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db deutsche bauzeitung 09|2010
Temporär
db deutsche bauzeitung 09|2010

Gesegnetes Provisorium

Kapelle in Pompaples

Origami, die japanische Papierfaltkunst, diente bei der Formfindung des kleinen Behelfsgotteshauses in der Französischen Schweiz als Ideengeber. Dank beispielhafter Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren entstand ein temporäres Gebäude, das schließlich alle in seinen Bann gezogen und von einer dauerhaften Daseinsberechtigung überzeugt hat.

7. September 2010 - Hubertus Adam
Als »milieu du monde«, als Mittelpunkt der Welt, wird die kleine waadtländische Ortschaft Pompaples im Volksmund bezeichnet, denn Pompaples liegt genau auf der Wasserscheide der Einzugsbereiche von Rhein und Rhone, markiert also die Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Europas. Architekten dürfte der Name des Nachbarorts La Sarraz vertrauter sein, denn im dortigen Schloss wurde 1928 der CIAM gegründet. Westlich von Pompaples liegt auf einem 525 m hohen Hügel der Spitalkomplex von St-Loup, der 1852 von den waadtländer Diakonissen gegründet wurde. Eine schmale Zufahrtsstrasse windet sich den Hang empor, dann steht man inmitten eines Ensembles von Bauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eine lockere halbkreisförmige Formation bilden. Nach Westen öffnet sich die Anlage zur umgebenden Wald- und Wiesenlandschaft.

Die Anlage war in die Jahre gekommen, als sich die Communauté des Diaconesses von St-Loup dazu entschied, einen Wettbewerb mit vorgeschaltetem Präqualifikationsverfahren zur Renovierung ihres Mutterhauses auszuloben, das sich im Nordosten des Ensembles befindet. Den ersten Preis erhielt im Jahr 2007 eine Arbeitsgemeinschaft aus zwei Lausanner Architekturbüros: das junge Team LOCALARCHITECTURE und das seit 1979 bestehende Bureau d’ Architecture Danilo Mondada. Aus dem Projekt ergab sich im Jahr darauf ein zweiter, nunmehr direkt vergebener Auftrag an die Architekten. Weil die Renovierung auch die im Mutterhaus untergebrachte Kapelle betraf, wünschten sich die Diakonissen einen für ihre täglichen Gottesdienste zu nutzenden, temporären Ort. LOCALARCHITECTURE und Danilo Mondada konzipierten daraufhin eine Kapelle, die – gleichsam als spirituelles Zentrum – nahe dem Hubschrauberlandeplatz auf der Freifläche der Waldlichtung inmitten des Areals errichtet wurde.

Ein kleines Wunderwerk, trotz und Dank Vieler Beteiligter

Die Partner von LOCALARCHITECTURE – Marco Bieler, Antoine Robert-Granpierre und Laurent Saurer – diplomierten an der EPFL Lausanne; Antoine Robert-Granpierre unterrichtet dort überdies seit 2007 als Assistent von Harry Gugger. Die enge Verbindung zur Architekturfakultät in Lausanne sowie das auch an anderen Projekten des Büros erkennbare Interesse für eine zeitgemäße Verwendung von Holz führte dazu, dass die Architekten angesichts der Bauaufgabe Kontakt mit IBOIS aufnahmen, dem an der EPFL angesiedelten Laboratorium für Holzkonstruktion. 2005 gegründet, widmet es sich der interdisziplinären Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren im Bereich der Holzkonstruktion. Yves Weinand, Leiter von IBOIS, verkörpert mit seiner eigenen Biografie das Zusammengehen beider Disziplinen: Er wurde als Ingenieur an der EPFL und als Architekt am Institut supérieure d’architecture in Saint-Luc ausgebildet. Ziel des Labors ist es, der traditionellen Arbeitsteilung beider Berufsgruppen entgegenzuwirken. Das Wissen der Ingenieure direkt in den gestalterischen Prozess der Architekten einzubinden, sei nicht immer einfach, erklärt Weinand, die »berufsstandsspezifische Selbstbeschränkung infolge einer dogmatischen Verabsolutierung der Berechenbarkeit stehe experimentelleren Ansätzen«, wie er sie postuliere, vielfach noch entgegen.

Aus diesem Grund handelt es sich bei der Kapelle von St-Loup um ein Pilotprojekt, das im doppelten Sinne als modellhaft anzusehen ist: als Beispiel für eine Gemeinschaftsarbeit von Architekten und Ingenieuren zum einen, als Architektur, die durch ihren ephemeren Charakter wie ein Modell im Maßstab 1:1 wirkt, zum anderen. Für die Realisierung des kleinen Gebäudes gründeten Yves Weinand und Hani Buri von IBOIS das Büro SHEL architecture, engineering and production design in Genf. Unterstützt wurde das Vorhaben zusätzlich vom Schweizerischen Bundesamt für Umwelt BAFU. Zu verdanken ist der kleine Experimental- und Sakralbau aber schließlich den Diakonissen von St-Loup als Auftraggeberinnen, die das ungewöhnliche Projekt von Anfang an vorbehaltlos unterstützten.

Überzeugendes Origami

Ausgangsidee des Entwurfs war das Prinzip der japanischen Papierfaltkunst Origami. Diese beruht auf dem Prinzip, das sich das weiche und biegsame Material Papier durch Falten ohne zusätzliche Hilfsmittel versteifen lässt. Dieser Gedanke ist in der Ingenieurbaukunst nicht unbekannt; Beispiel hierfür sind Faltdachkonstruktionen aus Beton. In den Holzbau wurde das Verfahren bislang indes nicht übertragen.

Bei der Kapelle von St-Loup dienten Brettschichtholzplatten als Baumaterial. Ein erstes intuitives Faltungskonzept wurde in ein CAD-Programm übertragen und dann sukzessive optimiert. Aus dem Modellierwerkzeug wurden die Daten als flächig vernetzte Elemente in ein Statikprogramm übertragen. Für die vertikalen Elemente fanden 40 mm dicke, für die horizontalen 60 mm dicke Brettschichtplatten Verwendung. Da sich Holz nicht wirklich falten lässt, legte man an den Kanten Lochbleche ein und verschraubte diese. Die einzelnen Abschnitte der Konstruktion steifen sich aber aufgrund der Verkantung gegenseitig aus. Die Platten wurden dann mit einer Dichtungsbahn abgedeckt und schließlich mit 19 mm imprägnierten Dreischichtplatten bekleidet. Dass Tragwerk und Ummantelung aus verschiedenen Materialen bestehen, mag die Konsequenz der Idee beeinträchtigen, ließ sich aber nicht vermeiden und ist fast nicht erkennbar. Die Formfindung basierte auf der Entscheidung, dass eine breite und niedrige trapezförmige Öffnung den Eingang markieren sollte, eine schmale und hohe trapezförmige die Altarwand. Die gekrümmten Linien, die sich durch die Verbindung dieser Außenpunkte ergaben, wurden in eine Abfolge von Faltungen aufgegliedert. Faktoren, die die Formfindung im Detail beeinflussten, waren der Ablauf des Dachwassers, die akustische Optimierung des Innenraums – und der architektonische Ausdruck. Die Architekten verstehen ihren Bau als zeitgenössische Hommage an romanische Kirchen, wie sie sich in der Umgebung finden, wobei die vertikalen Faltungen des Innenraums die Rolle der Säulen übernehmen. Durch die Faltungen rhythmisiert, ist ein überaus stimmungsvoller kleiner Sakralraum entstanden. Aufgrund der leicht »gebauchten« Form der seitlichen Wandbegrenzungen ergibt sich eine Zentralisierung, die die reine Längsorientierung mildert. Transparentes Polykarbonat, vor dem außen kaum sichtbar ein bräunliches Textil als Windschutz angebracht ist, schließt die Eingangs- und Altarwand. Von außen gesehen, wirken diese Wände geschlossen; von innen öffnet sich der Blick hinter dem Altar in die Landschaft – und in gegenläufiger Richtung auf das Gebäudeensemble des Diakonissenhauses. Wenn die Diakonissen am Mittag ihren Gottesdienst feiern und singen, tönt der leichte Holzbau wie ein klingendes Instrument.

Die Kapelle, deren Baukosten lediglich 290 000 Schweizer Franken betrug, war als temporäres Gebäude gedacht. Ein möglicher Verkauf und Wiederaufbau an anderer Stelle sollte die Kosten reduzieren, außerdem bestand für die Wiese inmitten des Hospitalkomplexes nur eine Baubewilligung für ein nicht-dauerhaftes Gebäude. Doch die Diakonissen begannen ihren temporären liturgischen Ort zu lieben, und überdies zieht der Bau seit seiner Eröffnung viele Besucher an. Daher überzeugten die Architekten ihre Auftraggeber, das Gebäude stehen zu lassen; die dafür nötige Baubewilligung wurde inzwischen erteilt. Nichts ist dauerhafter als ein Provisorium.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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