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Gegenkulturen des Wohnens

30. Mai 2010 - Angelika Fitz
„Im Augenblick gibt es nur wenige Subkulturen, die freiwillig einen Architekten aufsuchen“ , hält Denise Scott Brown 1971 in „Learning from Pop“ fest. Sie verbindet mit dieser Beobachtung ihre Kritik, dass Architekten und Stadtplaner den Wandel der Gesellschaft in den 1960er Jahren versäumt hätten und den Einfluss der Populärkultur auf die gebaute Realität ausblenden oder sogar bewusst zurückdrängen. So wurden laut Scott Brown die Wünsche der Nutzer an den Wohnbau längst nicht mehr in den Ateliers der Architekten antizipiert, sondern in den Werbeagenturen der Madison Avenue produziert. Massenmediale Bilder wechselten aus dem Hintergrund von Fernsehserien und Werbespots in den Vordergrund des Baugeschehens und kommerzielle Bauunternehmer verstanden diesen Imagetransfer besser als die von Scott Brown geschmähten „Künstlerarchitekten“: „Kein vernünftiger Bauunternehmer würde verkünden: Ich baue für Menschen. Er baut für einen Markt, für eine Gruppe von Menschen, die durch ihr Einkommen und Alter, ihre Familienstruktur und ihren Lebensstil definiert ist. Vororte wie Levittown, Erlebnisparks, Stadthäuser im georgianischen Stil entstehen genau so, wie jemand die Bedürfnisse bestimmter Gruppen einschätzt, die ihren Markt bilden. Die Stadt kann als Ansammlung der gebauten Artefakte einer Gruppe von Subkulturen aufgefasst werden.“ Und diese Subkulturen glaubten nicht daran, dass Architekten ihre persönlichen Wohnvorstellungen beflügeln könnten, so Scott Browns Befund Anfang der 1970er Jahre.

Die Verwendung des Begriffs „Subkultur“ für den kleinbürgerlichen Wohntraum in den US-amerikanischen Vororten oder für die georgianischen Stadthäuser als gebaute Symbole der Vermögenden mutet aus heutiger Sicht befremdend an, versteht man unter Subkulturen heute vor allem im alltagssprachlichen Gebrauch ausgegrenzte und revoltierende Gruppen sowie kulturelle und ethnische Außenseiter. Ihren Ausgang nahm diese Bewertung in den frühen Untersuchungen der britischen Cultural Studies in den 1960er Jahren, die den Begriff auf klassenspezifische Jugendkulturen wie Mods oder Rocker anwandten. Es handelte sich hierbei um die Weiterentwicklung eines Begriffs, der in den 1940er Jahren erstmals in der US-amerikanischen Soziologie aufgetaucht war, als Bezeichnung für ethnische Gruppierungen, die sich vom Wertekanon der weißen Mittelschicht bewusst abgrenzten – in der Regel nicht mit revoltierenden oder emanzipatorischen Absichten, sondern bedacht auf die Bewahrung traditioneller Ordnungssysteme, nicht unähnlich jenen Gemeinschaften, die heute gerne als Parallelgesellschaften bezeichnet werden. Um das politische Moment in der Beschreibung von Akteursgruppen, die sich von der Herrschaftskultur abgrenzen, zu betonen, wurde der Begriff der Subkultur in den Cultural Studies mittlerweile vom Begriff der „Gegenkultur“ abgelöst. Denn durch das Prisma der Cultural Studies betrachtet stellt sich Kultur immer als ein Feld von Machtbeziehungen dar. Und Macht impliziert Widerstand in Form von Gegenkultur, so eine an Michel Foucault orientierte Annahme der Cultural Studies. In Anbetracht dieser Begriffsgeschichte wird es plausibel, dass Denise Scott Brown den amerikanischen Traum von Levittown und Co als Subkultur bezeichnet und damit den populären Mainstream provokativ als Gegenkultur des Wohnens markiert, nämlich als Gegenkultur zur Herrschaftskultur der Architekturbüros, auf deren Dienste die Subkulturen gerne verzichten.

Folgt man dieser Spur, stößt man noch heute auf eine doppelte Barriere für Architekten, die sich für Innovationen im Geschosswohnbau interessieren: Einerseits zeigt der Mainstream des Wohnbaugeschehens eine hohe Beratungsresistenz gegenüber neuen Ideen und anderseits halten Gegenkulturen Architekten für verzichtbar. Ob es im ersten Falle die Bauträger und Investoren sind oder die Nutzer, die auf konventionellen Typologien beharren, darüber lässt sich trefflich streiten. Erstaunlicher ist aber das zweite Phänomen, nämlich dass Gegenkulturen so selten die Zusammenarbeit mit Architekten suchen, um gemeinsam alternative Wohnkulturen zu entwickeln. Die Wohnvarianten der jeweiligen „Revolutionäre“ aus den letzten Jahrzehnten sind überschaubar und schaffen – bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel die bekannte Sargfabrik und Miss Sargfabrik in Wien – eher durch wechselnde Dekorationen als durch räumliche Revolutionen Distinktion. Soziale und kulturelle Gegenbewegungen nutzen gezielt massenkulturelle Artikulationsformen wie Musik, Mode oder Design und bringen beachtliches Erweiterungspotential in diese Disziplinen.

Und Architektur ist bekanntlich eine der primären und machtvollsten Formen der Massenkommunikation. Wo aber finden sich Architekturentwürfe als Bestandteil von Gegenkulturen? Wo finden sich Konstellationen für gegenkulturelle Wohnlabors?

„Das Establishment kann erst vom Pop lernen, wenn er in der Akademie hängt“ , so Denise Scott Brown Anfang der 1970er Jahre. Dort sind die Gegenkulturen mit den Cultural Studies längst angekommen. Die akademische Etablierung des Gegenkulturellen hat zwar die Berührungspunkte mit der architektonischen Entwurfspraxis nach wie vor nicht wirklich vertieft – was auf Gegenseitigkeit zu beruhen scheint, denn auch die Cultural Studies sehen neugebaute Architektur kaum als Feld für emanzipatorische Artikulationen – , aber in der Stadterneuerung sind gegenkulturelle Strategien gern gesehene Gäste. Und wie jeder gute Gast beanspruchen sie ihren Gastgeber nur temporär. Mit dem Dispositiv der temporären Intervention sind Praktiken einer differentiellen Raumproduktion , wie sie von Henri Lefebvre und den Situationisten in den 1950er und 1960er Jahren gefordert wurden, in den Mainstream der Stadterneuerung vorgedrungen. Die Verbindung von Stadterneuerung und flüchtigen, performativen Interventionen im Stadtraum ist anhaltend beliebt – sowohl bei Stadtverwaltungen als auch bei privaten Investoren: Leerstehende Immobilien werden temporär bespielt, Bewohner zur Mitgestaltung eingeladen, Festivals machen den Stadtraum zum Erlebnisraum. Kunst-im-öffentlichen-Raum wird zu einem wichtigen Medium im Konglomerat der Inszenierungen von Stadt. Das steht in Zusammenhang mit dem Befund, dass Städte zusehends wie Ausstellungen funktionieren. Ähnlich wie im Museum hat sich dabei der Ausstellungsbegriff von einem frontalen, objektzentrierten zu einem interaktiven, erlebnisorientierten gewandelt. Kurzweilige, öffentlichkeitswirksame Aktionen mischen sich mit langwierigen Planungsprozessen. Zurecht wird zunehmend kritisch diskutiert, ob das Gros dieser schon fast inflationären Projekte noch einen Konnex zu Lefebvres Vision einer neuen urbanen Praxis aufweist, in der künstlerisches Handeln als utopisches Relais zwischen dem „abstraktem Raum“ kapitalistischer Repräsentation und dem „sozialen Raum“ als alltäglichem Gebrauchswert eine differentielle räumliche Praxis produzieren soll. Denn selbst performative Strategien, die sich auf situationistische Traditionen berufen, können im Kontext der postfordistischen Stadt marketing- und dienstleistungsorientierte Verwertungszusammenhänge unterstützen. Prozesshaftigkeit und Temporalität kann zur Flexibilität werden, die neoliberalen Anforderungsprofilen und Verwertungslogiken geradezu entgegenkommt.

Für Internationale Bauausstellungen gehören temporäre Interventionen inzwischen zum Standardrepertoire. In der niederländischen Satellitenstadt Hoogvliet wurde eine geplante Bauausstellung auf Vorschlag von Felix Rottenberg und den Crimson Architectural Historians sogar durch eine Serie von temporären Projekten ersetzt. „Anstatt den für die IBA-Hoogvliet budgetierten 6 Millionen Euro im Jahr – gedacht auf 10 Jahre – und einem fixen Mitarbeiterstab von 30 bis 40 Leuten schlugen wir eine kleine operationale Einheit für 5 Jahre, mit einem Zehntel des Budgets vor“ , so Wouter Vanstiphout von den Crimson Architectural Historians. Er verweist damit auf ein Argument, das viele Kommunen und Investoren lockt: maximale mediale Aufmerksamkeit mit verhältnismäßig geringem finanziellen Einsatz. Die zwischen 2001 und 2007 unter dem Titel „WiMBY! (Welcome into My BackYard!)” durchgeführte „alternative Bauaustellung“ hatte allerdings Schwierigkeiten damit, nachhaltige Rückkoppelungen zwischen ihren temporären Interventionen und den gleichzeitig – unabhängig davon – munter vorangehenden großräumigen baulichen Umgestaltungen in Hoogvliet herzustellen. Es gab keine strukturelle Begleitung, um eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den zwei Wohnbaugesellschaften, die das Baugeschehen dominierten, zu ermöglichen. „Was wir sicher nicht wollten, war ein Teil der Kosmetik für dieses unglaubliche Projekt zu werden“, so Vanstiphout. „Wir wollten ein eigenes Projekt sein, eine eigene Agenda vorgeben. ... Wir wollten autonom sein, aber gleichzeitig wollten wir echte Projekte realisieren. Wir haben uns dafür entschieden, keine Projekte zu machen, die nur aus kritischen Statements bestehen.“ Spätestens diese Erfahrungen zeigen, dass es an der Zeit wäre, eine engere Verschränkung von temporären und baulichen Maßnahmen zu versuchen, trotz Ängsten vor Verwertungslogiken auf der einen und Bedenken bezüglich der erzielbaren Nachhaltigkeit auf der anderen Seite. Die IBA Hamburg könnte in ihren Wohnbau-Wettbewerben einer solchen Transversalität die Tür einen Spalt breit geöffnet haben.

Temporäre Strategien und Wohnbau – wie geht das zusammen? Ist doch das Wohnen wie kaum ein anderes Feld der Architektur von großem Beharrungsvermögen gekennzeichnet, von Gewohnheiten stabilisiert, von vertrauten Bildern dominiert, in denen sich, wie bereits bei Denise Scott Brown beschrieben, persönliche und massenmediale Erfahrungen verschränken. Nicht nur die einzelnen Teil-, Sub- oder Gegenkulturen – heute auch Lebensstilgruppen genannt – halten an gewohnten Typologien fest, die in den Brandingprozessen des Themenwohnens oft nur in ihren bildhaften Oberflächen variiert werden. Selbst Architekturstudierende müssen auf weite Umwege geführt werden, um das gelernte Wohnen zu überschreiten, wie der Architekt Micheal Rieper aus seinen Lehrerfahrungen am Wohnbauinstitut der TU Wien zu berichten weiß. Unter anderem deshalb forderte er gemeinsam mit seinen Kollegen Peter Fattinger und Veronika Orso eine Gruppe von Studierenden auf, im Rahmen der Intervention „add On. 20 Höhenmeter“ Wohneinheiten für artists in residence in einer temporären Gerüststruktur auf einem öffentlichen Platz zu entwerfen und 1:1 zu bauen.

Für das Projekt „add On“ wurde im Sommer 2005 ein Cluster aus Gerüstbauteilen und containerähnlichen Bauelementen vertikal im Zentrum des kleinen Wallensteinplatzes im bis dahin nicht für sein Kulturangebot bekannten 20.Wiener Bezirk gestapelt. Der Platz war nur wenige Monate zuvor unter Zuhilfenahme von EU-Geldern für strukturschwache Stadtteile komplett neugestaltet worden. Das nun errichtete seltsam anarchische Ensemble war zugleich Bühne und Tribüne, Landschaft und „Hochhaus“ und mitunter auch Erregungsanlass für einzelne Anrainer, die gerade erst vom Baulärm befreit worden waren. Zahlreiche internationale Künstler wurden eingeladen, eigene Arbeiten vor Ort zu entwickeln. Populärkulturelle Motive wie „Werkskantine“, „Schrebergarten“, „Panoramacafe“ oder „Wohnwagen“ boten einerseits sechs Wochen lang reale Infrastruktur für die temporären Bewohner und für Besucher, andererseits führten sie zitathaft mögliche Gleichzeitigkeiten und Überschneidungen von Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeit, Konsum, Unterhaltung und Erholung im öffentlichen Raum vor. Der Intervention gelang, was die aufwendige bauliche Umgestaltung nicht geschafft hatte, dem Platz öffentliches Leben einzuhauchen, sowohl auf lokaler Ebene, zum Beispiel als die attraktivere Variante eines „Jugendzentrums“ als auch überregional, indem die gut kuratierte Bespielung den Wallensteinplatz als künstlerischen Hotspot auf das gesamtstädtische Radar brachte.

Mit dem Folgeprojekt „Bellevue. Das Gelbe Haus“ , das 2009 im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz stattfand, bauten Fattinger, Orso und Rieper ihre Expertise für die Sichtbarmachung der Unfertigkeit des Fertigen aus. Schauplatz war ein neuer Landschaftspark auf der Einhausung der Linzer Stadtautobahn, von den lärmgeplagten Anrainern jahrelang ersehnt, nach der Eröffnung mäßig genutzt, schon gar nicht als wirkliches Bindeglied zwischen den bisher getrennten Stadtteilen. Wieder beschränkten sich Fattinger, Orso und Rieper nicht auf das Sichtbarmachen oder die kritische Verdoppelung des Vorhandenen, sondern setzten auf die Anstiftung zur Aneignung. Mit seinem Satteldachzitat, vertraut von den ruralen Typologien der umliegenden Wohnbauten aus der NS-Zeit, und einer blumengeschmückte Aussichtsterrasse auf die Autobahn war das „Gelbe Haus“ von Anfang an populär und andererseits auf symbolischer und sozialer Ebene fremd genug, um Bewegung in den Alltag der Quartiersbewohner zu bringen. Wieder entwickelte sich das Projekt zum beliebten Jugend- und Seniorentreff und gleichzeitig zum Hang-out für die sogenannte kreative Szene, zum unorthodoxen temporären Wohngefüge und zum künstlerischen Off-Space. „Das Gelbe Haus muss bleiben“, forderten viele Anrainer und Fans am Ende eines ereignisreichen Sommers und verkannten damit die Stärken des Ausnahmezustandes, den der Modus des Temporären herstellt: die Möglichkeit rechtliche Hürden zu überwinden und an einem neuralgischen Ort zu bauen, die Gelegenheit symbolisches Vokabular ironisch überzeichnet einzusetzen (während Ironie sich bei permanenten Bauten selten bewährt hat), die Bereitschaft bei Auftraggebern und Besuchern Ungewohntes auszuprobieren, die Einmaligkeit eines dicht gedrängten täglichen Programms und eine Intensität, wie sie nur eine zeitlich begrenzte Vorausgabung hervorbringen kann.

Nicht trotz sondern wegen ihrer Flüchtigkeit sind temporäre Interventionen wirksam. Während klassische Planungsmethoden den Raum des Sozialen, der Konventionen und natürlich auch des Ökonomischen zu einem hohen Grad fortschreiben, arbeiten temporäre Projekte an der Aufhebung von Selbstverständlichkeiten.

Gerade für das starre Feld des Wohnbaus könnte dieses Bewegungsmoment interessant sein. Wohnungen kostengünstig und energieeffizient zu planen und gestalten bleibt wichtig, aber soziale und kulturelle Neuerungen werden dabei kaum entstehen. Eine IBA bildet mit ihrer vorgezeichneten Gemengelage aus temporären Projekten und baulichen Maßnahmen einen geeigneten Rahmen, um auch im Wohnbau experimentelle – oder mit Lefebvre „differentielle“ – Handlungsfelder als Relais zwischen dem „abstraktem Raum“ der Planung und dem „sozialen Raum“ des Alltags einzuschieben. Ein mögliches temporäres Handlungsfeld haben Michael Rieper und x architekten mit der „Wohnwerkstatt“ für ihren Smart Price House-Vorschlag entwickelt. Die Kosten durch Vor- und Serienfertigung, alltägliche Materialen, verminderte Ausbaustandards und Selbstbauanteile zu reduzieren ist für sie nur die halbe Übung, bei der Low-Cost Erfahrungen aus der Bricolage-Ecke und die breite Erfahrung von x architekten im Wohn- und Gewerbebau zusammenwirken sollen. Aber eine IBA sollte mehr wollen und leisten, weshalb sie vorschlagen, die Kostenersparnis als Spielkapital für eine „Wohnwerkstatt“ einzusetzen, bei der während des Baus und der ersten Besiedlung des Geschosswohnbaus in Konventionen des Wohnens interveniert wird – mit künstlerischen, sozialen und wissenschaftlichen Methoden wie sie im Umfeld der IBA reichlich verfügbar sind, zeitlich beschränkt und organisiert über eine non-profit Trägerstruktur. Die Einladung Gegenkulturen des Wohnens zu entwickeln, richtet sich dabei an mindestens zwei Teilkulturen, die beide potentielle Zielgruppen von Smart Price Wohnen sind: sozial Schwache, die sich für solche Modelle interessieren müssen, und kreative Individualisten, die absichtlich und freiwillig einen Geschosswohnbau mit mehr Gestaltungsraum suchen – Überschneidungen nicht ausgeschlossen.

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngoberlin[at]archplus.net

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