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hochparterre 06|2010
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 06|2010
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Block im Blockrand

Ein Architekt baut sich sein eigenes Büro. Nicht als Firmensitz, sondern als Experimentierfeld.

30. Juni 2010 - Axel Simon
Manchem wird es wohl so gehen: Beim Spaziergang in Zürich-Wiedikon geht der Blick beiläufig durch eine Hofeinfahrt. Einige Schritte weiter hält man inne, geht zurück und betritt neugierig den Hof. Denn was der Spaziergänger sieht, ist alles andere als gewöhnlich: grosse Fenster, messerscharf gerahmt von dunklem Backstein und glattem Beton. Er assoziiert kraftvoll, elegant, grosszügig — Architektur! Schon der kleine Ausschnitt, den die Einfahrt freigibt, zeigt: Hinterhofmief sieht anders aus.

Starker Umbau 

Das frische Haus ist das Architekturbüro von Roger Boltshauser. Dass es sich um einen Umbau handelt, ahnt man nicht, die alte Substanz ist an keiner Stelle mehr zu sehen. Das zweigeschossige Gewerbehaus wurde, wie viele andere Hofbauten im Zürcher Kreis 3, bereits zusammen mit den Wohnhäusern des Blockrandes gebaut. Das war Ende des 19. Jahrhunderts. Nach einem massiven Umbau mit Erweiterung wurde aus der damaligen Schreinerei 1978 ein Textilbetrieb, in den Neunzigerjahren zog das Institut für Individualpsychologie ein. Vor einigen Jahren wurde Roger Boltshauser auf das Gebäude aufmerksam und kaufte es. Er legte den Rohbau frei, baute ihn aus und umhüllte ihn. Die innere Raumstruktur veränderte er dabei nicht wesentlich: ein geräumiger Eingangsraum in der Mitte jedes der beiden Hauptgeschosse, drumherum Treppenhaus mit Sanitärkern und Büroräume, Letztere nun hinter grossen Schiebetüren. Die alten Fensteröffnungen fasste der Architekt paarweise zu je einer grossen zusammen, bei der einst angefügten Schicht schloss er die aufgelöste Fassade und im Eingangsbereich entfernte er einen Lift. «Es war ein chaotisches Flickwerk aus Beton, Stahlträgern und Backstein», sagt er, doch damit musste er arbeiten, nicht zuletzt aus Kostengründen. Ein Neubau hätte ausserdem von der jetzigen Baugrenze zurückweichen müssen.

Boltshausers Handschrift

Trotzdem: Wer Boltshausers bisherige Bauten kennt, der erkennt auch den Urheber des Hofhauses. Manche Elemente und Materialien wendet der Mittvierziger immer wieder an und variiert sie: Das Fenster mit den geschlossenen, seitlich in der Tiefe der Mauer liegenden Lüftungsflügeln findet sich auch beim Lehmhaus Rauch im vorarlbergischen Schlins, die inneren Glasbausteinwände des Treppenhauses erinnern an die Schulhauserweiterung in Zürich-Hirzenbach, die beiden kubischen Betonoberlichter an die Gerätehäuser der Sportanlage Sihlhölzli, ebenfalls in Zürich. Dem Architekten dienen diese Elemente als «Vokabeln», Teile der architektonischen Sprache, die je nach Anwendung und Zuordnung eine andere Aussage machen und nicht für jede Aufgabe neu erfunden werden müssen.

Raffinierte Feinheiten

Zum Beispiel gewichtet der Architekt mit wenigen Elementen die vier Fassaden: Dort, wo sich der Blockrand zwischen zwei Häusern öffnet, gelangt man zur Eingangsseite des Hauses, seiner Adresse. Die Klinkermauer ragt geschlossen auf, lediglich ein «Portal» sitzt in der mächtigen Fläche, mit der Eingangstüre und je einem oberen und einem unteren Fenster. Über die übrigen drei Seiten des Baukörpers laufen breite Betonbänder und rahmen die Fenster oben und unten. Dort, wo sich der knappe Hofraum etwas weitet und wo eine Palme und eine in Regenbogenfarben bemalte Rückfassade vom gewandelten Image des Hinterhofs erzählen, da bildet das Bürohaus so etwas wie seine Hauptfassade aus: Als symmetrische Einheit präsentieren sich hier die sechs Fenster, stolz und prächtig.

Und hier kann der Spaziergänger genügend weit zurücktreten, um die Feinheiten der Fassadenstruktur zu studieren. Denn, was man erst bei genauerem Hinsehen merkt: Die Fenster der beiden Etagen sind keineswegs gleich. Oben sind sie etwas schmaler, dafür höher, unten breiter und niedriger — es scheint, als werde das untere Geschoss durch das Gewicht des oberen gepresst. Auch das untere Betonband ist niedriger als das obere, das den Baukörper abschliesst.

Handgemachte Klinker

Der «gepresste» untere Teil weist darauf hin, dass der Boden der Erdgeschossräume einen halben Meter tiefer liegt als das Hofniveau. Es ist aber auch ein Hinweis auf die Interessen des Architekten, der viel über die Wirkung von Proportionen nachdenkt. Es liegt wohl an den Massen der Fassaden und ihrer «Feinjustierung», wie das Boltshauser nennt, weshalb das nicht allzu grosse Gebäude kraftvoller wirkt als seine hofrahmenden Nachbarn. Und es liegt am Material der Fassade, am schweren Klinker. Denn obwohl sich in der direkten Umgebung zahlreiche Ziegelfassaden finden lassen, auch berühmte, wie das Künstlerhaus an der Wuhrstrasse von Ernst Gisel aus den Fünfzigerjahren, ist das Fassadenmaterial hier ungewohnt.

Exotisch ist das «römische Format» des Ziegels, den Peter Zumthor für sein Kölner Museum in Dänemark von Hand fertigen lies, weshalb er «Kolumba-Ziegel» heisst. In Zürich kam nicht das hellgraue Original zum Einsatz, sondern ein schwarz-braunes, mehrfach gebranntes Modell, das dadurch rauer wirkt. Ausserdem liess Boltshauser den Wilden Verband nicht flächig verfugen, sondern mit vertieften Lagerfugen, damit die Verwerfungen der Steine stärker in Erscheinung treten. In der Horizontalen stossen die 53 Zentimeter langen und keine vier Zentimeter dünnen Klinker stumpf aneinander, was sie noch länger erscheinen lässt. Rund 9500 Stück von ihnen umhüllen das Haus.

Lehm im Innern

In der kraftvollen Schale steckt ein weicher Kern. Trotz klarer Formen, weiter Durchblicke und grosszügiger Flächen ist hier nichts nüchtern. Das scharfkantige Grau der Stahlfenster, Deckenleuchten, Treppengeländer oder Glasbausteine kontrastiert spannungsvoll mit erdigen Farbtönen und reichen, samtigen Oberflächen. Es ist, als betrete man das Versuchslabor eines Alchemisten. Wie bei vielen Projekten arbeitete Boltshauser auch hier mit dem Lehmbaupionier Martin Rauch zusammen siehe HP 12 / 09 «Massarbeit».

Ihr umfangreichstes Gemeinschaftswerk war bislang Rauchs eigenes Haus in Schlins, das fast zur Gänze aus Lehm besteht. Beim Zürcher Bürohaus konzentriert sich der Einsatz des Materials auf die Oberflächen der Innenräume: Acht Tonnen Lehm verarbeite Rauch zu Putzen, Spachtelungen, Fliesen, Waschbecken bis hin zur einfachen Farbe. Beim Spachtel bindet Kasein, also Quark, das Material. Er findet sich nicht nur an den vielen eingebauten Schrankelementen und Schiebetüren, sondern auch dunkel eingefärbt auf dem Boden. Metallpartikel im Spachtel oder Metallschienen unter dem 1,5 Zentimeter starken Putz lassen Magnete an den Wänden haften. Öl und Wachs machen die Oberflächen in den Nasszellen wasserabweisend. So manche Mischung feiert hier Premiere.

Auch die schwarzen Fliesen im Treppenhaus sind Schlinser Handarbeit und wären nicht bezahlbar, würden sich Boltshauser und Rauch nicht gegenseitig mit Arbeitsleistung bezahlen. Hinter der Eingangstür und auf dem oberen Podest empfängt ein «Teppich» aus ornamentierten Boden-platten die Besucher. Marta Rauch formte die Platten, das kubische Ornament zeichnete Sohn Sebastian. Die treppenbegleitende Stampflehmwand zeigt das Material in seiner ursprünglichsten Verarbeitungsform, wenn auch nur sechs Zentimeter dick und vorgehängt: Sie wurde in der Werkstatt hergestellt, zerschnitten und auf der Baustelle wieder zusammengefügt. Hier ist er zu sehen, der «Dreck», dessen Wandlungsformen überall im Haus schön und unaufdringlich glänzen.

«Räumlich tut die Wand gut», meint der Architekt. Doch auch aufs Raumklima wirken sich die Oberflächen aus: Bis zu 100 Liter Feuchtigkeit sollen sie pro Geschoss innert kürzester Zeit aufnehmen und wieder abgeben können. Bezüglich Grauer Energie und Rezyklierfähigkeit ist Lehm unübertroffen.

Stolz und Bürde

In Erd- und Obergeschoss arbeiten zurzeit bis zu 24 junge Architektinnen und Architekten an Bildschirmen und weissen Modellen. 35 können es werden, wenn auch das Untergeschoss ausgebaut sein wird. Bei 40 würde es knapp, sagt der Architekt. Sein Büro hat zu tun, projektiert öffentliche Häuser und Wohnbauten, zum Beispiel ein Wohnhochhaus in Zürich-Hirzenbach oder eine Siedlung in Winterthur-Wülflingen. Und es vergeht kaum ein Monat, in dem es nicht auf einem der vorderen Ränge eines Wettbewerbs landet.

Warum wurde der Architekt sein eigener Bauherr? In seinen alten, gemieteten Räumen habe er sich nicht mehr wohlgefühlt. «Ich verbringe viel Zeit im Büro und Räume inspirieren mich.» Das wenige Eigenkapital, das er hatte, hätte zwar kaum für den Kauf gereicht. Der frühere Besitzer kam ihm dann aber mit dem Preis etwas entgegen — die Situation des Jungarchitekten erinnerte ihn an seine eigene, als er einst mit seinem Textilbetrieb dort einzog. Das Bauen für sich selbst ist laut Boltshauser nicht nur Wohltat, sondern auch Bürde: Man stellt sich aus. Repräsentation spielte beim Haus aber nicht die Hauptrolle. «Es ging um unsere Befindlichkeit. Und wir wollten Dinge ausprobieren, Themen weiterentwickeln!»

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

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