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TEC21 2010|25
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TEC21 2010|25
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Virtuelle Architektur

Seit dem Aufkommen von Computerspielen hat sich die Beziehung zwischen Architektur und Spiel verändert. Einst schuf die Architektur Räume für Spiel und Sport. Heute können sich Architekturschaffende bereits auf das Computerspiel als Kulturgut beziehen, und zwar nicht nur beim Entwurf, sondern – seit dem Einzug mobiler Technologien – auch bei der Nutzung von Architektur.

Das Spiel ist seit der Antike Thema und Aufgabe der Architektur. Die Griechen hatten ihr Olympia, und im alten Rom wurde das Kolosseum eigens für Spiele konzipiert. Seither hat beides – das Spiel und die Architektur dazu – ein hohes technisches Entwicklungsniveau erreicht: Die heutigen multifunktionalen Stadien haben verschiebbare Rasenflächen und verschliessbare Dächer. Und beim Glücksspiel nimmt die Architektur die wichtige Rolle der Attraktion und des Marketings ein: Die Prunkbauten in Las Vegas sollen anziehen und zum Spielen verleiten. Mit dem Siegeszug des Computers hat sich aber das Spiel und somit auch die Rolle der Architektur massgeblich verändert: Die Weiterentwicklung der Games und die Verknüpfung der virtuellen Welt mit der realen Umwelt bieten Architekturschaffenden eine neue Inspirationsquelle – können sie aber auch in der Projektierung von realen Vorhaben beeinflussen.

Architektur für Spiele: Nähe zum täglichen Umfeld

Spiele finden nicht nur in dafür bestimmten Gebäuden statt. Sie prägen auch den öffentlichen Raum. Auf Stadtplätzen wird in manchmal überdimensionaler Form Schach gespielt. Seit dem 20. Jahrhundert unterhalten Penny Arcades – öffentliche Spielhäuser in den USA – die Massen. Die in der Regel als Arkaden gebauten Spiel- und Einkaufspassagen sind der Ursprung heutiger Spielhallen. Heute versammeln sich Game-Enthusiasten in Turnhallen oder auf Messegeländen zu LAN-Partys (Local Area Network) und treten auf ihren mitgebrachten und per Netzwerk zusammengeschlossenen Computern gegeneinander an. Trainiert wird zu Hause im Schlaf- oder Wohnzimmer.

Die Entwicklung der Spiele geht mittlerweile so weit, dass das Virtuelle die Realität beeinflusst. Mit dem Erfolg der Spielkonsole Nintendo Wii lässt sich sehen, wie nahe der reale Wohnraum der breiten Bevölkerung dem virtuellen Spiel gekommen ist. Durch das innovative Eingabegerät der Spielkonsole, das die Bewegung des Körpers in die Spielumgebung überträgt, wird das eigene Wohnzimmer zum Konzertsaal, zur Bowlinghalle oder zum Golfplatz.

Microsoft hat mit «Kinect» ein Produkt entwickelt, das gar kein Eingabegerät mehr benötigt: Die Bewegung des gesamten Körpers wird registriert und ins Spiel übertragen. Diese zusätzliche Freiheit während des Spielens stellt neue architektonische Anforderungen an den Wohnraum – so wie das Fernsehgerät die Innenarchitektur beeinflusst hat. Die Verschmelzung von virtuellem Spiel und Realität zeigt sich schliesslich in seiner Extremform im «Ubiquitous Computing» (vgl. Glossar S. 22): Der Computer und die darauf gespielten Spiele sind nicht mehr ortsgebunden, sie werden «pervasiv», wenn die Nutzenden über Smartphones und ähnliche Geräte die reale Umgebung «virtualisieren» (vgl. «Pervasive Games» in «Ausgewählte Games», Seite 27).

Neue Zweckmässigkeit der Architektur in Video-Games

Bislang unterschieden sich architektonische Artefakte im virtuellen Raum von denjenigen in der realen Welt.[1] Der wesentliche Unterschied zwischen der physischen Architektur und der Architektur in Spielen liegt in der Funktion. Echte Häuser bieten Wohn- und Arbeitsraum, schützen vor Witterung und gewähren Privatsphäre. Gebäude in Spielen hingegen stellen Hindernisse dar, wie in «Super Mario» und «PacMan», haben eine einfache Funktion wie zum Beispiel den Spielstand anzuzeigen oder spielrelevante Gegenstände zu verstecken, wie in «Monkey Island» oder «Sam & Max», oder dienen zur Schaffung fantastischer Atmosphären wie in der Welt Azeroth in «World of Warcraft». Neben ihrer spieltechnischen und regulierenden Funktion schafft die Architektur Authentizität. Sie hilft Spielenden, mit der spezifischen Game-Welt vertraut zu werden und sich darin zurechtzufinden. Mit Games wie «The Sims» aber änderte sich die Nutzungszuordnung von Architektur in der virtuellen Welt. Architektonische Artefakte werden nicht mehr nur instrumentalisiert, sondern erhalten eine eigene Funktion im Spiel. Die Spielenden kreieren eine virtuelle Familie, weisen den Figuren Eigenschaften zu, richten für sie auch den Wohnraum ein und beeinflussen daraufhin im Spielverlauf ihr Leben. Mit diesem Spielkonzept wird die eigene reale Lebenswelt simuliert und die Realität nachgespielt.

Computerspiele als Wissenstransfer

Das Spielgenre der Simulationen war von Anfang an dafür prädestiniert, architektonische Aspekte zu übernehmen. Will Wright hat 1989 mit «SimCity» (Abb. 4) dieses Genre eröffnet und die wohl allen Architekturschaffenden und Städteplanenden bekannte Simulation entworfen. Waren in den frühen Versionen die Gebäude mit wenigen Pixeln dargestellt, bieten die neusten schier unendliche Varianten an Gebäuden, und es ist nebst Stadt- und Regional- auch Gebäudeplanung möglich. Bei «SimTower», einer Simulation eines gigantischen Turms, spielt der Innenausbau, etwa die Liftplanung, eine Rolle.

Ein aktuelles Game aus diesem Spielgenre ist «Demolition Company» (Abb. 3): Alte Gebäude werden mit Abrissbirne und Bagger dem Erdboden gleichgemacht. Die Spielenden erhalten für erledigte Aufträge Geld und können es in neue Fahrzeuge investieren. Dabei erarbeiten sie sich nebenbei Fachwissen eines Rückbau-Unternehmens. Während solch «klassische» Spiele reale Prozesse so integrieren, dass sie dem erhöhten Spielspass dienen, steht in den «Serious Games» der Wissenstransfer im Vordergrund. Hier versucht die Spielindustrie Fachwissen über Games zu vermitteln und lösungsorientiertes Denken anzuregen. Um das Spielziel zu erreichen, bringen Spielende Wissen zum Einsatz oder nehmen neues auf, was ihnen im realen Leben helfen soll. Im Herbst dieses Jahres wird IBM das Serious Game «CityOne» lancieren. Darin werden die Spielenden mit den realen Problemen einer modernen Stadt wie Umweltverschmutzung oder Versorgungsengpässen durch unkoordiniertes Wachstum konfrontiert.

Rückkopplungen von Games zur Architektur

Voraussetzung dafür, dass die Welt draussen realitätsnah ins Wohnzimmer geholt werden kann, sind die technischen Möglichkeiten. Waren die Anforderungen an die Fantasie bei den Spielen in den 1980er-Jahren noch hoch, weil sie, wie «Rogue», komplett mit ASCII-Zeichen visualisiert wurden (Abb. 2), ist die Darstellung heute viel verständlicher, konkreter und eindrücklicher geworden. Ganze Strassenzüge und Städte können realitätsgetreu dargestellt werden. Die Stadt «Liberty City» im letzten Teil der Spielserie «Grand Theft Auto» (GTA IV) zum Beispiel kommt dem realen New York im äusseren Detaillierungsgrad sehr nahe.

Die steigende Prozessorkraft hilft auch im digitalen Entwurf, sich der Realität mit immer ausgeklügelteren, hyperrealistischen 3-D-Modellen anzunähern. Am CAAD-Lehrstuhl von Ludger Hovestadt an der ETH Zürich erforschen Architekturschaffende die Stadtentwicklung. Mit zahlreichen Studien entwickeln die Forschenden Programme wie «Attractive City Generator » und «Digital Urban», die die Stadtplanung automatisieren. Das ETH-Start-up «Procedural » liefert mit «CityEngine» (Abb. 5) eine solche Software. Sie kann automatisch Städte generieren. Nach parametrisierten Vorgaben wie Strassenplan, Gebäudehöhe, Fassadenfarbe und Architekturstil erstellen Städteplanende in Sekundenschnelle ganze Städte. Die enorm aufwendige, manuell 3-D-modellierte Stadt wird durch eine parametrisierte, d.h. prozedural hergestellte Stadt abgelöst oder zumindest erweitert. Spielproduzenten nutzen solche Architekturprogramme, um Spielumgebungen zu bauen. Andererseits werden Game-Engines – Visualisierungssoftware für Spiele – wie «Digital Urban» zunehmend von Planungsteams im Architekturbereich für interaktive Visualisierungen eingesetzt.[2] Diese Rückkoppelung führt dazu, dass die spieltechnischen Möglichkeiten für architektonische Experimente genutzt werden und so den Entwurfsprozess massgeblich beeinflussen. Bereits früh in der Konzeptphase können Nutzungsszenarien am Modell spielerisch getestet und Anpassungen gemacht bzw. Rückschlüsse gezogen werden.

Auskopplungen aus Games in die Kunst

Versuche, Spiele in Architektur zurückzuverwandeln, wurden vor allem in der Kunst untergenommen: Harvey Lonsdale Elmes projizierte beispielsweise mit «ASCII architecture» Bildschirmbuchstaben auf die Fassade der St. George Hall in Liverpool;[3] Street Artists platzieren Videospielfiguren als Graffiti im öffentlichen Raum, was zu einer globalen Invasion führen kann, wie sie auch die Berner Innenstadt bereits erreicht hat: Auf Mauern oder Brückenpfeilern prangen sogenannte Invader, die den ausserirdischen Angreifern aus «Space Invaders» nachempfunden sind (vgl. Titelbild).[4] Es werden auch Performances im öffentlichen Raum veranstaltet, zum Beispiel mit lebensgrossen PacMan-Figuren (Abb. 8),[5] oder architektonische Hommages an Videospiele geschaffen, wie es der Künstler Patrick Jean in eindrücklicher Weise in seinem Kurzfilm «Pixels» tut (Abb. 7).[6] Designer wie Stefano Grasselli[7] oder Green Design[8] empfinden Möbel dem Game-Klassiker Tetris nach, und Konzepte von Gebäuden wie beispielsweise das «Tetris Haus» im italienischen San Candino von Plasma Studio bauen auf Tetris-Grundformen auf.

Bespielbarkeit der Bausubstanz

Diese spielerische Art der Verschmelzung von Games und Architektur sowie die Rückkoppelungen dieser beiden Kulturgüter deuten auf ihre alltagskulturelle Bedeutung hin. Die Annäherung begrenzt sich aber nicht auf den fachspezifischen Bereich. Architekturschaffende und Spielentwickelnde verwenden verstärkt die gleiche Software für ihre Zwecke, und durch die immer genauer werdenden Simulationen sowie das zunehmende Training in Serious Games entstehen im Arbeitsumfeld, in den Wohnzimmern und in den Städten täglich neue Orte des Spielgeschehens.

Seit der Homo Ludens Digitalis[9] 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit dem ersten Computerspiel «Spacewar!» das Licht der Welt erblickte, können sich Architekturschaffende eine Spielkompetenz in der Öffentlichkeit für ihre Projekte zunutze machen. Gleichermassen sehen sie sich allerdings einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung der Bespielbarkeit ihrer Projekte gegenüber, die sie zufriedenstellen können oder gar sollten.[10] Das Spiel hält Einzug in die Architektur und in den öffentlichen Raum.

Alle Bereiche unseres Lebens sind durch neuartige Spielkonsolen, Sensoren aktueller Mobilgeräte und die Verfügbarkeit des mobilen Internets zur Spielfläche von Games geworden. Die Technik ist allgegenwärtig. Beispiele sind «BeforeTheSatelliteDetectsYou», bei dem man sich vor direktem Satelitensichtkontakt unter Hausdächer retten muss, «CatchBob!», ein mobiles Fangenspiel, bei dem der Campus der EPFL in Lausanne zum Terrain wurde, «ETHGame », das die unsichtbaren Funkwolken des WLANs im HIL-Gebäude der ETH Hönggerberg spielerisch sichtbar macht, oder «Gbanga», das den öffentlichen Raum als Spielbrett versteht.

Diese Entwicklungen in der Game-Technologie werden zwangsläufig zu einer neuen Wahrnehmung des bautechnischen Umfelds führen – Architekten und Städteplanerinnen werden sich im kommenden Jahrzehnt zunehmend damit auseinandersetzen und ihre Projekte auf ihre Spieltauglichkeit hin prüfen.


[Matthias Sala, eidg. dipl. Inf.-Ing. ETH, Nebenfach Architektur ETH, Mitbegründer und Geschäftsführer Gbanga, Gründungsmitglied des Schweizer Spielentwickler-Verbands (IGDA)

Robbert van Rooden, dipl. Publizistikwissenschaftler Universität Zürich, Nebenfächer Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Politikwissenschaft, Mitbegründer und Spielentwickler Nothing, Gründungsmitglied des Schweizer Spielentwickler-Verbands (IGDA)]


Anmerkungen:
[01] Ernest Adams: The Role of Architecture in Videogames, Gamasutra, www.gamasutra.com/view/feature/2943/designers_notebook_the_role_of_ .php), 2002
[02] http://nwn.blogs.com/nwn/2008/09/secondlife-use.html
[03] ASCII architecture: www.ljudmila.org/~vuk/ascii/architecture/
[04] Street artist Invader: www.space-invaders.com
[05] Pac Manhattan: www.pacmanhattan.com/about.php
[06] Patrick Jean: Pixels (Kurzfilm): www.dailymotion.com/video/xcv6dv_pixels-bypatrick-jean_creation
[07] www.walyou.com/blog/2010/05/11/tetriscouch-design/
[08] www.bravespacedesign.com/product_tetris_flat.php
[09] Michael Wagner: «Ich spiele also bin ich – Reflexion zur Bedeutung hypermedialer Jugendkultur im pädagogischen Alltag», in: Medienimpulse, Nr. 56, Juni 2006.
[10] Steffen P. Walz: Toward a Ludic Architecture: The Space of Play and Games, 2919, ETC Press, Pittsburgh, PA, USA, ISBN 978-0-557-28563-1, http://portal.acm.org/citation.cfm?id=1787356, (Buchbesprechung vgl. S. 17)

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