erreichen dieses Standards vorgeschriebene kontrollierte Wohnungslüftung eingebaut haben, beantragten sie kein entsprechendes Zertifikat. Der Grund dafür: Die Berechnungsmodelle für das Minergielabel tragen den speziellen bauphysikalischen Eigenschaften von Dämmbeton nicht Rechnung.

Baustein für die 2 000-Watt-Gesellschaft

Heikel und ebenfalls ein Stück Neuland war die Ausführung der Außenwände in dem speziellen Sichtbeton. »Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir die Baufirma nach den Fähigkeiten des Poliers ausgesucht«, sagt Annick Hess. Und um sich mit den speziellen Eigenschaften des leichten Betons vertraut zu machen, goss man zuerst die Wände des kleinen Hofgebäudes. Das Ergebnis entsprach ganz den Vorstellungen der Architekten: Keine geschleckte, feine Betonoberfläche, sondern eine relativ grobe, poröse Struktur, die an Tuffstein erinnert. »Sichtbeton muss lebendig sein«, erklärt Maier. Eine Lebendigkeit, die auch die Fassade des Hauptgebäudes prägt und für einen Hingucker im Quartier sorgt, das sonst von Bauten aus der vorletzten Jahrhundertwende geprägt ist.

Auffallend sind neben den großen Fenstern die angeschrägten Leibungen, die an Sichtbetonbauten aus den frühen 70er Jahren erinnern, sowie die klare optische Trennung von Tief- und Hochparterre durch eine Kerbe im Beton. Kleine Eingriffe, die zusammen mit dem hofseitigen Hauseingang und der Weiterführung der quartierüblichen Traufhöhe dafür sorgen, dass der Neubau in der Neptunstraße zu einem modernen Bruder der Altbauten geworden ist – und zugleich ein Beispiel für das Erreichen der Ziele der 2 000-Watt-Gesellschaft darstellt. Ein Ziel, das alle stimmberechtigten Bürger der Stadt Zürich im Herbst 2008 festgelegt haben. Es sieht vor, den Energieverbrauch jedes Einwohners der Stadt bis 2050 auf eine Dauerleistung von 2 000 Watt zu senken – ein Drittel des aktuellen Wertes. Ein wichtiges Mittel dazu sind zentral gelegene, sparsame Bauten, wie das Haus in der Neptunstraße. Seine Bewohner brauchen nicht nur wenig Heizenergie, sondern können in den meisten Fällen auch auf ein Auto verzichten. Die nächsten Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind gleich um die Ecke und die Wege zum Einkaufen kurz.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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