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TEC21 2010|18
Simulanten
TEC21 2010|18
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Numerische Simulationen

In der Industrie hat die Simulation bereits bewiesen, dass sie wirtschaftlich sinnvoll ist, die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunftsaussichten eines Unternehmens verbessert und einen wesentlichen Beitrag zu Qualität, Sicherheit und Komfort liefern kann. In der Wissenschaft hat sich die Simulation als dritte Säule neben Theorie und Experiment etabliert. Sie wird als Schlüsseltechnologie für die Zukunft betrachtet und kann damit auch für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz von zentraler Bedeutung sein.

30. April 2010 - Philipp Huber
Mit der rasanten Entwicklung der numerischen Simulation in den letzten Jahren ergeben sich für das Bauwesen interessante neue Möglichkeiten für Berechnungen und Analysen. Unter numerischer Simulation versteht man Computeranalysen, die mittels numerischer Methoden durchgeführt werden. FEM für Finite-Elemente-Methode (Anwendung siehe Fachartikel «Durchschlagend stark») und CFD für Computational Fluid Dynamics (Anwendung siehe Fachartikel «Unsichtbare Strömungen» und «Rauchfreie Zone») sind die wesentlichen Begriffe in diesem Fachbereich. Bekannte Beispiele sind statische und dynamische Berechnungen (Strukturmechanik), Wetter- und Klimaprognosen, thermisches Verhalten von Gebäuden oder Untersuchungen der Luftzirkulation in Gebäuden (Strömungssimulation). Eine zusammenhängende Struktur (Kontinuum) wird dabei in viele kleine (finite) Elemente aufgeteilt bzw. diskretisiert (TEC21 17-18/2008 «Diskrete Elemente»). Auf der Basis der Grundgleichungen der Physik entstehen so Gleichungssysteme, die mittels geeigneter Lösungsverfahren (Gauss-Elimination, iterative Verfahren) gelöst werden. Für die Golden Gate Bridge mussten im Jahre 1937 ganze 37 Gleichungen von Hand gelöst werden, was drei Monate dauerte. Leistungsstarke, kommerzielle Cluster (Verbund von Computern), wie sie heute in der Praxis verwendet werden, sind in der Lage, eine Strömungssimulation mit gegen 100 Millionen Unbekannten in wenigen Tagen zu lösen.

Die Entwicklung der numerischen Simulation

In der Schweiz begann das Zeitalter der Computersimulation 1950 an der ETH Zürich mit dem Z4 (siehe Kasten), dem ersten universellen Computer der Welt. Er ermöglichte die statische Berechnung der Grande-Dixence-Staumauer innert nützlicher Frist. Gerade die numerische Simulation hat ihren Ursprung im Bauwesen, weil das lange Zeit gängige Verfahren in der Industrie, die Herstellung von Prototypen und Tests, für grosse Strukturen nicht anwendbar war. In den letzten Jahrzehnten setzte sich die Simulation immer mehr auch in der Industrie durch, weil der steigende Wettbewerbsdruck hohe Qualität, wirtschaftliche Produkte und kurze Entwicklungszeiten fordert. Diese Tatsache verlieh der Simulation einen gewaltigen Entwicklungsschub. Treibende Kräfte waren und sind die Autoindustrie (Crashsimulation) und der Flugzeugbau (Leichtbau, Strömungssimulation). So können heute in der Strukturmechanik hochdynamische Vorgänge, grosse Deformationen, nicht lineare Materialeigenschaften oder nicht lineare Kontakte zwischen Bauteilen mit Reibung zuverlässig und schnell berechnet werden. In der Folge hat sich die numerische Simulation auch in der Medizinaltechnik, z. B. zur Berechnung von Implantaten, in der Biologie bei der Berechnung von mechanischen Kräften zwischen Zellen oder in der Uhrenindustrie etabliert. Die strukturmechanische Analyse kann auch mit einer Strömungssimulation bidirektional gekoppelt werden. Dies erlaubt beispielsweise die Berechnung eines pulsierenden Herzens dank Fluid-Structure-Interaction (FSI).

Was bringt die zukunft?

Die Entwicklung der numerischen Simulation ist nicht annähernd abgeschlossen und wird neue Analysemöglichkeiten hervorbringen. Aktuell sind Softwareingenieure der Entwicklungsabteilungen mit folgenden Themen beschäftigt:

– Multiphysik: Alle Bereiche der Physik (Strukturmechanik, Strömung, thermische Analysen, Elektromagnetik) werden in Zukunft mit ihrer gegenseitigen Beeinflussung (Kopplung) simulierbar sein. Mit der heutigen Technik bereits möglich ist die Berechnung der Schallabstrahlung eines Elektromotors mit folgenden Rechenschritten: Mit einer Transiente-Elektromagnetik- Simulation wird zuerst das Magnetfeld in der drehenden Maschine berechnet.
Mit den resultierenden dynamischen Kräften erhält man dann die Schwingungen der schallabstrahlenden Gehäuseteile. Daraus wird über eine weitere Rechenkopplung der Schallpegel um den Elektromotor berechnet. In naher Zukunft wird diese Technik für alle Kopplungsrichtungen und für grosse, realitätsnahe Modelle bereitstehen.

– Optimierung, Sensitivitätsanalysen, Robust Design: Vielfach werden Worst-Case-Szenarien analysiert, um die Tragsicherheit der Struktur nachzuweisen. Die Eingangsparameter werden auf der «sicheren» Seite angenommen. Doch wie sicher ist so ein Nachweis wirklich, und wie wirtschaftlich ist solches Design? Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Oft gibt es gar keine sichere Seite wie zum Beispiel in der Dynamik, das Modell ist nicht linear, oder Materialparameter sind teilweise unbekannt. In solchen Fällen helfen nur die Variation von Parametern in sinnvollen Grenzen und die klare Definition von Zielgrössen, die optimiert werden sollen. Moderne Softwaretools mit effizienten Optimierungsalgorithmen werden diese Aufgaben vermehrt übernehmen. Dank bidirektionalen Schnittstellen zwischen CAD- und FEM-Tool können Geometrien variiert werden (z. B. Toleranzen). Materialparameter sind in ihrer Streubreite variierbar; so ist nach den notwendigen Rechendurchgängen ersichtlich, welche Parameter entscheidenden Einfluss auf die Zielgrössen haben. Auf diese Art wird das Verhalten eines komplexen Modells verständlich, und die Struktur kann gezielt verbessert werden.

– Engineering-Knowledge-Management: Ein wesentlicher Vorteil von modernen Simulationstools ist, dass ganze Arbeitsabläufe gespeichert und immer wieder angewendet und verbessert werden können. Der Prozess für die Simulation kann somit klar definiert werden.
Dadurch ist das Wissen nicht nur in den einzelnen Köpfen, sondern für alle Ingenieure verfügbar und bleibt der Firma dauerhaft erhalten.

– High Performance Computing (HPC): Die Basis für die Entwicklung der Simulation war und ist die Steigerung der Rechenleistung. Aktuell werden die Computer etwa alle zehn Jahre 1000-fach leistungsfähiger. Für HPC wird die Methode des Massiv-parallel-Rechnens verwendet und kontinuierlich gesteigert. Der Hochleistungsrechner am CSCS (Swiss National Supercomputing Centre) in Manno rechnet mit 15 000 Prozessoren, wobei ein entscheidender Baustein das Kommunikationsnetzwerk zwischen den parallelen Rechenelementen ist. Allerdings stösst die derzeitige Chiptechnologie an ihre Grenzen: Die Taktfrequenz ist kaum mehr zu steigern, die Chips werden zu heiss, die Kühlung verbraucht entsprechend viel Strom. Zukünftige Workstations und Cluster müssen in Zukunft also auch energieeffizienter werden.

– IT-Infrastruktur: Was bedeutet die HPC-Entwicklung für die Infrastruktur eines zukünftigen Simulations-Arbeitsplatzes? In zwei bis vier Jahren wird jeder Anwender (Simulant) 32 bis 64 Prozessorkerne standardmässig an seinem Arbeitsplatz zur Verfügung haben. Allerdings macht es keinen Sinn, jedem Ingenieur lokal die maximale Rechenkapazität zur Verfügung zu stellen, die er nur sporadisch benötigt. Sinnvoll ist, eine hohe Rechenleistung «on demand» zentral für ein Team zur Verfügung zu stellen, um Leistungsspitzen auszugleichen. Remote Graphics Software (RGS) in Kombination mit Blade-Workstations ist eine geeignete Technologie, um zentral zu rechnen und die Rechnerkapazität dezentral verfügbar zu machen. Ein weiterer Nutzen ist die hohe Datensicherheit aufgrund einer einheitlichen, zentralen IT-Umgebung.

Numerische Simulationen im Bauwesen

All diese Entwicklungen ergeben auch im Bauwesen vielfältige Perspektiven für Simulationen.
Schon heute beschränken sich die Anwendungen nicht mehr nur auf lineare Statik, denn Strukturen und Aufgabenstellungen werden immer komplexer; zu deren Analyse bieten sich numerische Simulationen an. Die stetig steigenden Anforderungen der Gesellschaft an Sicherheit (Erdbeben, Brand), Komfort (Lärm, Raumklima) und Energieeffizienz (Wärmeisolation, alternative Energien) werden diesen Trend weiter antreiben. Beispiele für Analysemöglichkeiten im Bauwesen, die mit leistungsfähigen Simulationstools heute möglich sind:

– Transiente Dynamik, z. B. Erdbebenanregung einer dreidimensionalen Struktur im Zeitbereich, mit nicht linearen Materialgesetzen, um die Tragreserven effizient zu nutzen

– Explizite Dynamik, z. B. Stützenanprall, Steinschlag, Explosion, progressiver Kollaps eines Hochhauses

– Fluid-Structure-Interaction, z. B. Winddruck und dynamische Anregung eines Hochhauses oder Stadions durch periodische Wirbelablösungen, dynamische Eigenschaften von wassergefüllten Behältern

– Structure-Fluid-Interaction, z. B. Schallabstrahlung von Eisenbahnrädern oder schwingenden Decken und Wänden für die Berechnung der Schallpegelverteilung im Raum

– Strömungssimulation, Luftzirkulation und Temperaturverteilung im und um das Gebäude, Partikelkonzentration in Reinräumen

– Thermische Analysen von Fassaden, Berechnung von Wärmeübergangskoeffizienten mittels Strömungssimulation

– Brandsimulationen, Entrauchungssimulation, Ausbreitung von Rauch und toxischen Gasen Analytische Lösungen oder Erfahrungswerte verkommen aber keineswegs zu veralteten Methoden. Sie müssen weiterhin zur Konzeptfindung und für Grobabschätzungen herangezogen werden, denn keine Software erstellt ein gutes Konzept.

Pflichtfach Physik

Die Simulationstools von morgen werden den Simulanten durch Automatismen beim Modellaufbau und bei der Vernetzung (preprocessing) deutlich entlasten. Die Resultate werden schneller verfügbar sein, damit bleibt dem Ingenieur mehr Zeit für Aus- und Bewertung der Resultate (postprocessing) sowie für zusätzliche Rechenläufe mit veränderten Parametern, um das Verständnis seines Modells zu verbessern. Die Arbeitszeit wird in Zukunft also effizienter genutzt, wenn der Ausbildungsstand der User mit der Entwicklung von Soft- und Hardware Schritt hält. Die heutigen Programme von Anbietern wie ANSYS oder MSC-Software sind so mächtig, dass sie nicht ohne entsprechendes Wissen und Erfahrung sinnvoll genutzt werden können. Ein breites und tiefes Verständnis für die Physik und die Simulationsmethoden ist Bestandteil der erfolgreichen Anwendung in der Praxis. Um die Möglichkeiten sinnvoll zu nutzen, müssen die angehenden Ingenieure an den Hochschulen noch mehr in Richtung Simulation ausgebildet werden. Simulation ermöglicht Innovation, und echte Innovation ist der einzige Weg, den die Schweiz gehen kann, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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