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TEC21 2010|23
Badenerstrasse 380
TEC21 2010|23
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Zähne zeigen

Der Energieverschwendung, dem Strassenlärm und dem langweiligen Wohnungsbau die Zähne zeigen – zu diesem Zweck haben sich die innovationsfreudige Baugenossenschaft Zurlinden und Pool Architekten zusammengetan. In einem anspruchsvollen städtischen Umfeld erbaute dieses Team das erste Zürcher Gebäude nach dem SIA-E ffizienzpfad zur 2000-Watt-Gesellschaft.[1] Entstanden ist ein überzeugender Prototyp.

4. Juni 2010 - Alexander Felix
In der Computerwelt spricht man von «Open Source» – im übertragenen und besten Sinne handelt es sich auch bei dem Projekt «Wohn- und Geschäftshaus Badenerstrasse 380, Zürich» um einen offenen Prototyp. An dessen Entwicklung sind neben den Architekten zahlreiche Handwerksunternehmen der Baugenossenschaft Zurlinden (BGZ) beteiligt. Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine janusköpfige, rund 2700 m² grosse Parzelle in Zürich. Im Süden wird sie von der stark befahrenen Badenerstrasse begrenzt, während im Norden der neue Stadtpark Hardau entstehen soll. Seit den 1970er-Jahren wird die Fläche zwischen der kommunalen Wohnsiedlung Hardau II und der Badenerstrasse als informeller Park- und Spielplatz genutzt. Etwa ebenso lang steht auf dem Areal ein Migros-Provisorium. Im Zuge der Erneuerung der Siedlung Hardau und der Aufwertung des gesamten Quartiers sollte der eingeschossige Pavillon einem Neubau weichen.

Basis Wettbewerb

Wie in Zürich üblich, lobte das Hochbauamt der Stadt im Auftrag der BGZ zusammen mit der Genossenschaft Migros Zürich einen Studienauftrag für das Bauvorhaben aus (vgl. «Zürich – Paris», TEC21 3-4/2007). Das Erdgeschoss sollte künftig die Migros-Filiale beherbergen, darüber sollten 50 Wohnungen für Singles, Zwei-Personen-Haushalte und Kleinfamilien entstehen. Die Parzelle selbst hat eine Tiefe, die den fünf eingeladenen Architektenteams die Aufgabe nicht einfach machte.

In einer ersten Runde konnte kein Projekt allen Anforderungen – besonders der Einhaltung der Kosten – restlos gerecht werden. Der Austausch in der Zwischenbesprechung zeigte die Komplexität der Aufgabe, Kosten, Lärm, Nutzungsdurchmischung, Dichte und Gebrauchswert der Wohnungen unter einen Hut zu bringen. In der Überarbeitungsrunde, in der es vor allem um die Wirtschaftlichkeit ging, konnten sich pool Architekten gegen das Projekt von Harder Haas Partner durchsetzen. Das laut Jurybericht «eigenwillige Projekt» ist dicht und in der Vertikalen stark gegliedert. Lange Raumfolgen spannen von der Strassen- bis zur Parkseite, was sowohl eine optimale Besonnung von Süden wie auch einen direkten Blick zum geplanten Stadtpark Hardau ermöglicht. Der Bezug sämtlicher Wohnungen zum Park stellt einen entscheidenden Vermietungsfaktor dar. Überraschend für die Jury war, dass mit der Optimierung der Kosten grosszügigere Wohnungen entstanden seien.[2]

Forscherfirmen Ein weiterer Baustein des Projekts ist in der Struktur der Baugenossenschaft Zurlinden selbst zu finden, mit der die Architekten bereits bei der Wohnüberbauung Leimbachstrasse in Zürich zusammengearbeitet haben. Sie wurde 1923 gegründet, und ihre rund 50 Genossenschaftsmitglieder sind vorwiegend KMU aus der Baubranche. Die BGZ besitzt heute 1255 Wohnungen in Zürich und Umgebung. Sie ist der Gemeinnützigkeit verpflichtet und daher in der Lage, Wohnungen zu langfristig günstigen Mietzinsen anzubieten. Die BGZ versteht sich als Schrittmacherin im zukunftsorientierten Wohnungsbau. Mit prägnanter Architektur und mit mutigen Pionierprojekten setzt sie Zeichen für eine nachhaltige Entwicklung. Da verwundert es wenig, dass die Bauherrschaft künftige Projekte konsequent nach dem Legislaturziel der Stadt Zürich «2000-Watt-Gesellschaft» gemäss dem SIA-Effizienzpfad Energie plant.3 Nicht ganz uneigennützig setzt die BGZ bei ihren Neubauten auf eine innovative, nachhaltige Bauweise und arbeitet dabei eng mit qualifizierten Fachleuten zusammen, sind doch gelungene Projekte die beste Werbung für die Innovations- und Leistungsfähigkeit der Genossenschafter.

Beim Projekt an der Badenerstrasse kommt daher die neu entwickelte Bauweise «Top Wall» zum ersten Einsatz. Die Wände bestehen aus senkrechten Massivholz-Ständern (vgl. «Vorteile ausspielen», S. 28 ff.), um den Grauenergiegehalt der Konstruktion zu reduzieren und so dem 2000-Watt-Ziel näherzukommen.

Dem Stadtlärm Trotzen

Die Architekten entschieden sich bei ihrem Entwurf, die gesamte Parzellentiefe mit dem Baukörper zu besetzen. Auf ein überhohes Sockelgeschoss mit der Migros-Filiale sind die Wohngeschosse wie auf einen Tisch gestellt. Dabei definiert das Gebäude mit seinen zwei Längsfassaden sowohl den Strassen- als auch den Parkraum. Von der lauten Strassenseite zieht sich der Baukörper in den Obergeschossen etwas zurück. Die starke vertikale Fassadengliederung nimmt hier den Duktus der Nachbargebäude mit ihren Erkern auf und verstärkt ihn durch markante Attikarücksprünge. Auf die ruhige Parkseite ausgerichtet sind die Balkone, die das Volumen auflösen und zum Grün hin öffnen.

Um den Parkplatz im Hinterhof zugunsten des Stadtparks auflösen zu können, wurde in den Untergeschossen neben den Migros-Kundenparkplätzen eine grosse öffentliche Einstellhalle geschaffen. Allerdings ist die Organisation noch nicht geklärt: Statt der ursprünglich vorgesehenen Übernahme durch die Stadt betreibt zurzeit die Genossenschaft die Tiefgarage. Die Wohngeschosse sind eine Holzkonstruktion, die auf der weitgespannten Stahlbetondecke des ebenerdigen Ladengeschäfts steht. Lediglich die Fluchttreppenhäuser mussten aus Brandschutzgründen betoniert werden. Entgegen der ursprünglichen Planung, auch die Geschossdecken aus Stahlbeton herzustellen, wurden vorgefertigte grossformatige Hohlkastenelemente aus Holz eingebaut.

Der Aufbau selbst besteht aus sechs Häusern, die sägezahnartig gegeneinander verschoben angeordnet sind. Die einzelnen Volumen mit Breiten von 10.40 m bzw. 13.90 m sind längs in zwei Hälften geteilt, sodass durchgesteckte, schmale, knapp 20 m tiefe Wohnungsgrundrisse entstehen. Alle Wohnungen partizipieren so an den Vor- und Nachteilen beider Seiten. Durch den Versatz der Häuser sind fast alle Wohnungen von drei Seiten belichtet, was den Grundriss licht und grosszügig wirken lässt. Dank den starken Rücksprüngen in der Strassenfassade ist an diesem lärmbelasteten Ort Wohnen überhaupt möglich. Um die Lärmschutzvorschriften einhalten zu können, darf der Grenzwert bei geöffneten Fenstern nicht überschritten werden – auch wenn eine mechanische Lüftung vorhanden ist. In den Einzügen ist der Schall geringer, sodass hier die Fenster geöffnet werden können. Gleichzeitig erzeugen sie aber auch – bei aller gewünschten Dichte – schwierige Ecksituationen mit teilweise guter Sicht in die Nachbarwohnungen. Die im Wettbewerbsentwurf gelobten energetisch begründeten, tiefen Fensterlaibungen erweisen sich leider nicht als ausreichende Schutzmassnahme gegen schräge Blicke.

Man betritt die sechs Wohnhäuser über separate lichte Treppenhäuser, die längs der Sockelfassade an der Badenerstrasse bzw. zum Park angelegt sind. Nach zwei Treppenläufen gelangt man in ein innen liegendes Treppenhaus. Diese Engführung bildet einen Kontrast zur Raumwirkung der Wohnungen – verstärkt durch die braun gestrichenen Wände, die auf die benachbarten Hardau-Türme anzuspielen scheinen. Die einzelnen Häuser sind Zweispänner. Nur im 1. Obergeschoss, in dem drei 5.5-Zimmer-Wohnungen die strenge Struktur überspringen und zwei Zimmer in das benachbarte Volumen hinüberstrecken, ist nebenan eine 3.5-Zimmer-Wohnung erschlossen. In den drei Stockwerken darüber liegen pro Haus jeweils sechs 2.5-Zimmer-Wohnungen. Die obersten beiden Stockwerke in den strassenseitigen Volumen nehmen neben drei kleinen 2.5-Zimmer-Appartements sechs Maisonettewohnungen mit 4.5 Zimmern auf.

Efizienz und Freiheit

Das Gebäude folgt dem SIA-Effizienzpfad zur Erreichnung der 2000-Watt-Gesellschaft. Die Vorteile dabei liegen auf der Hand: Anders als bei dem vergleichsweise sturen Minergie-Standard lässt der Effizienzpfad grössere Gestaltungsfreiheiten. Laut den Energieingenieuren wäre die komplexe Baustruktur für eine Minergie-Zertifizierung kaum fassbar. Die gewählte Holzbauweise wirkt sich direkt auch auf die Raumgestaltung aus: Um die Wände nicht zu schlitzen, werden alle Kabel in umlaufenden Bodenkanälen entlang der Wände geführt. Anders als bei Minergie-Bauten üblich, wird die Lüftung nicht über ein zentrales Klimagerät gesteuert, sondern über Lüftungselemente seitlich neben den Fenstern. Nach innen zeigen sie sich durch schmale, hohe Holzlamellenpaneele neben den Fensterrahmen. Der Verzicht auf eine aufwendige horizontale Kanalführung kommt direkt der Raumhöhe zugute.

Der Supermarkt und die Wohnungen stehen in einer weiteren engen symbiotischen Beziehung: Die Wohnungen profitieren von der grossen Abwärme des Supermarkts (vgl. «Low Ex- Zero (E)Mission», S. 33 ff.), die zusammen mit einer grundwassergespeisten Wärmepumpe den Warm- und Heizwasserbedarf deckt.

Auf den ersten Blick wirken die Fassaden etwas fremd in ihrem Umfeld – schliesslich sind sie aus einer eigenen technischen Logik entwickelt: Um die Unterkonstruktion aus energieintensiven Aluminiumprofilen zu minimieren, wurden Fertigteile in Form eines Strangpressprofils aus streichelglattem Faserbeton entwickelt. Die Kantungen und Fugen erzeugen ein lebhaftes Licht- und Schattenspiel auf den Fassaden und funktionieren wie eine zeitgenössische Weiterentwicklung eines klassischen Bossenwerks. Nicht zuletzt soll die robuste Konstruktion im fordernden urbanen Umfeld eine deutlich längere Lebensdauer aufweisen als herkömmliche Wärmedämmverbundsysteme, sodass die Nachhaltigkeitsrechnung aufgehen dürfte.


Anmerkungen:
[01] TEC21-Dossier «Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft», S. 44 ff.
[02] TEC21 3-4/2007, S. 13
[03] www.bgzurlinden.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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