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db deutsche bauzeitung 08|2010
Wohnlabor Berlin
db deutsche bauzeitung 08|2010

Hausbesetzung light

Aufstockung eines Gewerbebaus in der Uferstrasse

Immer häufiger fällt der Blick entlang der berühmten Berliner Traufkante auf elegante Penthäuser hinter beeindruckend dimensionierten Dachterrassen. Viele dieser Lofts lassen es als ein Vorrecht Vermögender erscheinen, die exklusivste Etage einer Stadt zu bewohnen. Eine Dachaufstockung auf einem alten Gewerbebau in Berlin Wedding zeigt, dass ein Platz an der Sonne auch preisgünstig zu haben ist, wenn man Mut zum Experiment hat und sich von gewohnten Standards verabschiedet.

17. August 2010 - Frank Thinius
Diesen Neubau würde man auf der grünen Wiese erwarten und nicht auf einem Dach im Wedding. Denn was dort seit Kurzem in einem Hinterhof an der Uferstraße über vier gründerzeitlichen Gewerbeetagen steht, ist unverkennbar ein Gewächshaus. Unter der lichtdurchlässigen Hülle aus Polycarbonatplatten gedeihen jedoch nicht die in Berlin beliebten Nutzpflanzen, sondern die Ideen seiner Bauherren, einer Kuratorin und eines Komponisten. Sie sind hier den Beweis angetreten, dass ein Penthaus nicht teuer sein muss.

Inspiriert hat sie der Besuch des Pavillons, den die französischen Architekten Lacaton & Vassal für die Documenta 12 in Kassel im Jahr 2007 entworfen hatten. Die Hülle des Ausstellungsbaus, von dem sich die Architekten wegen seiner museumstypischen Klimatisierung distanzieren, bildeten

Gewächshäuser, wie sie Lacaton & Vassal auch im Wohnungsbau verwenden. Ein solches Gewächshaus auf ein ungenutztes Dach in der Hauptstadt zu stellen, erschien den Berliner Bauherren als Möglichkeit, sich ein preisgünstiges Zuhause zu schaffen – mit Hilfe einer unverhofften Abfindung von 40 000 Euro für ihren vorzeitigen Auszug aus einem zum Verkauf vorgesehenen Gebäude Anfang 2008. Mit Spürsinn und Glück fanden sie einen Hausbesitzer, der ihnen für ihre Zwecke ein Dach eines Gewerbebaus zur Verfügung stellte, für 30 Jahre zur Pacht.

Ringen mit den Behörden

Der kurzen Bauplatzsuche folgte eine vierzehnmonatige Planungs- und Genehmigungsphase, während der die Bauherren und ihr Architekt Christof Mayer mit den Baubehörden um die Verwirklichung des Vorhabens ringen mussten. Der Plan, eine Teilfläche des Dachs ganz zu überbauen, scheiterte an den zum Vorderhaus hin notwendigen Abstandsflächen. Der geforderte Rücksprung führte zur Ausbildung eines langgestreckten Gewächshaus-Baukörpers. Er nimmt mit knapp 15 m die ganze Länge eines Teils des L-förmigen Flachdachs ein, musste allerdings im Südwesten mit einer massiven Stirnwand abgeschlossen werden, als Fortsetzung der Brandwand darunter.

Unter der am Scheitelpunkt 5 m hohen Gewächshaushülle erstreckt sich im Zentrum über ihre ganze Breite von 6,4 m ein fast quadratischer Raum. Wie ein Wintergarten liegt er zwischen zwei niedrigeren, eingeschossigen Einbauten, die in das eng um sie herumgeführte Gewächshaus eingestellt sind. Sie haben aus Brandschutzgründen massive Decken und Außenwände aus dämmendem Gasbeton und bergen die beheizbaren Räume: eine Küche und ein Wohn- und Arbeitszimmer im Nordosten, ein kleines Schlafzimmer, das Bad und ein Windfang im Südwesten.

Die Lasten der Dachaufstockung ruhen auf zwei 50 cm hohen Stahlbetonbalken unter ihren Längsseiten und auf Außenwänden des Altbaus. Die Betonbalken liegen auf der abschließenden Bestandsdecke. Dass diese einst als Decke des im Krieg beschädigten und danach abgetragenen obersten Geschosses diente, war nicht nur statisch, sondern auch für die Erschließung von Vorteil.

Denn daher gelangt man heute vom Treppenhaus auf die Hauptterrasse des Neubaus. Eine weitere Terrasse liegt auf der anderen Seite. Zementgebundene und mit Epoxydharz beschichtete Spanplatten bilden den Bodenbelag beider Terrassen, des Wintergartens und des kleineren der massiven Einbauten. Wie im Innenraum ist das Bodenniveau der kleinen Terrasse und eines Teils der Hauptterrasse erhöht durch eine Unterkonstruktion aus Holz, so dass die Spanplatten schwellenlos innen und außen verbinden, über die auf der Decke liegenden Betonbalken hinweg. Nur der größere Einbau hat einen beschichteten Estrichboden und liegt vier Stufen tiefer. Die Unterkonstruktion im Wintergarten ist durch Bodenklappen und kleine Türen über dem Küchenboden als Stauraum nutzbar.

Ein Hauch von Dach

Die Idee, ein handelsübliches französisches Gewächshaus im urbanen Kontext Berlins einzusetzen, erforderte Anpassungen. Weil es auf einem Dach errichtet wurde und zweckentfremdet zum Wohnen, musste seine Statik neu berechnet werden. Damit die schlanken Hohlprofile der Stahlstützen Wind- und Schneelasten standhalten, wurden sie auf kleinere Profile gesteckt oder punktuell an den massiven Einbauten befestigt. Für die Dachhaut, die nur aus zwei Folien besteht, deren Zwischenraum mit Luft gefüllt ist, bedurfte es einer Ausnahmegenehmigung. Wie zart sie ist, erfuhren die Bauherren schon vor dem Einzug, als eine Sylvesterrakete beide Folien durchschlug. Ein Mitarbeiter des Herstellers flickte das Dach wie einen Fahrradschlauch.

Das Wohnen in der dünnen Gewächshaushülle, die den Raum dahinter ins volle Tageslicht taucht und die Welt draußen optisch in Streifen zerlegt, verlangt Flexibilität. Mehr als in anderen Gebäuden lebt man darin mit den Jahreszeiten und ist abhängig von ihnen.

Im Sommer ist der Raum direkt unter dem Gewächshausdach mit den durch Treppenleitern begehbaren Decken der Einbauten der Lebensmittelpunkt, und wenn die großen seitlichen Schiebetüren der Hülle geöffnet sind, werden auch die Terrassen Teil des Wohnraums.

Doch naturgemäß heizt sich das Gewächshaus in der Sonne schnell auf. Vom Hersteller gesponserte Sonnenschutzvorhänge unter den Fachwerkträgern des Dachs und entlang der Wände verhindern, dass die Hitze ins Raumzentrum dringt.

Eine motorenbetriebene Lüftungsklappe, die oberhalb der Traufe einseitig über die ganze Gebäudelänge reicht, lässt die aufsteigende warme Luft entweichen. Im Winter ist die schnelle Aufheizung bei Sonne willkommen, denn der Aufenthalt zwischen den beheizbaren Einbauten ist auf Dauer sonst nur angenehm, wenn im Wintergarten der Kamin in Betrieb ist – dessen Natursteinverkleidung wirkt wie ein ironischer Kommentar zur ansonsten nüchternen Ästhetik des Baus, die geprägt ist durch das industrielle Gewächshaus, einfache Materialien und die gebraucht gekauften Aluminiumfenster der massiven Einbauten. Wenn die Kälte zum Rückzug in die beheizbaren Teile zwingt, wird es eng, denn dann schrumpft die Nutzfläche von 108 auf 42 m².

Doch »dieser Bau ist ein Experiment«, wie der Architekt Christof Mayer sagt. Und das gilt für das mutige Wohnkonzept wie bei der Beurteilung der Baukosten von unter 600 Euro/m² und des bauphysikalischen Problempunkts, den die von außen nach innen durchgehenden Metallrinnen des Gewächshauses darstellen. Berlin jedenfalls kann mehr solcher Experimente vertragen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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